Schreibkraft
Heiner Frost

Gewohnheit hat kein Gedächtnis

Lassen wir doch gleich einmal die Luft raus. Viereinviertelstunden Verhandlung und am Ende ein Freispruch. Reicht das? Vielleicht nicht. Vielleicht wäre zu berichten über Werwannwiewowarum. Sei‘s drum.

Ein schwerer Vorwurf

Ein Polizist ist angeklagt. Der Vorwurf: Körperverletzung im Amt. Die Sache liegt mehr als einen Lidschlag zurück. Reise zum 27. Februar 2022. Um 1.23 Uhr in der Früh erhält ein Streifenwagen einen Einsatzbefehl. Da randaliert jemand vor einem Lokal: Le Journal. Gegen zwei Uhr – vielleicht auch später – wird der Jemand auf der Wache eingeliefert: Ingewahrsamnahme. Zwei konkrete Dinge in einem Meer aus Vergessen. Die Gewohnheit hat kein Gedächtnis. Erst beim Besonderen hakt sie ein. Aber was ist besonders? „Für uns war das ein Einsatz wie viele“, sagt der Angeklagte. Randale am Wochenende … Man wird, erfährt man, beleidigt, angespuckt und angegangen.

Zwei Faustschläge

Der Vorwurf gegen den jungen Mann, der in Zivil neben seinem Verteidiger sitzt: Er soll dem Randalierer, als der schon – mit Handschellen gefesselt – im Streifenwagen saß, zwei Faustschläge ins Gesicht verpasst haben. Zuvor sollen gegenseitige Beleidigungen ausgesprochen worden sein. „Für dich Schwein mussten wir ausrücken“ – das soll von einem der drei Beamten gesagt worden sein und der Randalierer – er hat Klage gegen den Polizisten eingereicht – soll mit einem (vielleicht mehrfach geäußerten) „Du Hurensohn!“ reagiert haben. Dann die Schläge polizeilicherseits. Ein schwerer Vorwurf – schwer genug anscheinend, um die Maschinerie der Anklage in Gang zu setzen.

Klage vom Angeklagten

Der Angeklagte seinerseits hatte – wegen aktiven Widerstandes gegen Polizeibeamte – Klage gegen den jetzigen Kläger eingereicht. Der war am 22. Februar 2022 – schwer alkoholisiert – zusammen mit seinem Bruder und seinem Neffen „auf Tour“ gewesen. Zielstation: Le Journal. Der Randalierer – nennen wir ihn O. – wird vom Türsteher abgewiesen und bricht – jawasdenneigentlich? – vom Zaum. Er will hinein. Wird nicht gelassen, Ein Gerangel entsteht. O. liegt irgendwann am Boden. Der Wirt ruft die Polizei. Herr A. und seine Kollegin treten auf den Plan. Ab jetzt beginnt – auf beiden Seiten – das undurchdringliche Dickicht des Erinnerns. O., denkt man, sollte den Abend rekonstruieren können. Man wird nicht täglich von einem Beamten ins Gesicht geschlagen. Dann die bitter Erkenntnis: Nicht nur die Gewohnheit hat kein Gedächtnis – auch der Rausch greift das Erinnern an.

„Mach dich aus dem Staub.”

O.s Bruder soll A. geraten haben, sich aus dem Staub zu machen, bevor die Polizei anrückt. Das sagt O. Sein Bruder hingegen will von diesem Ratschlag nichts mehr wissen. Auch A., der Polizist, weiß nicht mehr viel. Man habe, sagt er – und die Kollegin stimmt zu – O. an der Stadthalle gestellt; habe ihn gebeten, sich auszuweisen. O. habe sich geweigert und habe A. mit beiden Händen von sich weggestoßen. (Körperverletzung zum Nachteil des A. also.)
Die Sache endet auf der Wache. O. wird in Gewahrsam genommen, nachdem man ihm – so seine Behauptung und die seiner beiden „Mitreisenden“ des Abends – zwei Faustschläge ins Gesicht verpasst habe. (Körperverletzung zum Nachteil von O. in diesem Fall.)

Fast reumütig

O. zeigt sich im Zeugenstand fast reumütig. „Ich hätte niemals Anzeige erstattet, wenn die [er meint die Polizei] mich nicht angeklagt hätten. Erst als er wegen der Anklage gegen sich eine Aussage bei der Polizei habe machen müssen, habe er die Geschichte von den Faustschlägen erzählt.
Am Morgen, nachdem man O. aus dem Gewahrsam entließ, ging er, der in Kleve aufwuchs und damals in Duisburg wohnte, zu seiner Mutter, um sich auszuschlafen. Von dem Vorfall habe er, sagt O., der Mutter gegenüber keine detaillierte Schilderung abgegeben. Am nächsten Tag – O. ist zurück in Duisburg – geht es ins Krankenhaus. Er hat Schmerzen – vor allem im Rücken und am Auge.

