Heute also die Wurzelbehandlung. Kunst und Abgrund. Kunst und Tod. These: Kunst entsteht meistens dann, wenn es den Künstlern nicht gut geht. Anders gesagt: Vielleicht ist ein Lotto-Gewinn eher nicht der Anlass, ins Atelier zu gehen oder sich an den Schreibtisch zu setzen. Warum soll ich Kunst machen, wenn ich gut drauf bin?
KUNDE. Da kommen wir vielleicht noch hin, aber als Grundeinstieg würde ich erst einmal folgende These formulieren: Das Bewusstsein der [eigenen] Vergänglichkeit ist die tiefste Wurzel von Kunst. Es gibt das Wissen um die [eigene] limitierte Lebenszeit und die Kunst bietet eine Möglichkeit, aus dieser Begrenzung herauszutreten – sie zu überwinden. Wenn es gut geht, reicht das Überwinden für eine lange Zeit – wenn nicht, ist man schnell vergessen. Kunst jedenfalls ist ein Weg, Spuren zu hinterlassen – im Gedächtnis zu bleiben und für nachfolgende Generationen Wirkung zu entfalten …
… also ist der Tod die unabdingbare Voraussetzung, um Kunst zu schaffen?
KUNDE. Das klingt jetzt sehr absolut, aber man kann das so sehen.
Es geht ja vor allem darum, das Bewusstsein der eigenen Grenze zu erleben. Vergänglichkeit als Treibstoff.
KUNDE. Ja, so könnte man es sagen. Es gibt ja das ‚Leitwort‘ des ,,Memento mori“, das sich wie ein roter Faden durch die Kunstgeschichte zieht. Es geht um das Bewusstsein, dass der Tod das Ende ist – egal, ob man an andere Dinge glaubt oder nicht. Aber das Nutzen des irdischen Hier-und-Jetzt ist quasi die Voraussetzung dafür, dass irgendetwas entsteht. Es geht darum, das Erleben – Freude, Schmerzen, Trauer, Glück – sagbar zu machen. Und so viel steht fest: Das kann nicht jeder.
Viele leiden oder hoffen stumm und finden nie den Punkt einer eigenen Sprache. Aber einige Menschen verfügen über diese Fähigkeit, auch bitterste Existenzerfahrungen zu formulieren und ihnen einen Ausdruck zu verleihen, der vielleicht auch etwas abmildert von dem Schmerz der eigentlichen Erfahrung. Ich habe gerade ein Interview mit der britischen Künstlerin Tracey Emin gelesen, die eine schwere Krebserkrankung hinter sich hatte. Man merkt dort, dass der Impuls des Malens sie aus schwärzester Verzweiflung gerissen oder das zumindest auf ein Maß des Erträglichen abgemildert hat. Tracey Emin hatte aber auch vor ihrer Krankheit schon ein ganz hohes Maß an Emotionalität in ihren Arbeiten. Man spürt in diesen Arbeiten, dass da ein Mensch sehr sensibel auf die Existenz reagiert und trotzdem die Kraft hat, das in Zeichen umzusetzen, die dann auch von anderen gelesen werden können. Zeichen, die die Kraft haben, auch andere anzusprechen.
Da scheinen plötzlich Dinge mitteilbar, die man sonst nur mit den engsten Freunden, den Partnem oder der Familie besprechen und erleben kann. Manchmal sind die Dinge auch gar nicht mitteilbar. Man verstummt. Oder man hat Angst, so viel von sich preiszugeben. Künstler sind also in der Lage, Bereiche zu artikulieren, die von anderen ausgespart oder umgangen werden.
Künstler als Seismographen – Menschen, die Verletztsein in etwas Sagbares umbauen. Novalis schreibt: ,,Fängt nicht überall das Beste mit Krankheit an?“
KUNDE. All das ist keine neue Erkenntnis. Bestimmte Setzungen finden sich ja schon bei antiken Autoren, die so viel erfassen von der grundsätzlichen Bestimmung des Menschen, dass sie für uns heute noch interessant sind, obwohl sich die Lebensverhältnisse scheinbar gänzlich verändert haben. Einige Passagen von Ovid, Homer oder Vergil sind ja so, dass sie einen heute noch anfassen, als würde der Autor gleich neben einem stehen und sagen: ,,Ich weiß, was mit dir los ist, du Mensch. Du Geworfener. Du Sterblicher.„
Gerade taucht in mir der Gedanke auf, dass die These von der Verzweiflung als Motiv nicht immer richtig ist. Ich denke da auch an die Arbeiten von Robert Filliou. Die sind ja zum Teil wirklich komisch. Man steht davor und lacht. Dann also doch nicht das Memento mori. Gerade in eurer momentanen Ausstellung mit den Editionen von René Block zieht sich ja durch nicht wenige der Arbeiten ein satirisches Aroma. Da finden sich Stellungnahmen, die mit der eigenen Sterblichkeit erst einmal nichts zu tun zu haben scheinen.
