Schreibkraft
Heiner Frost

Seelennebel

„Euer Ehren, hohes Gericht: Ich stehe vor Ihnen in voller Demut.“ Irgendwas stimmt hier nicht, denkt man und dann kommt man drauf: Der Angeklagte spricht sitzend …

Es ist schwer ruhig zu bleiben, wenn es geht, worum es geht. Da missbraucht einer seine Töchter. Was vorgetragen wird, will man nicht hören. Aber man muss ja wissen, warum der Angeklagte sitzt, wo er sitzt. Dass einer sich anhören muss, was ihm vorgeworfen wird, dass die Anklage öffentlich verlesen wird, ist Teil des Prozesses, dessen Zeuge man wird. Die Anklage: ein Marterpfahl. Für die Opfer zuallererst – aber sie sind (noch) nicht da, für die Beobachter und – so scheint es – auch für den Angeklagten. Er senkt den Kopf, schrumpft auf seinem Platz. Später wird er sagen, dass sich alles so zugetragen hat, wie seine Töchter es berichtet haben. Er wird ein „leider“ dazusetzen. Er wird – nach seiner Geschichte befragt – von einer düsteren Kindheit erzählen; von einem herrschsüchtigen Vater, den er und die Geschwister irgendwann angezeigt hätten, wenn dessen Frau – die Mutter des Angeklagten also – nicht gedroht hätte, sich etwas anzutun. Das Leben des Angeklagten begann in einer Pflegefamilie – dann der Sturz in die Tyrannei des eigenen Vaters. Deutschland zuerst, dann die Türkei – Fremdkörper jedes Mal. Die Frauen in seinem Leben: Möbelstücke irgendwie. Menschen, die ihn betrogen, verrieten.

Selbstauskunft

40 Minuten dauert die Selbstauskunft eines Mannes, der nie werden wollte wie sein Vater – der alles anders, besser machen wollte und schließlich beim Gegenteil angekommen ist: bei einer Kopie des zu Vermeidenden.
Der Angeklagte sagt nicht einfach aus – er gestaltet, was zu erzählen ist, mit einem spürbaren Geschick für das Dramatische, für die Bögen, die eine Erzählung braucht, um sich mit Drama aufzupumpen. Da inszeniert einer sich und die Wirklichkeit, deren erstes Opfer er war.
Ist man selbst schon dabei, einem anderen Unrecht zu tun? Soll man nicht hier sitzen und Zeugnis geben – unvoreingenommen und ohne Ansehen der Person? Ein Schöffe hat eingangs seinen Eid geleistet.

Ein Eid

„Ich gelobe, die Pflichten eines ehrenamtlichen Richters getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, getreu der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und getreu dem Gesetz zu erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.“
Die Aufgabe von Berichterstattung schlägt eine fast synchrone Richtung ein. Und trotzdem: Da sind die Taten, da ist der Angeklagte, der alles zugibt und aus einer Unglück gebärenden Vergangenheit den Weg ins Leben eingeschlagen hat, aber da sind auch die Winkelzüge eines Bereuenden. Die Frau, mit der er verheiratet war und drei Kinder zeugte, hat in seiner Aufarbeitung des Geschehenen keinen Namen mehr. „Kindesmutter“ nennt er sie. Immer wieder. Das klingt fast gegenständlich – eine distanzierte Funktionsbeschreibung. Ein Mensch wird zur Sache. Der Scheinwerferkegel des Lebens ist auf andere ausgerichtet. Er zeigt den Angeklagten. Er bereut. Er leidet. Die Kindesmutter: Sie hat ihn angezeigt. Sie hat ihn verraten. Sie ist das Abseits seines Lebens.

Alles kursiv

Ja – da ist einer, der Empathie mit seinen Kindern zum Ausdruck bringen möchte – einer, der zwischendurch auch in die Tränen findet, zu einem irgendwie abgemagerten Weinen, aber auch einer, der sich alles, was da passiert ist – ihm vor allem und nicht den anderen – nicht erklären kann.
Er hat also recherchiert zum Thema Pädophilie und ist dabei auf Kinderpornografisches gestoßen. Ständig möchte man sein „Recherchieren“ kursiv setzen oder in Gänsefüße. „Das finden Sie aber nicht bei Wikipedia“, wendet der Vorsitzende Richter ein und meint das bei den Recherchen aufgetauchte Material.

Zurückschrecken

Kanndarfsoll man glauben, dass sich da einer Hilfe suchen wollte aus einer Ausweglosigkeit? Man möchte es glauben – glauben, dass Hoffnung ist, dass Einsicht kam. Dann spürt man das eigene innerliche Zurückschrecken und hört, dass der Mann auf der Anklagebank mit seiner älteren Tochter (mit ihr begann alles) oft wochenlang nicht sprach, wenn sie ihm nicht zu Willen war. Gewalt, denkt man, muss sich nicht in Prügel äußern. Ein Kind zu ignorieren – das ist Seelenmarter der besonders schäbigen Art. Nein – Zeit heilt keine Wunden. Wenn es ein Beispiel gibt, ist es der Angeklagte. Schläge in die Seele zerstören nicht selten mehr als solche, die den Körper treffen. Längst ist man zum Grenzgänger geworden, der in vermintem Terrain umherirrt. Was ist Schuld? Was Reue? Was Spiel? Was Ernst? Ein Nebel legt sich auf die Seele.

