Das hier könnte eine einfache Sache sein, denkt man. Ein Bruder reißt der Schwester ein Büschel Haare aus, beißt ihrem Partner in den Finger und tritt – Monate später – auf das Auto des Mannes seiner Cousine ein. War‘s das? Nicht ganz. Hier ist von Bedeutung, was am Ende auf der Rechnung steht.
63-er
Es geht um die unbefristete Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt. Strafgesetzbuch, Paragraph 63: Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine […] erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
Träume
Der junge Mann, um den es geht, ist keine 40 Jahre alt. Schmächtigfreundlich betritt er – in Handfesseln und von Justizwachtmeistern geführt – den Gerichtssaal. Abzustreiten hat er nichts. Es geht um Erklärungen. Da sind diese schwarzen Träume. Zehn verschiedene waren es anfangs. Später 30. Sie verfolgen ihn seit Jahren. Man hat sie ihm eingesetzt. Es gibt kein Wie. Da sind sie: die Träume. Jahrelang hat ein gigantischer Mähdrescher ihn verfolgt: ein Monstrum mit Krallen ist mähdreschend hinter ihm her. Ein Mann mit gelbem Pullover taucht auf. Ein anderer Traum handelt von Schamaninnen. Eine davon opfert ihr Leben für den jungen Mann: damit er nicht sterben muss. Die Träume: angsteinflößend. Irgendwann traut der junge Mann sich nicht mehr nach draußen.
Die Flucht
Die Familie: Vater und Mutter haben sich getrennt. Die Schwester hat – eine zeitlang – die Betreuung übernommen. Irgendwann war sie überfordert. Seit dem Autovorfall – der spielte sich im September 2023 ab – ist der junge Mann geschlossen untergebracht. All das, sagt er, macht doch alles nur schlimmer. Das Festgehaltensein kann nicht die Lösung sein. Die Lösung: zurück auf den Hof des Vaters. Hier nicht angeklagte Vorfälle kommen zur Sprache – erzählt von der Schwester, der Cousine, dem Mann der Cousine. Der junge Mann hat – nicht nur einmal – den Vater angegriffen. Ihn verletzt. Der Vater flieht irgendwann blutend aus dem eigenen Haus. Borgt sich von den Nachbarn – es sind die Cousine und ihr Mann – ein Rad. Später wohnt der Vater im Auto. Ein anderer Vorfall: Mit einer Axt hat der junge Mann, geben wir ihm einen Namen – nennen wir ihn Robert – mit einer Axt also hat Robert das Klavier, auf dem der Vater oft und gern spielte, zertrümmert: ein Hieb auf die Tasten. Das Instrument bricht auseinander.
Angeschlagene
Zeugen marschieren auf – niemandem von ihnen würde man eine Belastungstendenz unterstellen. Niemand will Robert Schlechtes. Alle hier sind Angeschlagene. Verwundete. Allen ist Unsicherheit anzumerken. Angst. Sie wissen nichts von schwarzen Träumen, nichts von seitenlangen Texten, die Robert eingesagt werden. Längst hat er angefangen, die Träume – seine Träume – aufzuschreiben. „Würden Sie mir die Zettel zur Verfügung stellen?“, fragt eine Vorsitzende, die man von Anfang an für Ihre Umsicht bewundert. Da wird nicht über jemanden verhandelt, sondern mit ihm. Da schwingt in jeder Frage Respekt mit und eben jenes Maß an Ernsthaftigkeit, das auch dem scheinbar Absurden Platz einräumt. Als Roberts Schwester von dem Vorfall mit den Haaren erzählt, sieht man immer wieder, wie er die Hand hebt – ein bisschen wie in der Schule. „Wir klären Ihre Fragen im Anschluss. Ich glaube, das ist das Beste“, sagt die Vorsitzende und Robert fühlt sich angemessen wahrgenommen.
Medikamente allein sind keine Lösung
Was diese Vorsitzende an Bei-der-Sache-Sein zeigt, injiziert diesem eigentlich bürokratischen Tun eine Zugewandtheit, die – das ist deutlich zu spüren – Robert in seiner Einsamkeit nicht allein lässt. Die Schwester und ihr Lebensgefährte treten hier nicht als Gegner auf. Sie sind – wie Robert auch – Hilflose. Dann die Aussage des Mannes der Cousine: Ein Baum von einem Kerl, der von Minute eins an klar macht, dass er den Robert mag. Der Zeuge spricht mit einem englischen Akzent, der irgendwie an Chris Howland erinnert und alles Gesagte sympatisch anstreicht. Der Mann der Cousine: Einer, der sehr genau einzufangen in der Lage ist, worum es geht: „Medikamente“, sagt er, „sind nicht die einzige Lösung. Robert braucht Therapie.“ Als der Engländer eines Samstagmorgens zum Heckeschneiden antritt, kommt es zu einem Eklat: Robert fühlt sich gestört. Da ist das Geräusch der Schere. Robert brüllt den Engländer an. Ist aggressiv. „Der war am Ende“, sagt der Zeuge, der sich hinter einem Auto versteckt, auf das Robert dann eintritt. Sachschaden: 3.500 Euro. Aber was ist schon ein Sachschaden? „Wissen Sie, wenn der zurück auf den Hof kommt, wird so etwas wieder passieren und ich fürchte, dann wird einer von uns im Krankenhaus landen“, sagt der Engländer. Er und seine Familie sind direkte Nachbarn des Hofes, auf dem Robert und sein Vater leben. Sekunden später denkt man, dass „leben“ vielleicht das falsche Wort ist. Da finden zwei Existenzen statt. Irgendwie im Unheil verstrickt.
