Schreibkraft
Heiner Frost

Baegert: Wiedersehen mit einem Unbekannten

Jan Baegert hätte einer von den Big-Playern des Mittelalters sein können – einer, dessen Werk heute Pilgerströme in Gang setzen würde, aber: Sie haben seine Werke zersägt, zerschnitten … ausgeweidet …

 

Der Mann aus Wesel

50 Jahre ist es her, dass man zuletzt eine Gesamtschau sah. 50 Jahre reichen, damit einer wie Baegert ins Vergessenwerden taucht. Manchmal allerdings findet eine Renaissance statt. Jan Baegert, geboren um 1465 in Wesel, gestorben 1527 (eventuell 1535) in Wesel, feiert – mit Einsetzen der Karwoche – Auferstehung im Museum Kurhaus Kleve. Nicht, dass Baegert gänzlich verschwunden gewesen wäre, aber seine Werke waren verstreut. Sind es noch immer. Und: Vieles, was die Zeiten überdauert hat, ist zum Fragment geworden. Dass man sich in Kleve jetzt um „eine Auferstehung“ der anderen Art kümmert, ist der intensiven Arbeit der Kunsthistorikerin Valentina Vlasic zu verdanken.

Schönheit und Verzückung

Es ist der Montag vor Eröffnung der Ausstellung „Schönheit & Verzückung“. In vielen Räumen stehen noch verschlossene Klimatransportkisten. In anderen lehnen – auf Hängung wartend – Bilder an den Wänden. In der Pinakothek: Ein gewaltiger Altar – noch sind nur die Einzelteile zu sehen. „Das Ganze wird heute Nachmittag aufgebaut.“ Der Altar zeigt die wahrscheinlich älteste Darstellung der Klever Schwanenburg. Gemalt wurde das monumentale Werk von Baegerts Vater Derick, der sich – Vlasic zeigt auf eine Figur mit roter Kappe– selbst verewigt hat. Wie richtig, denkt man, ist dieser Ausdruck: verewigt, denn mit der Darstellung tritt der Maler den Ausflug in die Ewigkeit an. Und noch eines wird klar: Die Kreuzigungsszenerie spielt mit Personal aus Baegerts Zeit und Vorstellungskosmos. So ist der „Auftritt der Schwanenburg“ zu erklären. Allein die Betrachtung dieses Werks verdeutlicht den Titel der Ausstellung: „Schönheit und Verzückung“.
Baegerts Altar ist ein Monumentalfilm in einer Einstellung. Die Aufgabe des Künstlers: Geschichte(n) in einem großen Wurf zu erzählen. Verkündigungsarbeit mit Pinsel und Farbe.

Szene aus dem Kreuzigungsbild: Sie haben meine Kleider unter sich verteilt und über mein Gewand das Los geworfen.

Replik

In einem der anderen Räume: ein Werk von Jan Baegert. Vlasic nimmt die Tafelmalerei in die Hand: „Schauen Sie sich das einmal aus der Nähe an“, sagt sie und hält mir das Bild hin. „What?“, denke ich. „Ohne Handschuhe?“ „Keine Angst“, sagt die Vlasic, „das hier ist eine Replik.“ Die Zeit des Vermutens bricht an. Erster Gedanke: „Hättest du‘s gemerkt?“ Zweiter Gedanke: „Ist das Zeigen einer Replik eine Art kunsthistorische Störung der Totenruhe? Gehören nur Originale in ein Museum?“
„Manches von diesen Kunstwerken wäre hier und jetzt nicht zu sehen, wenn wir nicht eine Replik zeigen würden“, erklärt Vlasic. „Wir kommunizieren das ganz deutlich.“

Zwei Fünftel

Zwei Fünftel der Ausstellung bestehen aus Repliken – die restlichen drei Fünftel sind Originale. „Manche sind in unserem Besitz. Das sind zehn Kunstwerke. Dazu kommen 20 Leihgaben und 20 Repliken.“ Das Baegert-Puzzle: „Die Ausstellung führt erstmals mehrere Fragmente wieder zusammen und stellt so das Werk des Sohnes in den direkten Vergleich mit dem des Vaters.“ Zusammenführung also auf musealer Ebene. Die Einzelteile: verstreut in alle Himmelsrichtungen. True Crime im Museum. Wieso die Repliken? „Manche konservatorischen Bedingungen sind so hochkomplex, dass sie schlicht nicht zu erfüllen sind“, sagt Vlasic. „Da haben Sie dann die Wahl: Replik oder gar nichts.“ Die Entscheidung des Museums ist so eindeutig wie richtig. Sie ermöglicht die Wiederzusammenführung von „zerstörten“ Werken – einer Zerstörung, die oft der Profitgier geschuldet war. Merke: Viele kleine Teile bringen mehr Gewinn.

Niederrheinische Kunstlandschaft um 1500

„Baegert gehörte“, erklärt Vlasic, „zu den bedeutendsten Malerpersönlichkeiten der niederrheinischen Kunstlandschaft um 1500.“ Wer durch die Ausstellung geht, kann zu dem Schluss gelangen, das geografisch einordnende „niederrheinisch“ zumindest in Klammern zu setzen. Da ist ein großer Erzähler am Werk – einer, dessen „Bildtexte“ sowohl aus der Entfernung als auch aus der unmittelbaren Nahaufnahme großartige Künstlerschaft unter Beweis stellen.