KUNDE. Glücklicherweise gibt es verschiedene Mentalitäten, um auf die oben beschriebene Grundkonstellation zu reagieren. Wenn alle immerzu nur die Sterblichkeit thematisierten, wäre das ja unerträglich. Es gibt da ganz unterschiedliche Modi, dem zu entkommen.
Ironie, Witz … Der Umbau des Verletztseins in satirisch-zynische Energie.
KUNDE. Witz auch in Bezug auf die eigene Wichtigkeit – das sind ganz probate Mittel, um dieses schwere Thema zu behandeln. Robert Filliou ist ja ein wunderbarer Künstler, der immer wieder mit großer Leichtigkeit auch schwere Themen behandelt. Manchmal stellt gerade das Spielerische die Gewissheiten infrage. Auch das ist ein zentraler Impuls der Kunst. Ohne das spielerische Element
würde es so wenig funktionieren wie ohne das Bewusstsein der Sterblichkeit.
Kunst also als Schmerzüberwindungsmodus?
KUNDE. Für den, der sie schafft, in jedem Fall. Man muss nicht unbedingt von der therapeutischen Wirkung der Kunst reden, aber: es ist ja ein urschöpferischer Akt, dem Schaffen an sich eine Form zu verleihen.
Darin steckt also Befreiung und Erleichterung – wenn nicht sogar Erlösung.
KUNDE. Zu meiner Ausbildung gehörten auch Zeichnen und Malen und ohne die Illusion, ein großer Künstler zu sein, zeichne ich bis heute gern. Das ist eine andere Art des Denkens und der Wahrnehmung. Die Beschäftigung mit Dingen und Formen wird intensiver. In dem Moment, in dem man das tut, findet ja auch ein Loslassen statt. Das ließe sich mit dem Zustand vergleichen, ganz entspannt Musik zu hören. Dabei kann man übrigens auch sehr gut zeichnen. Nietzsche sagt: ,,Ohne
Musik wäre das Leben ein Irrtum.“
Kunst als Erlebnisverstärker einerseits und Abgrundvermeidung andererseits.
KUNDE. Kommen wir noch mal zum Ausgangspunkt zurück. Es hat ja immer etwas Anmaßendes, wenn man als Lebender über den Tod redet. Trotzdem tritt er ja früher oder später an jeden heran, wenn beispielsweise Vater oder Mutter sterben. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben und es ist für mich so, dass es ein Davor und ein Danach gibt. Es ist nicht einmal so, dass ich meinem Vater am Ende seines Lebens ganz nah war, aber Nähe war natürlich da und dann ist diese Person weg – und zwar unwiederholbar. Das sind Erfahrungen, die jeder von uns machen muss und die damit zu tun haben, dass man das in Bezug auf sich selbst weit, weit wegschiebt. Ich kenne niemanden, der wirklich angstfrei an das Totsein denken kann. Da gibt’s dann coole Sprüche: ,,Ich hab keine Angst vor dem Tod, ich hab nur Angst vorm Sterben“, was natürlich auch sicherlich sehr realistisch ist, weil man eben nicht weiß, wie es am Ende tatsächlich abgeht.
Ich finde die Unterscheidung zwischen Totsein und Sterben in der Tat wichtig. In meinen Gedanken ist es schwer auszuhalten, dass – nur für einen selber – alles zum Stillstand kommt; dass man an nichts mehr teilhaben wird; dass – platt gesagt – die Welt sich weiter dreht. Das bedeutet ja auch, dass die einzige Chance, die man jemals hatte, vertan ist. Verglüht. Verschwunden. Da entsteht ein innerer Vorschmerz. Ein vorgezogener Abschied. Dem stellt man sich oder versucht es
mit einer Umleitung, aber das funktioniert in der Regel nicht.