Ein Vater
Der Tag arbeitet sich voran. Dann: Roberts Vater, ein Mann von 76 Jahren. Ein paar Minuten lang schafft er es, die Ruhe zu bewahren. Dann der erste Ausbruch: Brüllendweinend. Da schreit einer auf die Vorsitzende ein, als würde sie ihn sonst nicht verstehen. Die Handlungen seines Sohnes, so der Vater: Hilferufe eines Einsamen. Man denkt: Da zeichnet der Vater das große Selbstportrait am Ende der Beherrschung – am Ende der eigenen Hilflosigkeit – am Ende all seiner Möglichkeiten. Eine unglaubliche Hoffnungslosigkeit legt sich über den Saal – geschöpft aus Hilflosigkeit. Gefüllt mit nichts als bodenloser Aggression. Er wird, sagt der Vater, den Sohn mit nachhause nehmen am Ende des Tages und wenn nicht … Alles gebrüllt: Jede Silbe separat betont. Längst fragt man sich: Wer ist krank?
Ein wachsamer Mensch
Die letzte Zeugin des Tages: Ein Mensch, den man klonen sollte. Ein wachsamer Mensch. Ein Mensch mit Fragen. Die Frau hat bei der Polizei gearbeitet. Ist jetzt im Ruhestand. Hatte eigentlich mit dem Fall nichts zu tun. Aber davon gehört. Sich gefragt: Was wird passieren, wenn nichts passiert? Sie ist eine von den Unscheinbaren, ohne die die Welt zerbrechen würde. Sie ist eine, die nicht nach dem Was-geht-mich-das-an-Prinzip handelt, sondern sich um das Wohl der Welt sorgt, das auch aus dem Wohl Roberts besteht (das ist ein elementarer Gedanke!). Sie wirkt wie ein Teilchenbeschleuniger der gefühlten Zuständigkeit und durch ihre wenigen Worte schimmern das Schreienbrüllen und die Haltlosigkeiten des Vaters, die nichts sind als fehlgegangene Vatersorgen – verwandelt in eine taubstumpfe Ohnmacht.
Gefahr für sich und die anderen
Dann der Gutachter. Da ist nichts zu beschönigen. Robert bei den Taten: ohne Steuerungsfähigkeit. Da lebt einer in seiner Welt, in seinem Wahn, seinen Halluzinationen. Wieder hebt Robert wie in der Schule die Hand. Die Richterin lässt ihn durch. „Ich höre keine Stimmen“, sagt Robert, „und wenn ich mit mir selber spreche, will ich nur Dinge erklären.“ Längst kämpft man gegen die eigenen Tränen. Längst ist dieser Tag zu einem schwarzen Traum geworden, an dessen Ende – man muss kein Prophet sein – sich die Unterbringung für Robert fortsetzen wird. Der Staat als Fürsorger. Vorsorger. Schutzschild.
Hoffnung
Man schleicht ins Wochenende – möchte sich in einen dicken Panzer hüllen, der das Vatergeschrei nicht durchlässt. Man möchte Mitleid mit allen hier haben und denkt an Martin Walser: „Geteiltes Leid ist doppeltes Leid.” Alle hier sind Verlierer. Alle hier bewohnen einen Abgrund. Alle hier wollen nur das Beste. Man hätte, sagt der Gutachter, Robert viel früher helfen müssen. Die Rede ist von einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Man sieht Robert dasitzen und seinem Verteidiger zuhören: Noch ein Hilfloser, der die Entscheidung über die Unterbringung ins Ermessen des Gerichts stellt. „Ich habe keinen Spielraum“, sagt er und wieder sieht man einen Hilf- und Hoffnungslosen. Es muss jemand etwas unternehmen gegen Roberts schwarze Träume. Gegen das Ausgeliefertsein. Gegen die Ohnmacht. Robert muss Hilfe zulassen. Das, denkt man, ist die einzige Chance. „Gibt es Hoffnung?“, fragt einer der Richter den Gutachter. „Es gibt immer Hoffnung. Davon leben wir.“ Ein letztes Mal schwirrt ein schwarzer Traum durch den Tag – landet im Kopf des Berichterstatters und fragtflüstert: „Was stirbt zuletzt?“