Das Original in Dortmung

Wie verhält es sich eigentlich mit den Repliken? „Für jede einzelne haben wir bei den jeweiligen Besitzern die Bildrechte eingeholt und es war von vorneherein klar, dass wir Repliken erstellen. Die sind allerdings erst einmal nur für diese Ausstellung autorisiert. Das ist vertraglich festgehalten.“ Wer sich den Altar von Derick Baegert im Original ansehen möchte, kann das in Dortmund [Propsteikirche St. Johannes Baptist] tun. Dort haben die Klever Maß genommen und eine Replik erstellt, die in ihrer stillen Schönheit überzeugt. „Schönheit & Verzückung“ ist der gelungene Versuch, einen (fast) Vergessenen in den Bewusstseinshorizont des Publikums zurückzuholen. Ein vielköpfiges Ensemble hat unter Vlasics Regie das grandiose Wiedersehen mit einem Unbekannten inszeniert.
Nimmt man das größte Stück der Ausstellung – den Altar von Derick Baegert – in Augenschein, verschlägt es einem ob der Präzision der Rekonstruktion den Atem. In einem der Ausstellungsräume werden Besucher übrigens die Möglichkeit haben, nicht perfekt gelungene Repliken einiger Originale eigenhändig zu zersägen. Allein die Vorstellung sorgt für einen unwohligen Schauer und kostet bereits in der Theorie Überwindung. „Schönheit & Verzückung“ wird am Sonntag, 24. März, eröffnet und dann bis zum 23. Juni zu sehen sein. Der Besuch lohnt sich.

Ein Werkstattgespräch

Museum Kurhaus Kleve, Dienstag 19. März, 8.30 Uhr. Noch fünf Tage bis zur Eröffnung von „Schönheit & Verzückung“. In der Pinakothek des Hauses: Aufbauarbeiten für das größte Exponat der Ausstellung. Es ist ein Altar von Derick Baegert, dem Vater von Jan Baegert, um den es in der Ausstellung hauptsächlich geht.
Vor dem Museum: ein Sprinter mit Kölner Kennzeichen und der Aufschrift: „kulturerbe. digital. Fröbus: Medien. Dienst. Leistung.“
Ralf Meyer und Wolfram Jopp gehören zum Fröbus-Team und spielen bei der Anfertigung der Baegert-Replik eine zentrale Rolle. Beide betonen allerdings nachdrücklich: „Das, was hier zu sehen ist, ist eine Teamleistung.“
Ein „Werkstattgespräch“. Ralf Meyer ist gelernter Fotograf, Spezialgebiet: Werbefotografie. Spezialgebiet: Produktfotografie. (Weißes Ei auf weißem Teller – das wäre eine Aufgabe.)
Meyer: Das ist kein so schlechtes Beispiel. Bei dieser Arbeit hier geht und ging es um Details. Da reden wir nicht vom Groben. Wir reden von kleinsten Details, farblichen Feinheiten … aber darauf kommen wir sicher noch zu sprechen.
Fangen wir vorn an. Wann bekamen Sie den Auftrag für den Baegert Altar?
Meyer: Das kann ich jetzt ohne die Unterlagen nicht auf den Tag genau sagen. Es wird Ende Januar, Anfang Februar gewesen sein. Da müssten Sie die Kuratorin Frau Vlasic fragen.

Schritt eins der Operation …

Meyer: … Inaugenscheinnahme. Das Original des Altars steht in der Propsteikirche St. Johannes Baptist in Dortmund. Die Ausmaße dieses Altars können Sie hier nachvollziehen, denn unsere Replik ist ja im Maßstab 1:1.

Das ist schon gewaltig.

Meyer: Der Altar beginnt auf einer Höhe von circa zwei Metern und ist dann noch mal circa 2,30 Meter hoch.

Wie fotografiert man das?

Meyer: Normalerweise würden wir erst einmal Traversen aufbauen und anschließend fotografieren. Wenn Sie sich dann noch vorstellen, dass das Objekt noch ausgeleuchtet werden muss, sind wir ja schnell bei einer Höhe von sechs Metern.

Normalerweise?

Meyer: Wir hatten nur eine Nacht Zeit und Sie können sich vorstellen, dass es da mit dem Traversenaufbau nie und nimmer geklappt hat. Wir mussten uns also anders behelfen.

Wie?

Meyer: Mit Stativen. Wie gesagt: Es wäre sonst nicht gegangen.

Sie ersparen mir die technischen Details. Ich würde ohnehin wahrscheinlich nicht allzu viel davon verstehen. Trotzdem: Wie ging es nach dem Fotografieren weiter?

Meyer: Nun ja – es ging dann erst einmal um die Auswertung der Bilder, die wir übrigens mit zwei verschiedenen Kamerasystemen gemacht haben.

Kurze Zwischenfrage noch. Wieso haben Sie nachts fotografiert?

Meyer: Das hat im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen ist dann kein Publikums- oder Messbetrieb und zum anderen – und das ist entscheidend für eine detailgenaue Arbeit – sind dann die Lichtverhältnisse stabil. Das ist für die spätere Arbeit von entscheidender Bedeutung.

Der Rahmen für den Altar wurde in Kleve angefertigt.

Warum zwei Kamerasysteme?

Meyer: Dazu kann Ihnen mein Kollege Wolfram Jopp Auskunft geben.

Jopp: Es ging bei den Fotografien um unterschiedliche spätere Auswertungen. Einmal ging es um die Vorarbeiten für die Herstellung der Replik und dann um die Verwendung für Reproduktionen im Katalog und für Filmmaterial.

Ich denke mal, der nächste Schritt ist dann der Druck.

Meyer: Da liegen noch einige Schritte dazwischen. Da geht es um die Farbechtheit dessen, was später gedruckt wird. Aber es kommt noch etwas ganz Entscheidendes dazu. Es ging für Valentina [Kuratorin Valentina Vlasic; Anm. d. Red.] ja darum, dass wir am Ende auf Holz drucken.

Auf Holz???

Meyer: Ja genau. Es ging um – wie soll ich sagen – die Echtheit des Erlebens. Wir haben ja nicht nur die Abbildungen des Altars kopiert, sondern wirklich alles, was dazugehört. Wir haben den Rahmen gebaut; der musste dann künstlich gealtert und zusätzlich bemalt werden.

Das haben aber nicht alles Herr Jopp und Sie gemacht?