KUNDE. Das ist in der Tat ein unaushaltbarer Gedanke. Man kann sich natürlich in die klugen philosophischen Systeme retten. Epikur hat das schön gesagt: ,,Der Tod geht uns nichts an. Solange wir leben, hat er keine Macht über uns, aber wenn er Macht über uns hat, leben wir nicht mehr.“ Ganz einfach also. Daraus entwickelt er dann die These, das Diesseits zu nutzen, weil danach nichts mehr ist.
Womit wir dann wieder bei der Kunst wären. Eine Strategie, sich dem Unvermeidbaren zu stellen und dem Abgrund in uns. Da ist dieser Gedanke, der wie eine Batterie die Energie der Vergänglichkeit speichert und natürlich bedeutet Schaffen nicht immer die direkte Auseinandersetzung – es muss nicht immer eine direkte Kopplung stattfinden. Das klänge sonst auch irgendwie paradox beliebig. Kunst ist schließlich im besten Sinne ein Handwerk, das beherrscht werden muss. Das erfordert Können und nicht einfach das sich Einlassen auf einen Gedanken, der dann – passend zur Tagesform – abgearbeitet wird.
KUNDE. Post mortem nulla voluptas. Nach dem Tod gibt es kein Verlangen mehr – keine Begierde … nichts.
Ich habe gerade ein Stück fertiggestellt – ein Auftragswerk. Ich kann nicht sagen, dass es mir während der Arbeit psychisch oder physisch schlecht ging. Das Komponieren hat rund sechs Wochen in Anspruch genommen. Irgendwann habe ich mich an jedem Tag hingesetzt und an der Komposition gearbeitet: Töne ausprobiert; anprobiert; Lösungen gesucht und gefunden. Es ist ja nicht so gewesen, dass ich, bevor die Arbeit begann, irgendwie schlechtdüstere Gedanken herbeirufen musste. Aber es ist vielleicht doch so, dass im Schaffenshintergrund diese Batterie, von der ich gerade sprach, Energie gespendet hat. Es bleibt also die Frage, was in den Schaffensunterschichten vor sich gegangen ist. Ich habe sechs Jahre studiert und anschließend fast 15 Jahre gebraucht, um das, was ich gelernt habe, wieder wegzudrängen und mich aus der Umklammenrng des bewussten Arbeitens zu lösen- um wieder ,,frei“ zu werden – nicht niedergedrückt von einem System. Es hat wirklich lange gedauert, bis ich mich wieder an ein Klavier setzen konnte mit dem Gefühl, noch nie einen Ton von mir gegeben zu haben. Heute – fast 40 Jahre später – ist da wieder das Gefühl, etwas entdecken zu können.
KUNDE. Spricht das gegen das Studium oder war das eine wichtige Voraussetzung, um das alles jetzt so machen zu können?
Schwer zu sagen. Wirklich schwer. Ich weiß ja nicht, ob ich sonst im Zustand des Vorwissens ausgeblutet wäre.
KUNDE. Ich glaube, dass die Kenntnis von theoretischen Systemen und all dem, was es schon gibt, hilfreich, wenn nicht sogar notwendig ist, um zur eigenen Stimme zu finden.
Vor dem Studium habe ich ja auch schon viel komponiert. Habe das alles leider vernichtet. Dann kam das Studium und es kam das Gefühl, Stück für Stück in einen schwarzen Schacht zu steigen. Es gab kaum Reaktionen. Alles ist irgendwie in der Stille vertrocknet. Ich habe gelernt, dass nur ich entscheiden kann und muss, was von meinen Stücken überlebt – was gut ist. Was gestrichen werden muss. Nach dem Examen war es so, dass ich mich nicht an ein Klavier setzen und einen Durdreiklang spielen konnte, ohne vorher alle Türen zu verriegeln. Es war das Gefühl, ein verbotenes und vermintes Terrain zu betreten und anschließend bestraft zu werden. Natürlich war es wichtig, all das gelernt zu haben,was ich im Studium gelernt habe, aber es war genauso wichtig, das alles wieder ins Unbewusste zu verabschieden. Manche Sachen, die ich früher konnte, sind danach nie mehr zurückgekehrt: große, ausufernde Melodien schreiben zum Beispiel.
KUNDE. In der Lyrik heißt es ja, dass die Fähigkeit, Gedichte zu schreiben, im Lauf des Lebens abnimmt. Vielleicht lassen sich ja Melodie und Gedicht vergleichen. Vielleicht werden sie durch längere und irgendwie brüchigere Formate ersetzt – von ihnen abgelöst.