Aus dem Pressespiegel

„Strafverhandlung gegen einen 46-Jährigen wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener und sexuellen Missbrauchs von Kindern in etwa 275 Fällen, zwei davon in Form eines schweren Missbrauchs sowie wegen Herstellung und Besitz kinderpornographischer Schriften […]. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in dem Zeitraum von Februar 2014 bis Mai 2019 seine im Februar 2008 geborene Tochter in mindestens 273 Fällen sexuell missbraucht haben, in zwei Fällen in Form des besonders schweren sexuellen Missbrauchs. Von einem Tathergang soll der Angeklagte zudem ein Video hergestellt haben. Darüber hinaus soll er im Mai 2017 seine andere – zum damaligen Zeitpunkt sechsjährige – Tochter zweimal sexuell missbraucht haben.
Darüber hinaus sollen auf dem Laptop des Angeklagten, im Rahmen der Sicherstellung im Mai 2019, 21 Bilder und fünf Videos kinderpornographischen sowie drei Bilder jugendpornographischen Inhalts gespeichert gewesen sein.“

Aufgeklärt

Nun also ist es raus. Details helfen nicht weiter. „Euer Ehren, hohes Gericht: Ich stehe vor Ihnen in voller Demut.“ Der Angeklagte hat, nachdem ‚die Kindesmutter‘ Anzeige erstattete, einen Suizidversuch unternommen: sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Polizei kam zur rechten Zeit. Es gab eine Ankündigung. Da hat einer keinen Ausweg aus dem Elend gefunden? „Was wäre denn“, fragt der Vorsitzende an anderer Stelle, „wenn Ihre Frau nicht Anzeige erstattet hätte?“ „Dann säße ich jetzt nicht hier.“

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Der da Hilfe suchte – in Foren und bei Psychologen –, hat irgendwann, sagt er, die Tochter aufgeklärt; hat ihr gesagt, dass Grenzen überschritten würden; dass nicht getan werden dürfe, was getan wurde. Die Folge: das regelmäßige Tun wurde unterbrochen – für ein paar Monate vielleicht – und ging dann weiter. Was bringt es, denkt man, einem Kind zu erklären, dass nicht sein darf, was da passiert? Immer muss das Leben als Erklärung herhalten: Er habe nicht in Therapie gekonnt. Er habe ja die Verantwortung für das Leben der Kinder gehabt. Irgendwie wirkt all das halbherzig. Irgendwie denkt man trotzdem, dass man gerade dabei ist, einem Menschen Unrecht zu tun. Man ist Berichterstatter, nicht Richter, obwohl doch das Zweite im Ersten untergeht.
Am ersten Verhandlungstag wird die Videobefragung einer der beiden Töchter im Gerichtssaal abgespielt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Vielleicht, deutet der Vorsitzende an, muss man den Kinder eine Aussage nicht mehr zumuten. Zwei Gutachter werden zu Wort kommen. Noch steht nicht fest, ob, was sie zu sagen haben, an die Öffentlichkeit gelangen wird.
Man denkt an Dürrenmatt: „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Und: „Das Recht des einzelnen besteht darin, er selbst zu sein. Das nennen wird Freiheit.“ Gerichtigkeit, denkt man, ist ein Vermittlungsversuch zwischen Recht und Gerechtigkeit. „Euer Ehren, hohes Gericht: Ich stehe vor Ihnen in voller Demut.“ Irgendetwas stimmt nicht …

Der zweite Tag

Ungebremst

Ein Happy End würde es nicht geben. Man wusste das. Von Anfang an. Auch Berichten ist Richten. Gibt es Gerechtigkeit? Vielleicht nein. Ein Vater missbraucht seine Tochter. Sie ist die Erstgeborene. Sie ist die Prinzessin. Sie ist seine große Liebe. Ein schönes Wort: Liebe. Jetzt ist es ausgekugelt. Verrenkt liegt es da. Die Prinzessin bleibt nicht allein. Zwei weitere Kinder folgen: ein Sohn, eine Tochter. Auch die zweite Tochter wird der Vater in Anspruch nehmen.