Meyer: Genau. Da war ein ganzes Ensemble am Werk. Dazu gehören auch Wilhelm Dückerhoff und Norbert van Appeldorn von der Abteilung „Technik & Werkstatt“ hier im Haus und dazu gehört auch der Kunstmaler Hans Wäckerlin.

Kommen wir noch einmal auf den Druck zu sprechen. Das Ganze ist also tatsächlich auf Holz gedruckt worden?

Meyer: Ja. Und zwar auf eigens angefertigte, dreifach verleimte Fichtenplatten. Baegert hat ja unter anderem auf Fichte gemalt und unsere Aufgabe war es, so nahe wie möglich ans Original zu kommen. Da können Sie dann nicht auf Papier drucken. Und glauben Sie mir: Das ist ein unglaublicher Unterschied.

Wo kann man so etwas drucken lassen?

Meyer: In unserem Fall wurde das in Freiburg gemacht. Ich habe lange herumtelefoniert – Angebote eingeholt … und am Ende waren es dann die Freiburger.

Wenn ich höre, dass da auf eigens angefertigte Fichtenplatten gedruckt wird und mir dazu die Größe der einzelnen Segmente vorstelle, dann ist ein Fehldruck wohl eher nicht Teil des Plans.

Meyer: So kann man das formulieren. Wir haben selbstverständlich nicht gleich die großen Flächen gedruckt. Zunächst einmal haben wir Probedrucke auf Papier angefertigt. Später dann Ausschnitte des Altars auf kleine Holzplatten. Wir mussten sicher sein, dass alles stimmt.

Farbechtheit?

Meyer: Das ist auf jeden Fall ein entscheidendes Kriterium.

Die Fichtenplatten sind in Kleve angefertigt worden?

Meyer: Nein, die wurden in Österreich hergestellt, aber alle anderen Arbeiten – also beispielsweise die Anfertigung des Rahmens – wurden in Kleve ausgeführt und es ist wirklich der Wahnsinn, wie gut das gemacht wurde.

Wer hat die Pläne gemacht?

Jopp: Dafür war ich zuständig.

Sie haben also den Altar komplett vermessen?

Jopp: Ja genau.

Ist das alles händisch passiert?

Jopp: Nein. Nur im unteren Bereich des Altars. Über die Dimensionen haben wir ja bereits gesprochen,

Wie haben Sie die anderen, nicht händisch gemessenen Größen, bestimmt?

Jopp: Das ist dann Rechenarbeit. Man hat ein Referenzfoto und kann davon ausgehend die Größen bestimmen.

Waren Dückerhoff und van Appeldorn in Dortmund, um das Original in Augenschein zu nehmen?

Jopp: Ja. Ich denke, das war eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit.
Aber die Pläne für alle Einzelteile des Altars haben Sie angefertigt?

Jopp: Das ist richtig.

Welche Aufgabe hatte der Kunstmaler Hans Wäckerlin?

Meyer: Schauen Sie sich die Platten des Altars einmal von hinten an. Was sehen Sie?

Helles Fichtenholz.

Meyer: Und auf der Vorderseite?

Da sehe ich etwas, das ziemlich alt aussieht.

Meyer: Ganz genau. Dafür – und nicht nur dafür – war Hans Wäckerlin zuständig. Oder schauen Sie sich mal hier vorne am Altar die untere linke Ecke des Rahmens an. Die ist ja alles andere als rechtwinklig. War sie aber vorher. Das, was Sie jetzt sehen, würden Sie am Original genau so sehen. Und da sind wir dann wieder bei Valentinas Vorgabe. Sie hat sich gewünscht, dass man in die Zeit eintaucht …

… und dazu gehört dann auch, dass es an keiner Stelle geleckt aussieht.

Jopp: Genau. Heute wird Hans Wäckerlin kommen und noch einmal eine Firnis auf die Platten auftragen.

Meyer: Und was Sie auch sehen, wenn Sie sehr nahe an die Replik herankommen: Das ist nicht einfach ein flächiger Druck. Das Ganze hat noch dazu Profil. Wenn es im Original einen Kratzer in der Farbe gibt, dann werden Sie den hier finden.

Jopp: Und was den Rahmen angeht: Sehen Sie all diese Verzierungen? Die haben wir in 3D gedruckt und aufgebracht. Anschließend hat Wäckerlin sie bemalt.

Eine perfekte Illusion.

Meyer: Eigentlich ist ja es keine Illusion. Sie können es ja anfassen. Spüren. Erleben. Es ist wirklich da.

Ein anderes Original also?

Meyer, Jopp: Vielleicht ist das ein guter Gedanke. Was wir mit dem gesamten Team geschaffen haben, ist eine Art anderes Original.

Valentina Vlasic: Es ist sehr wichtig, dass wir als Museum an keiner Stelle den Eindruck erwecken wollen, bei unseren Repliken handele es sich um Originale. Wir kommunizieren das sehr sorgfältig.

Eine Art Zeitreise also …

Meyer, Jopp: Was wir alle zusammen hergestellt haben, ist und bleibt eine Replik, aber es ist eine, die versucht, alle Details so gut und präzise wie möglich abzubilden.

Ich würde sagen: Mission accomplished. Und wenn man die Kürze der Zeit bedenkt, die Ihnen für das Projekt zur Verfügung stand, dann grenzt das Ganze fast schon an Zauberei.

Meyer, Jopp: Wenn die Leute ab Sonntag vor den Repliken stehen und ins Staunen geraten, dann haben wir alles richtig gemacht. Und noch mal: Das hier ist ein Team-Erfolg. Alle Beteiligten sind gleich wichtig. Würden Sie einen weglassen, wäre dieses Ergbnis nicht zustande gekommen, denn jeder von uns hat sich mit seinem Fachgebiet maximal eingebracht.

