Vielleicht ist das der Satz, der es am besten beschreibt. Ein Schweizer hat ihn gesagt – Daniel Fontana heißt er, genannt Duex: „Ist es dir nicht groß genug, geh‘ näher ran.“ Stefan Reichmann liebt diesen Satz und man kann nachvollziehen, warum das so ist. Das Haldern Pop steht vor der Tür: Start ist am Donnerstag, 8. August.
Ist es dir nicht groß genug, geh‘ näher ran. Haldern Pop ist ein großes kleines Festival – kein Vergleich mit den Mega-Events, aber: „Es geht nicht um Vergleiche“, sagt Stefan Reichmann, „es geht um Identitäten und die Magie der Augenblicke.“ Es geht um Flüchtigkeiten und darum, das Verklingen auszuhalten. Wer mit Reichmann spricht, muss darauf gefasst sein, sich dem Grundsätzlichen zu stellen. Natürlich: Bei einem Festival geht es um Musik, aber alles Hörbare ist am Ende Ergebnis einer Auswahl, die das Ergebnis einer Idee ist, die das Ergebnis einer Fragestellung ist. Reichmanns Credo: „Wir machen Angebote.“ BWL-ler würden den Paten zitieren und von Angeboten sprechen, die man (also das Publikum) nicht ablehnen kann. Natürlich: Mann kann Hausaufgaben machen: sich durch‘s Line-Up surfen auf der Suche nach den großen Namen. Natürlich kann es nicht schaden, sich kundig zu machen.
Das Angebot ist schwindelmachend vielfältig und – vielseitig. Haldern Pop ist ein Markenname, der (vielleicht gewollt?) einen Ticken in die Irre führt. „Cantus Domus“ besipielsweise gehört zu den festen Größen: Ein Chor aus Berlin, der beim Festival auch schon eine Bach-Kantate aufführte. Wer Cantus Domus hören möchte, muss sich zeitig in die Schlange stellen. Die Konzerte sind in der Regel bis auf den letzten Platz gefüllt. Oder: Michael Wollny wäre einer, den man eher beim Jazz einordnen würde – Jazz mit Tendenzen zur Avantgarde. Aber: Was sagt das schon? Alles Einordnen ist nur der Beginn der Denkfaulheit. Da ist die Schublade – da steckt man‘s rein und beendet die Suche nach dem eigenen Standpunkt. Stefan Reichmann bringt gern das Beispiel mit dem Paternoster. Der Paternoster ist ein Aufzugsmodell aus frühen Tagen. „Heute haben viele Leute Angst, in so einen Aufzug zu steigen: Es gibt ja keinen Knopf, auf den du drücken kannst – keine Tür, die sich schließt und dich am Ziel wieder ausspuckt.“ Der Paternoster ist eine Art Gegenentwurf zum Versicherungswahn der Gegenwart. Beim Haldern Pop ist jeder Besucher ein Geigerzähler. Das wäre das Ideal: Sich nur auf den eigenen Mann im Ohr zu verlassen. Ein Experiment des Vielfältigen starten. (Ist es nicht groß genug, geh näher ran.)
Kann man denn auch über Musik schreiben? Reichmann: „Auf jeden Fall.“ Jetzt tritt ein Augenleuchten auf den Plan. „Fontaines D. C. – das wird das Konzert.“ Das zweite „das“ sieht man fett gedruckt vorbeischweben. „Freitag, 22.30 Uhr auf der Hauptbühne: Geh hin! Wir unterhalten uns danach.“
Irgendwie ist das der richtige Ansatz: Danach drüber reden. „Mitteilsamkeit“ – auch eines der Reichmann-Worte. Schon ist man wieder beim Denken angekommen. „Orte haben ihr Geheimnis. Wir versuchen hier, einen Ort offener Herzlichkeit anzubieten“, sagt Reichmann. Das Festival: über die Jahre gewachsen und dabei klein geblieben. (Ist es dir nicht groß genug, geh‘ näher ran.)
„Das Haldern Pop ist ein Kunstwerk“, sagt Reichmann und fügt hinzu: „Wir kennen den Künstler nicht, aber wir kennen den Zeitpunkt.“ Man setzt zur Interpretation an: Haldern Pop – das ist die Mischung. Natürlich ist das kein Alleinstellungsmerkmal, aber man denkt, dass es nicht viele Festivals gibt, die eine derart radikale Mischung anbieten. Radikal – das kommt aus dem Lateinischen: radix, die Wurzel. Haldern Pop ist – ja vielleicht gibt es das – eine Wurzelbehandlung mit Spaßfaktor. Es geht nicht bierernst zu – dafür wird auch Chilly Gonzales sorgen. Gonzales ist auch einer von denen, die für jeden Spaß offen sind, aber sein musikalisches Denken ist (siehe oben) auch irgendwie radikal. Das Festival ist – suchte man ein Bild – irgendwie eine große Klammer, die vieles einschließt. Haldern Pop ist ein Festival, auf das man sich einlassen sollte – eines, das Offenheit einfordert. Natürlich kann nicht jedem alles gefallen. Haldern Pop ist ein Jahrmarkt – aber keiner, bei dem es um Eitelkeiten geht. Eine Frage allerdings stellt sich in jedem Jahr: Gummistiefel oder Sandalen?
Die gute Nachricht: Es gibt noch Karten. Ein Erlebnis ist das Festival allemal. Und „Arte“ reist eigens für Fontaines D. C. an den Niederrhein. Noch ist Zeit, sich durchs Line-Up zu hören. Es gilt: Ohren und Hirn offen halten.‘
Am Ende fragt man sich, warum Menschen Konzertkarten kaufen. Oft genug geht es heute – nicht nur in der Musik – nicht mehr ums Eigentliche. „Verkauft“ werden die Geschichten im Umfeld. Dazu kommt: Mit dem größer und unüberschaubarer werdenden Angebot ist längst der Hilflosigkeitsfaktor angestiegen. Sicherheit liegt darin, sich mit dem anzufreunden, was alle gut finden. Fehlerquellenreduktion. Und das, was alle/viele gut finden, ist am Ende wieder eine „gute“ Geschichte, die das Eigentliche ersetzt. Vielleicht ist es an der Zeit, die Lupe im eigenen Hirn zu nutzen. Jeder ist sein eigener Influencer. Aber: eine eigene Meinung braucht Mut und Haltung. Ist es dir nicht groß genug, geh‘ näher ran …