Martina Iland hat eingeladen: kleine Party. 30 Leute. Kaffee, Kuchen. Die Gäste kommen aus vielen Ecken der Republik. Es gibt Sachen, die können sein und solche, die sein müssen. Martinas Feier ist eine Muss-Sache: ein Treffen unter ganz besonderen Bedingungen …
Schon bald
Die Party: Eine Abschiedsparty, aber Martina zieht nicht in eine andere Stadt – sie geht auch nicht ins Ausland. Ihre Reise geht weiter: Martina wird sterben. Vermutlich schon bald.
Aber jetzt ist da dieses Strahlen: Das ist die Vorfreude. Martina hat sich diese Party gewünscht – schon seit der Zeit im Krankenhaus in Wesel: „Da ist der Plan entstanden.“ Einmal noch der große Bahnhof.
Die Welt: ein schräger Ort.
Was danach kommt? Nicht mehr viel. „Ich bin jetzt 60“, sagt Martina. „Der Abschied wird mir nicht schwer fallen.“ Die Welt, sagt sie, sei längst ein schräger Ort geworden. „Ich bin froh, dass ich nicht 20 bin. Mit 20 habe ich Angst vor dem Tod gehabt. Jetzt nicht mehr. Ich habe alles erreicht. Ich bin willensstark und was ich wollte, habe ich immer bekommen.“
„Ein bisschen Spaß muss sein.”
Da sitzt sie im Rollstuhl in ihrem Zimmer im Hospiz: ein glücklicher Mensch. Irgendwie. „Ich hatte Brustkrebs. Dann Hautkrebs. Und jetzt ist mein ganzer Körper voll mit Metastasen.“ Martina bekommt Morphium. „Ich habe keine Schmerzen“, sagt sie. Gerade war sie draußen – zum Rauchen. „Ein bisschen Spaß muss sein.“ Sie hat ihr Leben bei jeder Diagnose umgebaut. Jetzt ist es genug.
Hubschrauberlandeplatz
Dann zeigt Martina auf die kleine Terrasse vor ihrem Zimmer. „Mein Hubschrauberlandeplatz“, sagt sie und schaltet Lichterketten ein. „Das solltest du mal abends sehen, wenn da hinten die Sonne untergeht.“
Tagelang stand der Termin mit Martina fest: Sie hatte angerufen und gebeten, dass jemand was schreibt über ihre Abschiedsparty. Tagelang hat man den Kopf voll gehabt mit dieser diffusen Erwartung. Tagelang hatte man sich überlegt, wie man dem Tod begegnet … und dann sitzt da Martina und schwärmt vom Sonnenuntergang und ihrem Hubschrauberlandeplatz mit Lichterketten.
Zwölf Gäste
Neben ihr: Carmen Aldenhoven-Jenster, die stellvertretende Pflegedienstleiterin. Sie hat zuerst einmal durchs Haus geführt. Schon die Begrüßung: ein Strahlen, das alle Trübnis wegradiert.
Zwölf „Gäste“, 27 Angestellte – dazu Ehrenamtliche. Das ist das Hospiz Donsbrüggen. Martina sagt: „Genau der richtige Ort für mich. Alles passt und du glaubst nicht, wie gut es mir hier geht.“ Nein – hätte ich nicht geglaubt. Aber jetzt erleb ich’s. Muss nichts glauben. Es ist ja da. Apropos Glauben: Nicht Martinas Ding. Nie gewesen. Der Tod: ein Ende ohne ein Danach?
Blaumann
„Ich werde im Blaumann verbrannt“, sagt sie und Carmen Aldenhoven-Jenster sagt: „Das müssen wir jetzt erklären. Wenn einer unserer Gäste stirbt, dann lassen wir es uns nicht nehmen, ihn zu waschen und vorzubereiten. Im Vorfeld haben wir dann den ‚Last Dress‘ besprochen. Das ist ein letzter Abschiedsdienst. Das ist uns wichtig.“
Martinas ‚Last-Dress-Wunsch: im Blaumann verbrannt zu werden. Und danach? Es gibt keine Angehörigen. Martinas Bestattung wird ein Fall für das Ordnungsamt. „Weißt du was: Ich wollte meinen Körper der Forschung spenden. Keine Chance. Die haben für zwei Jahre genug.“ Martina – so viel scheint sicher – wird so lange nicht warten können.
Am Meer
„Du musst keinen Trauertext schreiben“, sagt sie, die in Essen Straßenbahnfahrerin war und 16 Jahre in Tunesien gelebt hat. Was sie dort gemacht hat? „Augensex mit dem Meer“, sagt Martina. Übersetzung: Da gesessen und aufs Meer geschaut. Und wovon gelebt? „Wenn man keine großen Ansprüche stellt, ist das Leben nicht teuer“, sagt Martina.