Mittlerweile ist Hans Wäckerlin eingetroffen: Im farbbesprenkelten Kittel steht er auf einer Treppenleiter und trägt Firnis auf. Wäckerlin, der Mann mit dem schweizerischen Namen, wurde in Den Haag geboren, studierte an der dortigen Kunstakademie, lebt seit 1985 in Köln und arbeitet freiberuflich als Bühnenmaler für Film- und Fernsehproduktionen.

Wie viele Stunden haben Sie bisher mit diesem Projekt verbracht?

Wäckerlin: Ich zähle da nicht die Stunden. Alles in allem arbeiten wir bis jetzt seit circa sechs bis sieben Wochen an diesem Altar.

Sind Sie dazu jedes Mal nach Kleve gekommen?

Wäckerlin: Nein. Ich hatte die entsprechenden Teile in meinem Atelier in Köln. Ich habe mich dort ja nicht nur um die bedruckten Kieferplatten gekümmert – es ging dabei auch um den Holzrahmen, den ich bemalt habe. Es ging darum, dass er nicht wie neu aussieht, sondern auch die entsprechende Patina bekommt. Und die Firnis, die ich jetzt auftrage, sorgt unter anderem auch für eine räumliche Tiefe.

Meyer: Vielleicht noch mal zusammenfassend Folgendes: Ich sagte ja schon, dass alles, was Sie hier sehen, das Ergebnis einer Teamleistung ist, aber alle im Team wären ja jetzt nicht hier, wenn nicht Valentina diese Idee gehabt hätte. Sie hat nicht locker gelassen und jeder von uns spürt. dass ihre Hartnäckigkeit sich gelohnt hat.

Originale

So viel zu den Repliken. Aber da sind ja noch die Originale. Zehn entstammen der Sammlung des Kurhauses, aber andere Werke sind Leihgaben. Für die gelten verschärfte Bedingungen.

Vlasic: Leihgaben bekommt man für eine Ausstellung nur, wenn man sich an bestimmte Vorgaben hält. Da geht es in erster Linie um den Transport. Hier beispielweise stehen klimatisierte Transportkisten. Dazu kann unsere Restauratorin Miriam Hennessy aber mehr sagen als ich.

Hennessy: Vielleicht sage ich ein bisschen was darüber, wie ein Transport funktioniert. Sie sehen hier eine der Transportkisten. Die wird 24 Stunden, bevor das entsprechende Exponat hineinkommt, erst einmal geöffnet aufgestellt. Erst dann wird das Exponat in die Kiste gepackt. Was die klimatischen Voraussetzungen  angeht, gelten für Holzarbeiten natürlich andere Bedingungen als beispielsweise für Zeichnungen. Bei unserer Ausstellung hier handelt es sich um Tafelmalereien. Es geht also um Holz. Wenn die Exponate verpackt sind, werden sie in einem klimatisierten Wagen vom Ort des Leihgebers zum jeweiligen Museum – in diesem Fall zum Museum Kurhaus Kleve – gebracht. Wichtig ist bei allen Schritten des Transports, dass möglichst keine klimatischen Schwankungen auftreten.

Miriam Hennessy

Und wenn der Transport am Zielort ist?

Hennessy: Dann passiert erst einmal gar nichts. Die Transportkiste bleibt 24 Stunden unangetastet. Erst danach dürfen wir sie öffnen.

Man braucht also Geduld …

Hennessy: Das auf jeden Fall. Aber es braucht nicht nur Geduld. Wichtig ist – bei jedem Schritt – die absolute Sorgfalt.

Also: Nur keine Eile.

Hennessy: Ganz genau. Wenn also die Zeit für die Aklimatisierung abgelaufen ist, folgt das Auspacken des Exponats. Auch das nimmt Zeit in Anspruch. Dazu kommt dann der Zustandsbericht, der mit dem jeweiligen Exponat geliefert wird.

Was passiert nach dem Auspacken?

Hennessy: Nun folgt ein sehr, sehr wichtiger Schritt. Ich muss das Exponat begutachten. Dabei geht es um ganz genaues Hinschauen. Es geht wirklich um jede kleinste Kleinigkeit. Ich fertige ein Protokoll an. Ich mache Fotos. Die sind mit einem Zeitstempel versehen. Im Zweifelsfall geht es ja darum, in welchem Zustand das Exponat zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen ist. Natürlich wird auch beim Verpacken vor dem Versand ein solches Protokoll erstellt. Das ist gewissermaßen die Referenz. Da geht es manchmal um einen einzigen Fingerabdruck, der beanstandet werden könnte. Da muss dann nachvollziehbar sein, wann, wo und wie dieser Abdruck auf das Exponat gelangt ist. Ich ziehe jetzt also meine Handschuhe an, setze meine Brille auf und beginne mit der Untersuchung.

Klimatransportkiste

Vlasic: Was ja Museumsbesucher in der Regel nicht zu sehen bekommen, sind die Rückseiten der Exponate, aber auch die sind spannend. Im Falle von Baegert können wir sehen, wo eine Arbeit zersägt worden ist. Das ist dann bei einer Rekonstruktion, wie wir sie hier durchführen, extrem aufschlussreich.

Ein bisschen fühlt sich all das an wie eine kriminaltechnische Untersuchung. Eine Arbeit wird verpackt, sie wird transportiert, sie wird ausgestellt, wieder verpackt, zurückgeschickt … all das wird akribisch dokumentiert. Aber was passiert während der Ausstellungszeit?

Vlasic: Es passiert immer häufiger, dass Exponate auf der Rückseite mit einem Chip versehen werden, der Klimadaten aufzeichnet. Der Chip wird dann, nachdem die Arbeit zurück beim Leihgeber ist, ausgelesen und ausgewertet. Es ist schon ein Wahnsinn, was da in den letzten Jahren an Standards entwickelt worden ist.

Ist dann eine Aktion wie der Nachbau des Baegert-Altars am Ende die sinnvollste Alternative?