Angriff in der Altstadt

Vom Arzt nach dem Grund für die Schmerzen befragt, sagt O., er sei am Tag zuvor in der Düsseldorfer Altstadt angegriffen worden. „Ich habe mich geschämt. Wollte nicht sagen, was wirklich passiert ist.“ Da steht sie: die Fragezeichenmaschine. „Ich hätte den nie angezeigt, wenn der mich nicht angezeigt hätte“, sagt O. und man denkt: Irgendwie komisch ist das schon.
Und dann denkt man: Dass sich A. und seine Kollegen allesamt nicht an Wesentliches erinnern, ist doch auch eigenartig. Aber da ist der Satz: Die Gewohntheit kennt kein Erinnern, wenn das Erleben nicht auszackt und besonders wird. Alle Beamten reden von einem Einsatz, wie er jedes Wochenende stattfindet. Woran sollen sie sich erinnern.

Das geht aber gar nicht …

Dann geht es darum, wer zu welchem Zeitpunkt wo gestanden und was gehört hat. A. sagt, es gehöre zur Einsatztaktik, dass ein mit Handschellen im Streifenwagen Sitzender immer hinter dem Beifahrer platziert wird. O. ist „nicht mehr sicher“, ob er nun hinter dem Fahrer- oder hinter dem Beifahrersitz gesessen hat. Er vermutet …. Das geht aber gar nicht. Der Verteidiger möchte nichts von Vermutungen hören. Es geht um die Fakten. Wenn die Polizisten Vermutungen anstellen, bleibt er bei Fuß. „Keine Fragen.“

„Nein, erst Tage später.”

Man taumelt längst irritiert durch diesen Vorgang – kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass O., sein Bruder und der Neffe bisweilen auch ins Straucheln geraten. „Ihr Bruder wird geschlagen und auf die Wache mitgenommen. Wann haben Sie mit ihm über den Vorfall gesprochen? Gleich am nächsten Tag?“ „Nein. Erst Tage später.“ Komisch ist das schon, wenn man sich vorstellt, dem eigenen Bruder sei Ähnliches widerfahren. O.s Bruder will Tage später ein „dickes, blaues Auge“ gesehen haben. Der Arzt im Krankenhaus hat nichts dergleichen dokumentiert. In erster Linie habe O. über Handgelenksschmerzen und Schmerzen im Lendenwirbelbereich geklagt. Wieder denkt man: Komisch ist das schon.

„Das sollten wir schaffen.”

Längst dauert die Verhandlung viel länger als geplant. Die Richterin verhängt zehn Minuten Pause. Als sie zurückkommt, erzählt sie, sie habe Blumen für die Hochzeit bestellen müssen. „Standesamt?“, fragt der Staatsanwalt. „Ja.“ „Wann?“ „Elf Uhr.“ „Das sollten wir schaffen.“
Längst ist man in den Falten und Versionen verlorengegangen. Die beiden Brüder und der Neffe sind abgezogen. Die Polizisten sagen aus. Auch hier: Erinnerungslücken. Klar: Ist lange her das alles. Im eigenen Kopf sind längst genügend Zweifel gewachsen. Wäre man der Ankläger – man würde einen Freispruch fordern. „Vieles von dem, was wir heute von den Zeugen gehört haben [der Staatsanwalt meint den Bruder und den Neffen widerspricht der Denk- und Lebenswirklichkeit.“ [Check.] „Es gibt nichts, das sich objektiv feststellen ließe.“ [Check.] So sieht es auch der Verteidiger. Er hat hart gekämpft – hat dem Bruder und dem Neffen die Wirklichkeit zu einer kleinen Hölle gemacht. Man möchte nicht in seinen Fragenhagel geraten.

„Wir stellen die Fragen. Sie antworten.”

„Es ist ja vor Gericht so: Die Menschen in den schwarzen Roben stellen die Fragen und Sie antworten“, erklärt er A., der auf manche der Verteidigerfragen mit Gegenfragen antwortet. „Und wenn ich Sie etwas frage, überlegen Sie sich die Antwort, bevor sie etwas sagen. Was Sie tun: Sie antworten. Ich frage: Sie bessern nach. Das ist gar nicht gut.“
Alles, denkt man, steuert hier einem Freispruch entgegen. Allerdings hat man auch schon erlebt, dass Verteidigung und Staatsanwaltschaft Freispruch fordern und der Richter es dann doch anders sieht. In diesem Fall allerdings sieht es die Vorsitzende auch so: Es gibt nichts zu verurteilen.

„Ich bin froh, dass es vorbei ist.”

Der Angeklagte hatte in seinem letzten Wort gesagt: „Ich bin froh, dass es jetzt vorbei ist.“ Dass man so etwas erleben müsse … Nun – man kann antworten: Es hat da auch schon andere Fälle gegeben. A. würde, hat man den Eindruck, lieber in den Innendienst wechseln. Nicht noch einmal so etwas. Und noch eines: Künftig wird A. die Bodycam einschalten bei einem solchen Einsatz. Die Sitzung ist beendet. Die Vorsitzende wird es rechtzeitig aufs Standesamt schaffen. Man wünscht alles Gute.