Es ging ihr nicht gut in der letzten Zeit. Jetzt, da der Termin für die Party fest steht: ein Energieschub. Ein letztes Ziel. Die Freude darauf, die Freunde zu treffen – sie umarmen zu können: zu reden. „Was dann kommt, werden wir sehen“, sagt Martina und fragt: „Kommst du zur Party?“ „Leider nicht. Da ist ein anderer Termin, den ich nicht absagen kann. Leider.“
Aber gar nicht
Dann die Frage: „Haben du was gegen ein Foto?“ „Aber gar nicht. Sag einfach, wie du mich haben willst. Mit Mütze? Ohne Mütze? Mit Perücke?“ „Das entscheidest du.“ „Also dann: mit Mütze und draußen.“ (Der Hubschrauberlandeplatz.)
Während wir dasitzen und reden, wird klar, dass der Tod ein Teil des Lebens ist – nichts, das man ausklammern oder auslagern sollte. Man hatte das ganze Vokabular des Trauerns in Stellung gebracht und jetzt sitzen da Martina und Carmen und irgendwie strahlt alles.
Ohne Gewicht
Irgendwie haben alle dunklen Gedanken ihr Gewicht verloren. Irgendwie ist das hier ein Ort, an dem das Normale seine Bedeutung geändert hat. Was bleibt, ist diese unglaubliche Freundlichkeit. Das hier ist ein unglaublicher Ort des Positiven. „Ich komme vorbei, wenn der Text fertig ist“, sage ich. „Das ist schön“, sagt Martina. Wenn Martina endgültig abgereist ist, wird gleich im Eingangsbereich eine Kerze brennen und Martinas Name wird auf einem Kieselstein stehen und in einem der Gläser liegen – neben den anderen Steinen: Erinnerungen.
Natürlich bleibt etwas.
Natürlich bleibt etwas, denke ich. Wenn die Trauer verklungen ist, nimmt die Erinnerung ihren Platz ein. Erinnerung ist ein Bild im Kopf. Es ist das Bild der Menschen, die gegangen sind. Wenn die Erinnerung verblasst, verschwindet mit ihr der Mensch. Erinnerung ist das Band, das uns mit den verbindet. Erinnerung ist der Klang des Menschseins. Erinnerung ist ein Denkmal in der Seele.
Wiedersehen mit Martina
Whatsapp-Nachricht von Martina: „Du wolltest doch noch mal zu Besuch kommen.“ Stimmt, denke ich. Und dann denke ich: Die lebt noch. Es ist der Wahnsinn. „Wie wär‘s morgen um 14.15 Uhr?“ „Passt. Freu mich.“
Neulich
Ein Rückblick: Martina hat eingeladen: kleine Party. 30 Leute. Kaffee, Kuchen. Es gibt Sachen, die können sein und solche, die sein müssen. Martinas Feier ist eine Muss-Sache: ein Treffen unter ganz besonderen Bedingungen …Die Party: Eine Abschiedsparty, aber Martina zieht nicht in eine andere Stadt – sie geht auch nicht ins Ausland. Ihre Reise geht weiter: Martina wird sterben. Vermutlich schon bald. (Das war vor mehr als vier Wochen.) Martina war im Fernsehen – sie wurde im Sozius spazierengefahren … und … lebt noch. Und wie.
Jetzt
Hospiz Donsbrüggen: Martina sitzt mit ein paar Frauen draußen am Tisch: Hoodie, dunkle Sonnenbrille, Fläschchen Bier, Zigarette. „Hättze nicht gedacht, oder?“, lacht sie. „Nee, hätt ich nicht gedacht.“ „Ich muss dir was erzählen“, sagt Martina. Was sie erzählt, handelt von allem, was sich getan hat in den letzten Wochen – nach der Abschiedsparty.
„Ich habe jetzt Follower“, sagt Martina. 16.000 sind es. Und dann wären da noch … „Ist nicht wahr?“ „Doch, ist wahr.“
Da sitzt mir also eine Totgesagte gegenüber und strahlt vor Energie. Martina ist eine, die den ganzen Laden in Schwung hält. Dass „der Laden“ ein Hospiz ist, hat man schnell vergessen. „Demnächst werden sie für dich Vergnügungssteuer zahlen müssen“, sage ich. „Kann passieren“, sagt Martina.
Demnächst
Und: „Ich habe ein neues Ziel: Demnächst habe ich Geburtstag.“ „Wann ist demnächst?“, frage ich. „5. Juli. Trag dir das mal ein. Es gibt Freibier und Würstchen.“ „Im Ernst?“ „Jo. Echt.“ Da sitzt Martina, auf deren Leben kaum noch jemand gesetzt hätte. Krebs im Endstadium. Dann kam das Fernsehen. Presse kam auch. Geschichten über eine, die – irgendwie den Tod vor Augen – das Leben feiert. Dann: die Follower. Martina als eine, die Eindruck hinterließ. „Freut mich, dass es dir wieder besser geht“, sagt sie und ich denke: War ja nur eine Erkältung. Stimme weg. Und sie sitzt da: Alleinunterhalterin. Wenn sie erzählt, wird positive Energie frei. Es darfkannsollmuss gelacht werden.