Ich kann ,,Die Moldau“ nicht tränenfrei hören. Es gibt da, sobald das Thema auftaucht, in mir kein Halten mehr und dann taucht dieses Gefühl der Ohnmacht auf, solche Melodien nicht schreiben zu können. Beim Schreiben ist es ähnlich: Da ist immer der Versuch, nicht einmal in die Nähe der Idealbilder zu gelangen. Da findet ein ständiges Auflehnen gegen die Entmutigung statt. Aber es reicht nicht, um mit dem Komponieren und/oder Schreiben aufzuhören. Und manchmal, wenn ich dann eine meiner Kompositionen anhöre oder einen Text lese, stelle ich fest, dass da in aller gefühlten Ohnmacht etwas entstanden ist, das standhält.
KUNDE. Dieses Nicht-Erreichen einer Zielvorstellung ist ja ein äußerst kompliziertes Gebiet, aber jeder, der beispielsweise schon einmal einen Text geschrieben hat und nicht völlig unempfindlich ist, merkt ja, ob es gelungen ist, einen eigenen Ton zu treffen. Dieses Vermögen, den eigenen Ton zu finden, ist, glaube ich, allen Menschen gegeben. Das ist eine Lebensaufgabe. Der eine macht einen Beruf daraus, der andere schreibt schöne Briefe … Und dann ist da dieses Wissen: Es gibt einen ganz schmalen Grat, wo ich mich so ausdrücken kann wie kein anderer Mensch auf der Welt.
Der Fingerabdruck des Künstlers also
KUNDE. Der Fingerabdruck des Menschseins, denn am Ende muss jeder diesen Ton – die eigene Sprache finden.
Eichendorff: ,,Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Das ist ja die geballte Traurigkeit und der geballte Triumph des Schaffens – verdampft in ein paar unscheinbaren Zeilen. Ja – ich kann mich ausdrücken wie sonst niemand, aber da ist immer dieses Gefühl: Das reicht nicht. Das, was mein Fingerabdruck ist,
ist nicht gut genug – kann nicht bestehen. Kunst ist die Unsterblichkeit im Heimwerkerverfahren. Da haben wir also den Punkt erreicht, wo aus Trauer und dem Gefühl der Ohnmacht ein Satz entsteht, der irgendwie fast lustig wirkt. Und da ist sie also wieder: die Batterie im Hintergrund. Der Künstler – ein Viertaktmotor: Ansaugen, verdichten, arbeiten, ausstoßen. Alles an der Trennlinie zwischen Ruhm und Bedeutungslosigkeit.
KUNDE. Dieses Gefühl der Bedeutungslosigkeit werden viele haben, denn schließlich gibt es nur ein Prozent Genies. Die sind da und setzen Maßstäbe. Wir anderen leben im Schatten dieser Intensitäten – mal näher dran, mal weiter weg. Rilke – der Einstieg in die Duioneser Elegien: ,,Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“
Unbedingt Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit lesen und das, was er zum Thema Genie schreibt. Einfach genial. Auch einer dieser Leuchttürme, in deren Schatten man schafft. „Nur ein ganz degenerierter Affe kann auf die Idee gekommen sein, aufrecht zu schreiten und nicht mehr bequem auf allen vieren zu gehen. […] Überhaupt alles, wodurch der Mensch sich von seinen Tierahnen unterscheidet, verdankt er dem Umstand, dass er das Stiefkind der Natur und mit sehr wenig leistungsfähigen physischen Waffen ausgerüstet ist; und so schuf er sich die Waffe des Verstandes, der sich an die Vergangenheit zurückerinnert und die Zukunft vorausrechnet; er erfand die Wissenschaft, die lichte Ordnung ins Dasein bringt, die Kunst, die ihn über die Hässlichkeit und Feindseligkeit der Realität hinwegtröstet, die Philosophie, die seinen Leiden und Fehlschlägen
einen Sinn gibt: lauter Dekadenzschöpfungen!”
KUNDE. Die Frage nach der Intensität hängt ja mit dem Leben und also mit der Kunst extrem zusammen. Daher gibt es so viele Legenden um Künstler, die davon handeln, dass sie immer in Extremsituationen leben und andere moralische Ansprüche an sich stellen als die anderen und sich vielleicht sogar über das Gesetz stellen. Das hängt alles mit diesem Intensitätsdruck zusammen und der sucht sich verschiedene Ventile. Es kann ja nicht immer nur die produktive Schöpfung sein – es
steckt ja immer der ganze Mensch dahinter.