Vlasic: Es könnte darauf hinaus laufen. Wir werden in unserer Ausstellung erleben, wie das Publikum die Repliken aufnimmt.

Das Baegert-Team v. l. n. r.: Ralf Meyer, Wilhelm Dückerhoff, Valentina Vlasic, Hans Wäckerlin, Norbert van Appeldorn, Miriam Hennessy, Violet Roberts. Foto: Annegret Goßens.

Abschied vom Original? Original, Replik und Aura

Ein Gespräch mit dem Direktor des Museums Kurhaus Kleve, Harald Kunde. Es geht um die Diskussion, ob ein Museum Repliken zeigen darfsollkann. Gibt es die Aura des Originals? Ist Kunst ein Pilgerakt?

In eurer neuen Ausstellung „Schönheit und Verzückung” ist die 1:1-Replik eines Altars von Derick Baegert zu sehen. Ich habe den Aufbau begleitet und war total begeistert von der Möglichkeit, ein Original mit modernster Technik zu reproduzieren. Ich habe das Original nicht gesehen und frage mich jetzt: Muss ich es noch sehen?

Kunde: Ja und Nein. So viel ist sicher: Die Genauigkeit der Replik ist unglaublich frapieren. Aber wichtig ist mir die Feststellung, dass es uns überhaupt nicht darum geht, ein Original zu ersetzen – und es ist schon gar nicht unser Ziel, die Besucher zu täuschen. Alles, was mit der Aura und der Autorität eines Originals zu tun hat, kann nicht ersetzt werden. Von niemandem. Aber mit den technischen Möglichkeiten, die uns mittlerweile zur Verfügung stehen, sind wir in der Lage, ein Original so nachzubilden, dass eine rein optische Unterscheidung zumindest schwierig werden könnte.

Was aber ist diese „Aura”?

Kunde: Aura ist ein Begriff, der spätestens durch Walter Benjamin fast inflationär wurde. Benjamin hat einen sehr klugen Aufsatz geschrieben – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit –, in der erstmalig konstatiert wird, was sich im Umgang mit den Kunstwerken durch die Fotografie verändert hat. [Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; edition suhrkamp, 1963.] Es geht darum, dass die Kenntnis der Kunst sich von den originalen Trägern ablöst und durch die Fotografie quasi immateriell – also für jeden frei verfügbar – wird. Daraus erwachsen Vor- und Nachteile, weil die Einmaligkeit des Originals, das es nur an einem Ort und in einem Zustand gibt, sich gewissermaßen erledigt hat. Das Ganze geht Hand in Hand mit einer enorm anwachsenden Vergleichbarkeit. Es besteht also die Möglichkeit, eine Art imaginäres Museum anzulegen, wie es André Malraux eingeführt hat. Malraux, ein schillernder Kulturpolitiker und Schriftsteller, ging davon aus, dass heutzutage jeder in der Lage ist, sich – anhand von Kunstbänden oder anderen Abbildungen – (s)ein imaginäres Museum zu schaffen. Damit hat Malraux gewissermaßen den Gedanken von Benjamin fortgesetzt. Es findet also nicht allein die Ablösung von der Aura statt – es entsteht auch die Möglichkeit, völlig neue Kombinationen und Zusammenstellungen zu entwickeln. Jeder kann zum idealen Kurator seines eigenen imaginären Museums werden. Plötzlich ist alles verfügbar und niemand muss sich mehr an konservatorische Vorgaben halten. Es existiert kein Transportproblem mehr und es geht demzufolge auch nicht mehr um Geld. Okay – man muss in ein Kunstbuch investieren, aber das ist dann auch schon alles. Wir sind eigentlich noch einen Schritt weiter, denn die Investition in ein Kunstbuch hat sich in vielen Fällen durch das Internet erübrigt. Dort ist ja fast alles als Abbildung abrufbar. Das ist also der Startpunkt für das gigantische Abenteuer, dass du dein eigenes Museum kreierst. Das imaginäre Museum – dieser Begriff von Malraux – ist seitdem ganz folgenreich, denn plötzlich können auch unterschiedlichste Kulturräume miteinander in Korrespondenz treten, was im rein physischen Sinn schlechterdings unmöglich wäre.

Bezugnehmend auf den schon erwähnten Baegert-Altar in der Pinakothek des Museums Kurhaus Kleve finde ich allerdings, dass es ein Riesenunterschied ist, ob ich eine Abbildung in einem Buch sehe oder – wie es ja hier in der Ausstellung der Fall ist – ob ich eine gleichgroße Nachbildung vor mir habe. Die Abbildung in einem Buch kommt ja nicht einmal in die Nähe dessen, was hier zu sehen ist. Dieses – nennen wir es  – „Objekt” hat sehr wohl eine Aura. Und eben dieses Objekt meine ich, wenn ich mir die Frage stelle, ob ich tatsächlich nach Dortmund fahren muss.

Kunde: Das, was wir in unserer Ausstellung zeigen, ist sozusagen die nächste Stufe der Reproduzierbarkeit. So etwas ist ja in einer solch überragenden Qualität erst seit zwei, drei Jahren überhaupt möglich. Und natürlich ist es etwas ganz anderes, diese Physis im Originalmaßstab plötzlich vor sich zu sehen. Das ist mit der Abbildung in einem Buch überhaupt nicht zu vergleichen und man muss kein Prophet sein, um zu vorherzusagen, dass so etwas für viele kunsthistorische Ausstellungen künftig ein probates Mittel sein wird. So lassen sich dann bestimmte Werklücken schließen. Es lassen sich mit diesem Hilfsmittel bestimmte Bestände zusammenführen. Wenn aber jemand sagt „Ich brauche jetzt kein Original mehr”, dann würde ich das so nicht unterschreiben. Es ist ja trotz alledem noch immer etwas Besonderes, sich zum Standort eines Originals zu begeben. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Modebegriff des nachhaltigen Museums zu tun, dass man sagt: „Bestimmte Dinge sollen dort bleiben, wo sie sind, denn die Menschen sind schließlich mobil und können sich zum Original bewegen.”

