Schreibkraft
Heiner Frost

Vollzug ist eine Haltung

Karl Schwers hat fertig. Er war länger im Knast als mancher Lebenslängliche: 42 Jahre, zehn Monate. Schwers ist nicht im Knast aufgewachsen, aber er ist im Knast groß geworden – sofern Chefsein etwas Großes ist.

Ich kann nur Knast

Karl Schwers sagt: „Ich kann nur Knast.“ Er sagt auch: „Vollzug ist eine Haltung.“ Einer der Sätze, die man den neuen hinter die Ohren tätowieren sollte – und manchen Altgedienten erst recht.
Angefangen hat Schwers am 2. August 1976 in Kleve. In der Ausbildung war er auch in den Vollzugsanstalten Köln und Willich. Nach zehn Jahren Kleve (zwischendurch war er rund zwei Jahre nach Hamborn abgeordnet) ging Schwers erstmals (als Abteilungsleiter) nach Geldern und kehrte von dort als Anstaltsleiter nach Kleve zurück (2004 bis 2010). Von Kleve aus ging er als stellvertretender Anstaltsleiter nach Aachen und kam im Januar 2013 von dort als Anstaltsleiter zurück nach Geldern.
Eine spannende Zeit, denn ein Jahr nach Schwers‘ Eintritt in die Vollzugslaufbahn („Ich habe nichts anderes gelernt“) war das Strafvollzugsgesetz am Start und brachte eine signifikante Wende in den Vollzug. „Zu dieser Zeit wurde beispielsweise in der JVA Kleve abends um 22 Uhr der Strom in den Zellen abgeschaltet. Die Besuchszeit für einen Gefangenen betrug eine Stunde im Monat. Damals wurde der Begriff Resozialisierung in den Vollzug eingeführt, sprich: Die Resozialisierung wurde zum Vollzugsziel.“

Eine Zeitenwende.

Und wie war vor 1977 der Vollzug geregelt? Karl Schwers: „Es gab damals die sogenannte Dienst- und Vollzugsordnung. Das wiederum war eine Verwaltungsvorschrift. Das Bundesverfassungsgericht hat dann entschieden, dass eine Verwaltungsvorschrift nicht ausreicht, um in die Grundrechte von Menschen einzugreifen.“ So entstand das Strafvollzugsgesetz.
Damals war der Strafvollzug übrigens bundeseinheitlich geregelt. „Das hat sich dann im Jahr 2006 durch die Föderalismusreform geändert“, so Schwers. Eine der Folgen der Reform: Der Strafvollzug wurde zur Ländersache erklärt. Die Folge: Strafvollzug wurde, so Schwers, „zum Flickenteppich“. Nordrhein-Westfalen beispielsweise sieht geschlossenen und offenen Vollzug gleichwertig. In Bayern ist der geschlossene Vollzug der Regelvollzug. Schwers: „In manchen Bundesländern gilt im Vollzug die Arbeitspflicht für die Gefangenen – in anderen nicht.“
Am 5. April 2017 wurde vom nordrhein-westfälischen Landtag eine Änderung der Strafvollzugsgesetze beschlossen. („Mit dem Gesetzesbeschluss wird in allen Strafvollzugsgesetzen des Landes ein moderner, aktivierender Behandlungsvollzugs verankert und das Konzept der Landesregierung für mehr Sicherheit und Integration im Strafvollzug umgesetzt“, hieß es seinerzeit in einer Pressemitteilung des Landtags.)
Zurück in die 70-er. „Die Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes haben wir in den Anstalten des Landes spätestens am Anfang der 80-er Jahre gespürt. Damals stiegen die Zahlen der sogenannten vollzugsöffnenden Maßnahmen massiv an“, so Schwers. Mittlerweile sind eben diese Zahlen rückläufig und auch hier bietet sich das Adjektiv ‚massiv‘ an.

Chance

Und woran liegt‘s? Da kommt auch ein alter Vollzugshase wie Schwers ins Grübeln. „Ich kann da nur mit dem Bauchgefühl argumentieren und als Stichwort gesellschaftliche Veränderungen als einen der Gründe vermuten. Das ist natürlich schwammig. Ich würde sagen, dass die Toleranz der Öffentlichkeit gegenüber dem Vollzug zurückgegangen ist. Das hat auch etwas mit der Berichterstattung zu tun. Kaum jemand von den Medien berichtet über all die Ausgänge und Urlaube, die absolut ohne Vorkommnisse verlaufen – berichtet wird über die Fälle, in denen etwas schief gelaufen ist. Es gilt aber, eine Entscheidung zu fällen. Wenn wir Resozialisierung wollen, dann gehört auch die Chance dazu, die wir den Tätern einräumen müssen. Es gehört auch dazu, dass Vollzug nur dann sinnvoll ist, wenn wir mehr tun als Menschen nur für eine bestimmte Zahl von Jahren einzusperren.“
Was wünscht sich einer wie Schwers, wenn die Fee vor der Tür steht. „Zuerst wünsche ich mir, dass die baulichen Voraussetzungen für Wohngruppenvollzug und die damit verbundene Binnendifferenzierung geschaffen werden. Dann ist eine ernsthaftere öffentliche Diskussion und damit verbunden mehr Akzeptanz für den Vollzug von großer Bedeutung. Und schließlich muss allen klar sein, dass ein Vollzug im Sinne der Gesellschaft ein sinngefüllter Vollzug sein muss, bei dem es um Wiedereingliederung und die Verhinderung erneuter Straffälligkeit gehen sollte.“
Schwers ist derzeit einer von zwei Anstaltsleitern in NRW, die es aus der ‚gehobenen Verwaltungslaufbahn‘ auf den Chefsessel einer JVA gebracht haben. Dann gibt es noch zwei weitere Leiterkollegen, die Psychologen sind – alle anderen Anstaltsleiter sind Juristen.
Vollzug, das ist Schwers‘ Credo, ist „eine Haltung gegenüber Menschen“. Ohne Haltung geht nichts.
Was hat sich eigentlich geändert? 50 bis 60 Prozent der Inhaftierten haben ein Drogenproblem. „Das war früher nicht so.“ Die Zahl der psychisch Auffälligen ist stark gestiegen. Das macht die Voraussetzungen für Vollzug immer komplexer.
Empfehlungen für den Nachfolger: „Ich mache gebe keine Empfehlungen. Wenn mein Nachfolger sich an mich wendet und Fragen hat, stehe ich immer gern zur Verfügung. Aber ungefragt Ratschläge erteilen – das geht nicht.“
Eine letzte Runde mit dem Chef: „Ich finde es schade, dass Sie gehen“, sagt ein Gefangener in der Gärtnerei. „Ich nicht“, sagt der Chef. Tiger und Obama hören zu. Tiger und Obama sind zwei Hauskatzen in der Gärtnerei. Sie sonnen sich und merken nichts vom Vollzug.