Es geht um ein Sich-in-die-Waagschale-werfen und darum, das zu überleben. Kunst als Überlebensversuchsergebnis.
KUNDE. Am Ende bleibt ja für das Publikum auch die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Werk und Person. Es geht um die Frage, ob und wie das eine das andere beeinflusst. Kann man das Werk noch genießen, wenn man weiß, was die Person gemacht hat oder umgekehrt. Da wird es dann wieder extrem schwierig. Der Streit darüber wurde immer schon geführt, aber nicht mit der Intensität und Unmittelbarkeit, die durch die sozialen Medien entfacht wird. Jeder und alles wird
auf den Prüfstand gestellt und wahrscheinlich könnte kein einziger von uns den angesetzten Maßstäben auch nur im Ansatz genügen. Der – wie soll ich sagen? – unbefleckte Mensch ist wahrscheinlich nicht in der Lage Kunst zu machen. Wovon sollte er berichten, wenn er so rein ist?
Wichtig sind also die „Flecken” im Leben. Sie sorgen für Kontur. Mein Gefühl: Im Alter gewinnt der Schmerz des Schönen an Gewicht. Früher konnte ich der Moldau tränenfrei gegenübertreten. Mit der Intensität des Schönen steigt der Grat der Verletzlichkeit und auch die Suche nach der eigenen Stimme wird intensiver.
KUNDE. Zum Künstlersein gehört immer auch der Abgrund.
Das ist ja der Ausgangsgedanke: dass es um Abgründe geht. Ich muss diese Abgründe nicht alle fünf Minuten wachrufen, aber sie stecken in mir und treiben mich an. Sie sind der wesentliche Treib- und Triebstoff.
KUNDE. Vielleicht ist es nicht der Abgrund selbst. Vielleicht ist es die Kenntnis vom Abgrund und damit verbunden die Hoffnung, dass es Wege gibt, ihm nicht zu erliegen, sondern durch das eigene Schaffen eine Art Balance über dem Abgrund zu schaffen – im Bewusstsein des Abgründigen, aber eben nicht im Ausgeliefertsein. Wer ausgeliefert ist, hat die Freiheit eingebüßt und kann keine Kunst mehr machen.
Wir reden da also von einem sehr schmalen Grat. Eigentlich ist es ein Paradox, das unauflösbar scheint. Der Augenblick der Lösung ist kurz. Er ist schnell verflogen. Fragt man Künstler nach ihrem wichtigsten Werk, lautet die Antwort ja meist, es sei dasjenige, an dem sie gerade arbeiten. Genau da liegt ja das Zentrum der momentanen Existenz- genau da liegt die Chance, eine Lösung zu finden oder sich ihr zu nähern.
KUNDE. Fertige Werke sind wie Dokumente eines abgeschlossenen Kampfes – eines Kampfes, der durch das Werk und mit dem Werk gewonnen wurde. Ansonsten würde das Werk ja nicht existieren. Das Werk, das dich gerade beschäftigt, ist ein unentschiedener – ein noch nicht entschiedener Kampf. Daher fordert es alle Kräfte und Anstrengungen und muss Mittelpunkt des Denkens, Fühlens und Schaffens sein. Das ist nur konsequent.
Wenn ich zurückblicke, wüsste ich – bezogen auf meine Texte und Stücke –, worauf ich verzichten könnte. Aber es gibt auch Werke, die in der Rückschau unglaublich wichtig sind, weil sie einen Weg dokumentieren. Darauf würde ich dann ungern verzichten. Manches ist vielleicht sogar besser, als das Stück, an dem ich gerade arbeite.
KUNDE. Das kann man erst am Ende wissen. Viele Künstler verbinden ja ihre Werkverzeichnisse erst mit einer ganz bestimmten Phase ihrer Entwicklung. Das Frühwerk zählt nicht. ,,Habe ich zwar gemacht, aber da habe ich noch nicht meine eigene Stimme gefunden“, sagen sie dann. Daher ist es immer spannend, sich anzusehen, was Künstler vor ihrem offiziellen Werkbeginn gemacht haben und wie es dann zu einer eigenen Stimme gekommen ist. Das ist bei Gerhard Richter nicht anders als bei Neo Rauch und vielen anderen. Da lassen sich in den Frühwerken viele Einflüsse sehen, aber eben nie die eine Stimme, die es später geworden ist.