Das ist ja dann fast so eine Art Pilgergedanke …

Kunde: Ja. Du begibst dich zum Original, was ja am Ende mehr ist als dessen Betrachtung. Da gibt es ja auch eine Umgebung – also zum Beispiel eine Kapelle oder eine Kirche, wo das Kunstwerk seit hunderten von Jahren steht.

Mir fällt da eine Szene aus „Good Will Hunting” ein. Es geht da um einen hochbegabten jungen Mann, der unglaublich viel weiß. Er trifft dann auf einen Psychologen, der ihm folgendes sagt: „Mir ist etwas aufgefallen. […] Du warst noch nie aus Boston raus. Du kennst wahrscheinlich jedes Kunstbuch, das je geschrieben wurde. Michelangelo zum Beispiel. Du weißt viel über ihn: Lebenswerk, politische Einstellung, sexuelle Orientierung. […] Aber ich wette, du weißt nicht, wie es in der Sixtinischen Kapelle riecht. Du hast nie dort gestanden und diese wunderschöne Decke gesehen.  Wenn ich dich nach Frauen frage, gibst du mir eine lange Liste mit Vorlieben. Vielleicht hast du sogar ein paar Mal gebumst. Aber du kannst mir nicht sagen, was es heißt, neben einer Frau aufzuwachen und wirklich glücklich zu sein. Wenn ich dich nach dem Krieg frage, kommst du mir wahrscheinlich mit Shakespeare. ‚Noch einmal in die Bresche, Freunde.‘ Aber du bist nie in einem Krieg gewesen. Du hast nie den Kopf deines besten Freundes gehalten bis zu seinem letzten Atemzug, während er dich hilfesuchend anblickt. Wenn ich dich nach der Liebe frage, zitierst du wahrscheinlich ein Sonett. Aber du hast nie eine Frau angesehen und warst dabei völlig wehrlos. Du hast nie jemand gekannt, der dich mit einem Blick umwerfen kann. Du kennst nicht das Gefühl, Gott hätte dir einen Engel auf die Erde gesetzt, der dich aus den Tiefen der Hölle retten kann. Und du weißt nicht, was es heißt, ihr Engel zu sein …” Aura? Ein Kunstwerk – wir reden jetzt vom Original – hat eine Umgebung, die man nicht einfach wegdenken kann. Ist es das? Gibt es die Seele des Originals?

Kunde: Ja. Man nimmt eben nicht nur das Artefakt selbst wahr. Was wir hier versuchen – also die Präsentation einer originalgetreuen Replik –, ist für den Ausstellungszweck perfekt geeignet, weil man eine nahezu realistische Reproduktion sieht, die am Ende vielleicht den Leuten Lust darauf macht, das Original zu besuchen. Im Übrigen ist dieser Gedanke nicht wirklich neu. In der Gegenwartskunst gab es nicht selten sogenannte „Exhibition Copies”, die eigens für Ausstellungszwecke hergestellt und anschließend vernichtet wurden; vernichtet werden mussten. So wurde verhindert, dass diese Kopien auf den Markt gelangen konnten. Dass Dinge speziell für Ausstellungen produziert werden, ist also keineswegs neu, aber die Präzision, mit der das jetzt möglich ist – so nah am Original – ist frappierend und lässt einen fast wunschlos zurück.

Ich denke, das „fast” sollte man sich dabei fett gedruckt und unterstrichen denken.

Kunde: Auf jeden Fall.

Kommen wir noch mal zum Altar zurück. Hier in Kleve kann man auf Reichweite an das Exponat herantreten. In Dortmund – das habe ich mir sagen lassen – ist das aus verständlichen konservatorischen und restauratorischen Gründen nicht möglich. Die Replik bietet also einen Vorteil. Die Nähe zum Exponat löst ja auch ein physisches Empfinden aus. Da stellt sich dann die Frage, ob hier ein intensiveres Erleben stattfindet.

Kunde: Wir kommen jetzt in einen sehr subjektiven Bereich. Das wird jeder anders empfinden. Beim Original bleibt ja noch immer dieses Gefühl, dass du vor einem Exponat stehst, dass Jahrhunderte überdauert hat. Das macht etwas mit dir als Besucher.

Manchmal ist es aber auch so, dass alle Vorsichtsmaßnahmen, die zum Schutz eines Kunstwerks getroffen werden, das Empfinden … sagen wir … bremsen.

Kunde: Ein gutes Beispiel wäre da die Mona Lisa. Ich habe das Bild Anfang der 90-er Jahre zum ersten Mal gesehen: Damals war kein Glas davor und man konnte ohne Absperrung hingehen …

… unvorstellbar …

Kunde: … und jetzt ist der gesamte Raum wie auf einem Flughafen mit Absperrgittern vollgestellt. Am Ende hat das mit der ungetrübten Wahrnehmung dieses Bildes nichts zu tun.

Klingt jetzt vielleicht verrückt, aber ich habe den Eindruck, dass damit die Betrachtung des Originals zu einer Art Fälschung wird. Natürlich ist klar, dass ein Werk geschützt wird, aber der Schutz ermöglicht am Ende keine ungetrübte Wahrnehmung mehr … und dann stehe ich hier vor diesem Altar …

Kunde: … und die Frage, die sich stellt, ist doch die: Ist es möglich, den Gedanken, dass es sich um eine Replik handelt, auszublenden? Macht es etwas mit dir, wenn du weißt: Das Exponat ist tatsächlich 500 Jahre alt. Da hat ein Baegert also selbst Hand angelegt. Und ändert es deine Wahrnehmung, wenn du weißt, dass es sich um eine täuschend echte Replik handelt, die erst vor zwei Wochen entstanden ist?

Aber was, wenn ich es nicht weiß?