Mindestens ein Lächeln
„Weißt du“, sagt sie – und für einen Moment kehrt ein Hauch von Trauer ein – „weißt du: Seit ich hier bin, sind einige gegangen. Eine junge Frau– keine 40.“ Wenn Martina „gegangen“ sagt, ist „gestorben“ gemeint. Das muss ich mir immer wieder klar machen. „Das hier ist meine Familie“, sagt Martina. Menschen, die sich auf ihre Abreise vorbereiten und andere, die ihnen zur Seite stehen. Die Währung an diesem Ort: Mindestens ein Lächeln.
Das hier, denke ich, ist doch eigentlich ein Ort des Abschieds. Und dann sitzt da Martina und genießt es, dass Menschen sie zur Kenntnis genommen haben. Das erzeugt Auftrieb, denke ich. Da ist plötzlich eine Kraft, die niemand auf dem Zettel hatte. Wahrscheinlich nicht mal Martina selber. Am Tisch: Martinas Nachbarin von früher. Sie hat Martina im Fernsehen gesehen und Kontakt aufgenommen. Ein Gast aus der Vergangenheit.
Ich zeig’s dir
Martina schaut mich an, lacht: „Soll ich dir was sagen? Ach was – komm mal her: Ich zeig‘s dir.“ Und dann das kleine Wunder: Martina, die beim letzten Mal, als ich sie sah, kaum etwas allein tun konnte, steht aus dem Rollstuhl auf. „Hättest du nicht gedacht, was?“ Nein, hätte ich nicht gedacht. Echt nicht.“ „Ich kann auch ein bisschen mit dem Rollator rumfahren. Und allein aufs Klo.“ So klingen Erfolgsmeldungen, denke ich. „Lass dich mal umarmen“, sagt sie und breitet die Arme aus …
„Du wirst den Blaumann noch nicht brauchen“, sage ich. Als ich Martina zuletzt besuchte, erzählte sie von ihrem letzten Wunsch. Der letzte Dress: Ein Blaumann. In den Hosentaschen: Maiskörner. „Ich will’s am Ende noch mal richtig krachen lassen.” Jetzt aber geht es um Grillwürstchen und Geburtstag. Niemand weiß, ob Martina es bis zum 5. Juli schaffen wird. Irgendwie spielt das auch keine Rolle. Es dauert, so lange es dauert. „Du kommst wieder, oder?“ „Klar.“
Bis neulich
Martina, die Frau aus dem Fernsehen. Die Frau, die ihre Freunde zur Abschiedsparty einlud. („Noch mal richtig feiern.“) Martina, die sich jetzt über ihre Follower freut und die Anteilnahme und Wärme, die ihr entgegenschlagen. Quatsch: Schlagen ist das falsche Wort. Entgegenströmen – das ist besser. Martina, denke ich, dreht den Tod auf links. Sie schwätzt dem Sensenmann noch ein Kotelett an die Backe. Jetzt müsste noch jemand kommen und ein Drehbuch schreiben. Martina – der Film. Selten so wenig traurig gewesen wie in dieser Gegenwart. „Dann bis neulich“, sage ich. „Freu mich“, sagt Martina und beim Weggehen wird gelacht an ihrem Tisch. Schlückchen Bier und ab damit …
Die Vorgeschichte
Wieder mal einer dieser „Aufträge”: „Du, da hat jemand angerufen – aus einem Hospiz. Es geht um eine Geschichte. Kannst du dich kümmern?” Man ruft an – flaues Gefühl im Magen und erfährt: Da ist diese Frau, die eine Abschiedsparty feiern möchte. Sie wird in Kürze sterben und jetzt möchte sie Freunde und Bekannte einladen. („Kannst du dich kümmern?”)
Besuch im Hospiz. Irgendwie reist man sprachlos an und trifft … Martina. Urplötzlich wird klar: Das hier wird keine Geschichte über das Sterben. Es geht ums Leben. Um Martina. Um einen letzten Willen der anderen Art. Martina möchte im Blaumann ins Krematorium. Sie sollen ihr Maiskörner in die Hosentaschen stecken. „Ich will`s am Ende noch mal krachen lassen”, sagt sie. Es entstehen: zwei Geschichten eines zu erwartenden Abschieds.
Zwischen und nach den Geschichten: Martina schreibt Whatsapp-Nachrichten. Gegen Ende, als ihre Finger nicht mehr mitmachen: Sprachnachrichten. Dann, an einem Montag, die Nachricht von einer Freundin Martinas. „Sie ist heute friedlich eingeschlafen.” Ich hatte hingehen wollen. Am Ende hab‘ ich mich nicht getraut …
Whatsapp-Nachricht von Martina: „Du wolltest doch noch mal zu Besuch kommen.“ Stimmt, denke ich. Und dann denke ich: Die lebt noch. Es ist der Wahnsinn. „Wie wär‘s morgen um 14.15 Uhr?“ „Passt. Freu mich.”
P.S. Martina ist im August gegangen. Ich habe sie nicht mehr besucht.