Irgendwie hatte man den Spruch falsch abgespeichert: Nicht für die Schule – für das Leben lernen wir. Dabei hat Seneca gesagt: Nicht für das Leben – für die Schule lernen wir. Wenn einer von seinem Nachhilfelehrer missbraucht wird, spielt es am Ende auch keine Rolle, was Seneca gesagt, gedacht oder geschrieben hat.
Die Taten
„Mittwoch, 15. Juli, 9.30 Uhr,
7. große Strafkammer (Jugendkammer) Landgericht Kleve. Strafverhandlung gegen einen 41-Jährigen aus Kleve wegen Nötigung in 16 Fällen, sexuellen Missbrauchs in 13 Fällen, davon in zwei Fällen in besonders schwerer Form, sowie wegen des Besitzes von kinderpornografischen Schriften in einem Fall. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in der Zeit von September 2018 bis April 2019 als Nachhilfelehrer des im Tatzeitraum Geschädigten 11-Jährigen gearbeitet und im Zuge dessen die vorgeworfenen Taten begangen haben.“
Die Wirkung des Gestehens
Das Procedere bei der 7. großen Strafkammer: Angeklagte werden stets sehr eindringlich darüber informiert, dass – sollte die Vorwürfe der Anklage stimmen – ein Geständnis in jedem Fall positive Auswirkungen haben würde. Der Fall – erfährt man vom Vorsitzenden – stand bereits im Mai zur Verhandlung an (und war im März wegen des Corona-Lockdowns verschoben worden). Die Mai-Verhandlung allerdings musste abgebrochen werden, weil ein Gutachter nicht zum Termin erschien. („Ein Fehler der Gerichts“, hört man den Vorsitzenden sagen.)
Auch wenn wir uns kennen
Man hört ihn auch – fast geht der Satz unter – etwas sagen wie: „Auch wenn wir uns kennen …“ Was ist gemeint? Spricht der Vorsitzende vom „ersten Anlauf“ der Verhandlung (im Mai)? Irgendwie klingt es anders. Irgendwie fühlt sich da etwas komisch an. Eine Bewährungsstrafe im Fall eines Geständnisses – das könnte das Ziel sein. Versprochen werden kann (natürlich)nichts. „Sie werden das mit Ihrem Verteidiger besprochen haben“, sagt der Vorsitzende. „Wie möchten Sie es halten?“ Der Verteidiger greift ein, spricht von einem gesundheitlich angeschlagenen Mandanten. Er, der Verteidiger, wird eine Erklärung abgeben. Die Fälle 1 bis 13 werden eingeräumt. Vorher hatte der Vorsitzende noch gesagt, ein Geständnis werde das Verfahren weder verkürzen noch dem Opfer eine Aussage ersparen. Zur Person sagt der Angeklagte aus. Ruhig. Besonnen.
Eine Drohung
Im Verlauf der Verhandlung zeigt sich, dass da ein Junge von seinem Nachhilfelehrer missbraucht worden ist. Lange schwieg der Junge – er schwieg so lange, bis die Eltern ihm sagten, er müsse nach dem Familienurlaub in Litauen für ein Wochenende zu seinem Nachhilfelehrer – Übernachtung inklusive. Im Angesicht dessen, was dem Jungen als Drohung erscheinen muss, rückt er mit einer Geschichte heraus, von der die Mutter sagt, sie habe das zunächst nicht glauben können. So wird es oft sein, denkt man.
Die Unglücksmühle
Man schaut auf den Angeklagten: Ein irgendwie netter Kerl. So wirkt der, über den man erfährt, dass er nicht nur Nachhilfeunterricht gab sondern auch Jugendmannschaften trainierte. Da sitzt einer auf der Anklagebank, dem man alles Vorgeworfene irgendwie nicht zutrauen würde. Eben da, denkt man, liegt dieser fatale Mechanismus, die Unglücksmühle, die Taten wie diese erst ermöglicht – Taten, die das Grundvertrauen zerstören, weil sie aus dem Nichts zu kommen scheinen und auf der Grenzlinie zwischen Bekanntheit, Vertrautheit, Respekt, Angst und der traurigen Erwartung, dass niemand einem glauben wird, in ein Kinderleben einbrechen. Alles hat man erlebt. Die Phalanx der Missbraucher – wir wissen das längst – wird überall dort aktiv, wo man Kinder gut aufgehoben glaubt. Die Leistungen des Jungen, so der Vater in seiner Aussage, hätten sich durch den Nachhilfeunterricht zunächst verbessert. Dann ein Stagnieren.
Nicht zu klären
Der Nachhilfelehrer – der Unterricht fand immer im Haus des Jungen statt – „bat“ seinen Schüler des öfteren auf die Gästetoilette. Was genau dort passiert ist, sagt der Junge unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Ausziehen habe er sich sollen, erfährt man durch die Aussagen der Eltern. Den Lehrer anfassen habe er nicht müssen – wohl aber von diesem Geld angeboten bekommen: 30 Euro fürs Ausziehen, 20 für das Herzeigen des Geschlechtsteils. Ob der Angeklagte seinen Finger in den Anus des Jungen oder nur zwischen dessen Pobacken gesteckt habe – ungeklärt.
… pro reo
Eine Gutachterin stuft die Aussage des Jungen als glaubwürdig ein. Trotzdem: Die Frage, wo der Angeklagte am Ende mit seinem Finger „gelandet“ ist, lässt sich nicht klären. Also fallen die zwei „besonders schweren Fälle“ heraus. Sie lassen sich nicht schlüssig nachweisen. In dubio …
Bewährungszeit: Drei Jahre
Der Angeklagte hat – bis auf die besonders schweren Fälle – gestanden. Am Ende verurteilt ihn die Kammer zu einer Bewährungsstrafe: Zwei Jahre wegen sexuellen Missbrauchs in Tateinheit mit Nötigung in zehn Fällen; Besitz von Kinderpornografie. Die Bewährungszeit: drei Jahre. Zahlung von 5.400 Euro. Kontaktverbot zu Kindern, eine Sexualtherapie. Das hatte man – bei dieser Kammer – schon anders erlebt. Natürlich sollte sich ein Geständnis strafmildernd auswirken, aber es muss ein in intaktes Verhältnis zwischen Bestrafung und „Belohnung“ herrschen, weil sonst am Ende das Geständnis mehr wiegt als die (geleugneten) Taten. Vielleicht ist der Weg des Gestehens ein erster Weg der Einsicht. Wer kann das sagen? Man möchte nicht am Richtertisch sitzen – so viel ist sicher, aber man darf als Teil des Volkes, in dessen Namen geurteilt wird, eine Meinung haben.