Kunde: Dann wirst du es möglicherweise nicht merken.

Tja – wenn ich es denn weiß, dann hat das Original vielleicht … eine Seele. Und die Replik hat keine. Wir kommen ja auf ein Terrain, wo Glauben und Wissen sich kreuzen.

Kunde: Die Mitarbeiter von Fröbus – das ist die Firma, die für die Erstellung der Replik zuständig war – haben eine wie ich finde sehr angenehme Haltung zu dieser Frage. Sie sagen: „Wir wollen Baegert nicht ersetzen. Wir sind voller Demut gegenüber dem Original, aber wir streben nach einer bestmöglichen Annäherung. Wir fertigen also eine Neuschöpfung an – aber nach der Vorgabe des Künstlers.” Es wird also so weit wie möglich jede subjektive Spur der Gegenwart gelöscht. In diesem Fall wurde das Ganze nach dem Scannen ja nicht einfach gedruckt – es hat ja auch eine malerische Schlussbehandlung stattgefunden. Dazu kommt, dass die Bilddateien nicht auf Papier gedruckt wurden, sondern auf Holz.

Maximale Annäherung an das Original.

Kunde: Wir haben vorher gesehen, wie das Ganze als reiner 3D-Druck aussieht, aber es ist unbeschreiblich, welchen Unterschied die malerische Behandlung macht. Das können die Leute leider nicht sehen, aber es ist – um das Wort ein letztes Mal zu bemühen – absolut frappierend. [In der Ausstellung ist ein Film zu sehen, der den Entstehungsprozess des Altars zeigt und somit – zumindest aus zweiter Hand – nachvollziehbar macht.] Erst diese Nachbehandlung durch Hans Wäckerlin hat das Ganze perfekt gemacht. Am Ende stand also eine manuelle Tätigkeit, die mit dem Prozess des 3D-Druckens gar nichts zu tun hat. Es braucht einen künstlerisch-sachverständigen Menschen, der die Baegert-Idee in die heutige Sichtbarkeit übersetzt.

Der Gedanke, dass es nicht um das Ersetzen des Originals geht, ist auf jeden Fall entscheidend. Und wenn man es so betrachtet, wird aus Baegerts Original eine Art Handlungsanweisung. Das erinnert mich dann an eine Partitur. Natürlich ist das etwas anderes, aber die Partitur ist eben eine Handlungsanweisung an den Musiker. Es gibt ein Original der Partitur, aber es kann kein Original ihrer Umsetzung geben, weil viele unterschiedliche Umsetzungen – sprich: Interpretationen – möglich sind. Also kann man vielleicht sagen, dass die Replik eine Art Interpretation darstellt.

Halten sich – profane Frage – die Kosten der Replik die Waage mit einem Transport, wenn er denn stattgefunden hätte.

Kunde: Auf jeden Fall.

Es gibt da aber eine noch unbeantwortete Frage: Was wird nach dem Ende der Ausstellung aus den Repliken?

Kunde: Es gibt schon jetzt Interessenten und Anwärter. Es ist aber noch nicht geklärt, wie wir am Ende damit umgehen werden. Auch die Rechte-Inhaber – also die Besitzer der Originale – haben bis jetzt lediglich einer Nutzung für diese Ausstellung zugestimmt. Da befinden wir uns auch noch in einer Art Grauzone, in der insgesamt noch keine klaren Regelungen bestehen.

Seid ihr mit dem Baegert-Projekt eigentlich in einer Art Vorreiterposition?

Kunde: Den Repliken-Tipp haben wir vom Schnütgen Museum in Köln. Die haben damals ein vergleichbares Projekt – allerdings nicht in dieser Größe – zusammen mit Fröbus durchgeführt.

Die Rathausfiguren?

Kunde: Genau. Das war eine Ausstellung vor drei Jahren. Unter Museumsleuten versucht man natürlich, die Expertise dort abzuholen, wo sie ist und das Schnütgen Museum in Köln ist das Museum für mittelalterliche Kunst. Die haben uns Fröbus empfohlen und gesagt, das seien die absoluten Marktführer, weil die sich auch bis ins Detail damit identifizieren und nicht einfach schnell was drucken wollen. Die haben allerhöchsten Anspruch, so weit wie nur irgend möglich ans Original heranzukommen. Das hat sich bewahrheitet und darüber bin ich sehr froh, weil ich mir natürlich denken kann, dass es viele kritische Stimmen geben wird. Die werden sagen: „Was treibt ihr denn jetzt? Speist uns mit Repliken ab. Wir wollen aber die Originale sehen.” Der Stand ist aber: Es können nicht immer die Originale sein. Es gibt Argumente für und wider, aber um einen Künstler wie Jan Baegert kennenzulernen, ist diese Methode unbedingt sinnvoll, weil man dadurch in der Lage ist, viele Werke zu zeigen, die nicht reisen könnten.

Da wären wir dann wieder beim Pilgergedanken, aber auch der ist ja – wie soll ich sagen – nicht unbefleckt.

Kunde: Das ist richtig. Es gibt viele Beispiele, bei denen der Mobilitätsgedanke in sein Gegenteil umschlägt. Versuch mal, ohne Anmeldung in die Sixtinische Kapelle in Rom zu kommen oder dir Leonardos Abendmahl in Mailand anzusehen … – unmöglich. Da sprechen wir von Hotspots, die sich im Laufe der Globalisierung enorm entwickelt haben. Alle Menschen auf der Welt scheinen plötzlich das Bedürfnis zu haben, diese Dinge sehen zu müssen – und das möglichst in Kombination mit einem Selfie vor dem Kunstwerk. Dieses Bewusstsein hat ja auch etwas mit einer Sehnsucht zu tun – mit dem Wunsch authentisch zu sein. Am Ort des Originals zu sein. Das wird auch nicht aufhören. Das können Repliken am Ende nicht bieten. Ich bin gespannt, wie viele Leute in unserer Ausstellung Selfies vor dem Baegert-Altar machen werden.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass Menschen mit Sehnsucht einen der von dir genannten Orte aufsuchen, aber dass es nicht mehr um die Erkundung des Ortes und des Kunstwerks geht, sondern nur um eine Art Trophäe: Selfie mit Mona Lisa. Selfie mit Abendmahl. Selfie mit der Sixtinischen Kapelle. Selfie vor den Pyramiden. Die Botschaft: „Ich war dort.”