Ich habe neulich ein paar alte Manuskripte von mir gefunden – noch mit Schreibmaschine getippt und dachte: Ich schreibe die jetzt ab. Ich habe dann das Experiment abgebrochen, weil ich mich in diesem Teil meines Lebens nicht mehr zuhause fühlen konnte. Es wirkte alles irgendwie fremd. Ich hätte eingreifen wollen in die Gedanken, aber das hätte zu nichts geführt als zur kompletten Änderung. Trotzdem habe ich es nicht fertiggebracht, die Sachen einfach zu entsorgen. Ich kam mir vor wie bei der Besichtigung eines teilfremden Menschen. Jemand, der – um bei dem Bild zu bleiben – auf der Suche nach der eigenen Stimme ist und glaubt, sie gefunden zu haben. Aus der Jetztsicht zeigt sich dann: Es war noch nichts gefunden. Trotzdem steckt eine Bedeutung darin, denn es handelt sich ja um einen notwendigen Schritt auf einem notwendigen Weg.
KUNDE. Hätte man das Werk nicht geschaffen, hätte keine Entwicklung stattgefunden. Viele Menschen haben ja einen Grundhorror, wenn sie an Umzug denken. Man schleppt ja immer alles mit – von den ersten Heften bis zum letzten Röchler. Ein Aspekt ist allerdings noch wichtig. Ich lese gerade ein Buch von Johan Huizinga*, bei dem es darum geht, dass der Tod im Spätmittelalter eine zentrale Bedeutung hatte – sowohl in der bildenden Kunst als auch in den höfischen Spielen und der Kleidung. Damals wurde auch der Totentanz erfunden und dieser ‚Danse Macabre‘ war fast eine Modeerscheinung. Es gab da diese Hoffnung, es möge
irgendwo einen Punkt geben, an dem alle gleich sind. Egal, ob König oder Bettler – der Tod wird dich holen. Da kann man heute fragen: Stimmt das denn wirklich? Natürlich ist jeder sterblich, aber die Komfort-Zonen bis dahin sind eben doch höchst unterschiedlich. Ob du im Luxus scheidest oder im Elend verröchelst – das macht ja schon einen Unterschied … [* Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters; Kröner 1965]
der aber doch damals ebenso vorhanden war ..
KUNDE. Sind dann also doch nicht alle gleich vor dem großen Gleichmacher – vor dem Schnitter Tod?
Von außen betrachtet mag das so sein. Natürlich sieht es von außen anders aus, wenn der eine in einem Slum in Kalkutta verreckt und der andere in einer Klinik in Dubai stirbt. Aber dem, der da im Luxus auf die letzte Reise geht, wird das auch nicht wirklich weiter helfen.
KUNDE. Das Ende ist dann tatsächlich für alle gleich, wenn man nicht gläubig ist. Das haben wir noch gar nicht mit in Betracht gezogen. Es gibt ja Religionen, die sagen, dass das Ende nicht das Ende ist. Aber die Vorstellung von Ewigkeit und Unsterblichkeit hat ja auch etwas Gruseliges. Für mich ist es ein menschlicher und herzerwärmender Gedanke, dass das Ganze auch mal beendet ist.
Stell dir vor, du würdest tatsächlich 160 Jahre alt und alle, mit denen du angefangen hast, sind nicht mehr da – du stehst wie eine vergessene Pflanze auf einem längst abgeernteten Feld in einem Leben, das längst einen ganz anderen Rhythmus angeschlagen hat … das wäre eher Strafe als Glück. Das Bild mit der Pflanze, die auf dem abgeernteten Feld stehen geblieben ist, stammt aus einem amerikanischen Spielfilm über das Leben von Mark Twain. Twain sagt diesen Satz. Die Beschreibung der Einsamkeit des Überlebenden.
KUNDE. Die Variante ist ja noch die, bei vollem Bewusstsein alt zu werden und die Veränderung wahrzunehmen. Aber da ist ja auch die Möglichkeit der Demenz: Du verlierst die Kontrolle über dein Leben, weil du dein Leben bei lebendigem Leib verlierst. Eine gruselige Vorstellung, das eigene Leben zu vergessen – nichts mehr zu haben. Alle Bedeutungen zu verlieren. Du legst dein Leben ab und bleibst als Hülle zurück. Das gehört zum Furchtbarsten, was ich mir vorzustellen in der Lage
bin.