Irgendwann glaubst du, dass du verrückt bist

Am Ende wird sie ihn – eigentlich hat sie das nicht gewollt – verraten: an die Mutter. Die hatte immer ein schlechtes Gefühl. Nachzuweisen war nie etwas. „Irgendwann glaubst du, dass du verrückt bist.” Eines Tages steht die Jüngste im Bad. Sie schaut ihren nackten Bruder in der Wanne an. Dann der Satz, der die Welt aus den Angeln hebt. „Der von Papa ist aber größer”, sagt das Kind und in der Mutter bestätigen sich alle Ängste. Sie spinnt nicht. Ist nicht verrückt. Alles, was sie insgeheim befürchtete, wird Gewissheit. Nimmt Gestalt an. Es ist die Gestalt des Vaters. Sie ruft die Polizei. Ihr Mann wird abgeführt. Am nächsten Tag lassen sie ihn frei.

Der Welt abhanden gekommen

Da sitzt eine Frau auf dem Zeugenstuhl, für die nichts mehr ist, wie es einmal war. Man denkt an Mahler. Die Rückert-Lieder als innerer Soundtrack: „Ich bin der Welt abhanden gekommen.” Mit der Geburt der Kinder fand kaum noch statt, was man „Vollzug der Ehe” nennt. Es wächst ein Keil zwischen Mutter und Tochter. Da ist ein Sohn, der vom Vater geachtet werden möchte und irgendwie nicht stattfindet in dessen Leben. Ja – der Vater hat sich um die Familie gekümmert. Irgendwie hat es an nichts gefehlt. Aber wenn einer keine Liebe hat, erfriert die Welt. Plötzlich haben die Kinder keinen Vater mehr. „Kann der sich nicht einfach entschuldigen und alles ist wieder gut?”, fragte die Kleinste. Justiz funktioniert so nicht.

Alles muss raus

Da sitzt eine Frau auf dem Zeugenstuhl und sagt: „Niemals hat ihn jemand so geliebt wie ich.” Aber es ist alles zerstört. Nein – da sitzt kein Rache-Engel. Da sitzt eine, die ihre Kinder wirklich liebt; jedes Opfer bringt. Sie beschreibt eine graue Welt. Man spürt trotzdem keine Härte an ihr. Sie ist gekommen, um etwas zu Ende zu bringen. Eine Geschichte zu erzählen. Alles muss raus. Zuvor hat ihre älteste Tochter ausgesagt. Man ist freiwillig aus dem Saal gegangen.

Der Vorsitzende fasst anschließend zusammen, was das Kind ausgesagt hat. Der Angeklagte – er ist zurück im Saal – sagt: „Ich nehme alles an.”

Implosionen

Die Mutter: Sie flickt die Welt zusammen – rettet, was sich retten lässt. Die Kinder brauchen Therapie. Alle. Wenn die Zeit reif ist. Taten wie diese sind Implosionen ohne Knall. Leises Verlöschen. Gut, dass da eine sitzt, die Worte findet, zu beschreiben, was geschehen ist. Es gibt kein Happy End. Es bleibt ein Krater. Niemand kann auf den Grund sehen. Am Ende spricht der Angeklagte in Richtung der Frau, die er nur Kindsmutter nennt: „Gott schütze dich und die Kinder”, sagt er und man selber implodiert in Sprachlosigkeit.

Traurig übertönt

Der Gutachter stellt fest: Das Leben dessen, den er begutachtet hat, ist „traurig übertönt”. Die Sexualanamnese: schwierig. Einsicht- und Steuerungsfähigkeiten des Angeklagten waren nicht eingeschränkt. Da wusste einer, was er tut. Pädophilie? Ja. Da sitzt einer, der die Schuld externalisiert: Es sind die anderen; es sind die Umstände; es ist die Vergangenheit. Das hat man oft erlebt. Wer Schuld nur außerhalb der eigenen Existenz sucht, kann kaum zu sich finden. Wieder denkt man, dass auch das Leben des Angeklagten irgendwann implodiert sein muss. Er wollte nicht das Muster wiederholen, das ihn zerstört hat. Er hat ein anderes erschaffen. Vielleicht hat er es für Liebe gehalten. Er hätte wissen müssen, dass man nicht tut, was er getan hat. Er hat nicht angehalten in seinem Tun. Hat keine Bremse gefunden. Kaum jemand kann anhalten, wenn er längst verfallen ist. Es geht sehenden Auges dem Abgrund entgegen. Das Urteil: Sechs Jahre.

Am Ende

Wohin kann einer gelangen in sechs Jahren? Wenn die im Knast ihn als Vater entlarven, der seine Kinder missbraucht hat, ist die unterste aller denkbaren Stufen vorbehalten. Er wird niemanden finden, auf den er noch herabschauen könnte. Unter ihm: ein Nichts. Über ihm: andere Täter – höher in der Hierarchie. Am Ende wird einer den Knast verlassen, der kaum jemanden mehr hat in seinem Leben. Er wird seine Schuld abgebüßt haben. Er wird einen Weg finden. Vielleicht. Niemand weiß, was aus den Wunden derer wird, die seine Familie waren. Sie können ihr Leben nicht verlassen. Es gibt kein Happy End. Das Gericht hat seine Arbeit getan. Gerechtigkeit wohnt an einem anderen Ort.

Post an Frost