Kunde: Da fehlt noch etwas. „Ich war dort und habe es gepostet.” Das ist mindestens genauso wichtig. Die anderen müssen erfahren, dass du dort gewesen bist.

Das kann es ja dann auch nicht sein.

Kunde: Richtig. Es gibt viele Dinge, die sich zum Schlimmsten hin entwickeln. Das Eigentliche wird zur Staffage. Da entsteht bei mir dann die Sehnsucht nach früheren Zeiten, als man sich auf ein Kunstwerk einlassen konnte und vielleicht sogar das Glück hatte, vor Spitzenstücken plötzlich staunend allein zu stehen.

Vermeer …

Kunde: Die Ausstellung war relativ früh ausgebucht. Keine Chance, das dann noch zu sehen. Ich hatte das Glück, hineinzukommen. 90 Prozent der Besucher waren tatsächlich im Selfie-Modus. So hat man dann hauptsächlich Hinterköpfe gesehen. Die Leute standen vor den Bildern und hörten den Erläuterungen der Audio-Guides zu. Und die sind auch keinen Millimeter gewichen, ehe der Onkel im Ohr nicht mit dem Erklären zu Ende war. All das hat Auswirkungen auf die körperliche Wahrnehmung im Raum. Wie näherst du dich dem Bild? Wie siehst du es? Besser gesagt: Wie kannst du es überhaupt sehen? Wie ist die Relation zum Nachbarbild? Das wissen die Ausstellungsmacher solcher Blockbuster-Ausstellung und daher gehört es mittlerweile zu den allerhöchsten gesellschaftlichen Weihen, zu einer Preview eingeladen zu werden. Das ist längst ein absolutes Statussymbol. Da sind dann nur ganz wenige Leute. Das sind alles Entwicklungen, die mit einer Demokratisierung der Kunstwahrnehmung überhaupt nichts zu tun haben, sondern immer wieder auf ein neues Elitenbewusstsein zielen.

Wie sollte man es anders machen?

Kunde: Das ist wahrlich nicht einfach zu beantworten. Das Bedürfnis jedes Menschen, diese Dinge zu sehen, ist schließlich legitim. Wer will uns das ausreden? Aber wenn’s alle wollen, findet dadurch schon wieder Entwertung statt. Es entsteht also eine Art „Vermassung” und Massenwahrnehmung war noch nie förderlich für neue Einsichten.

Seid ihr darauf vorbereitet, dass es für das Baegert-Projekt Kritik geben wird nach dem Motto: Das Zeigen von Repliken kommt der Entweihung eines heiligen Ortes gleich?

Kunde: Ich rechne damit, dass es solche Stimmen geben wird, aber wir müssen uns da nicht verstecken. Es bleibt abzuwarten, ob es deutliche kritische Äußerungen geben wird, oder ob das quasi hinter vorgehaltener Hand passiert. Wir werden sehen, was da ankommt.

Entscheidend ist doch, dass ihr offensiv kommuniziert. Ihr macht den Leuten nichts vor – lasst niemanden darüber im Unklaren, ob ein Exponat Replik ist oder Original.

Kunde: Ganz genau. Wir wollen niemanden täuschen oder hinters Licht führen. Überall ist durch die Beschilderung völlig klar: Was ist Original und was ist Replik. Vielleicht ist es ja für viele positiv eingestellte Besucher relativ zweitrangig, weil sie voller Faszination vor den Arbeiten stehen. Man sollte auch darüber sprechen, dass alles, was das Original bei Baegert ausmacht – also diese plastische Schilderung und der große erzählerische Atem – sich auch in den Repliken mitteilt. Menschen, die mit offenen Augen vor den Arbeiten stehen, können erleben, wie da ein Künstler an der Nahtstelle zwischen Mittelalter und Renaissance gearbeitet hat. Baegert war noch völlig von seiner religiösen Vorstellungswelt geprägt, aber er hat sie gleichzeitig irdisch dargestellt. Es gibt in diesen Bildern eine große Detailbesessenheit: Das beginnt bei den Orten und geht über die Kleidung bis hin zu den Gräsern. Alles wurde dargestellt, wie es für Baegerts Zeit typisch war. Das sieht man sowohl bei den Repliken als auch bei den den Originalen. Die Faszination, die von Baegerts Werken ausgeht, ist meiner Meinung nach nicht ans Original gebunden, aber die Qualität der Originale liegt in ihrer „Zeitlichkeit”. Da ist das Bewusstsein, dass eine solche Arbeit tatsächlich über 500 Jahre alt ist. Dazu kommt noch die Vorstellung davon, was in diesen 500 Jahren alles passiert ist und dass ein solches Stück sich erhalten hat. Das kann eine Replik niemals haben. Dazu kommt das spezielle Schicksal von Baegerts Werken: Viele seiner Altäre sind zersägt worden. Wenn das nicht der Fall wäre, hätten wir vielleicht auch mehr vollständige Altäre bekommen und zeigen können. So allerdings ist das Ganze sehr, sehr fragmentarisch und durch die Repliken besteht die Hoffnung, dass man bestimmte Teile wieder zu einem geistigen Ganzen zusammenfügen kann.

Da wird also ein Schattenmann zurück ins Scheinwerferlicht geholt.

Kunde: Ja. Genau. Wenn wir es schaffen, dass sich die Menschen wieder mehr für Baegert interessieren, ist viel gewonnen.

Harald Kunde