Schreibkraft
Heiner Frost

Biedermann als Brandstifter, II

Ein spannender Film, heißt es, sollte mit einer Explosion beginnen und sich dann langsam steigern. Vor Gericht wird nicht jeder Film zum Thriller und nicht alles beginnt mit einer Explosion: Aber manchmal brennt es.

Die Rede ist von einem Brand-Ereignis in Uedem am 29. Dezember 2019, an dessen Ende 120 Millionen Euro Schaden standen; ein Ereignis, in dessen Verlauf 340 Einsatzkräfte aufgefahren wurden.

War er’s?

Zweiter Verhandlungstag: Zwölf Zeugen, ein Gutachter. Für einen Film hätte dieser Tag sicherlich nicht getaugt, aber: Aber vor Gericht geht es nicht um Knalleffekte – es geht um präzises Abarbeiten von Fragen, deren Ziel es ist, mögliche Abläufe zu rekonstruieren. Natürlich lautet die Frage: War er‘s oder war er‘s nicht? Die Antwort des zweiten Tages – eine neue Frage: Wer soll das wissen?

Warum?

Da steckt einer seine Firma an – so die Arbeitshypothese – und es gilt, das Motiv zu finden. Wie wär’s denn mit Rache? Ein ehemaliger Mitarbeiter – er sitzt auf der Anklagebank und in Untersuchungshaft – hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeitssicherheit in seiner Abteilung zu verbessern. Glaubt man einigen Zeugen, glich sein Unternehmen einem Kreuzzug. Wahnhaft soll Herr M. sich benommen haben: Fotos hat er gemacht, Videos (mit dem Smartphone) gedreht und sie dem Geschäftsführer gezeigt. Das Ergebnis: M. macht sich unbeliebt bei den Kollegen. Er wird gemobbt. Wird krank. Dann: Herzinfarkt. Er wird gekündigt, zieht vor Gericht: gewinnt.

Wenn ihr so weiter macht …

Bei einer Betriebsversammlung meldet sich M. unter „Verschiedenes“ zu Wort: „Wenn ihr so weiter macht, seid ihr bald alle tot“, soll er gesagt haben und so viel ist sicher: Man sollte solche Sätze vielleicht besser nicht sagen. Sie können zum Mühlstein am eigenen Hals werden. Später geht es um die Frage, warum er „alle“ gesagt hat. Vielleicht war er aufgebracht. Was soll er denn sagen? Vielleicht: „Sterben werden die Kollegen soundo sowie die Kolleginnen soundso aus der Abteilung soundso.“

Berechtigt?

M. – ein nicht mehr geachteter Kollege, der irgendwie allen auf den Geist geht mit seinem Sicherheitsfimmel. Der zweite Verhandlungstag: Acht Stunden und ein bisschen. Endlose Befragungen. Mancher im Saal erliegt einem Minutenschlaf. Dann, irgendwo mittendrin, fragt die Verteidigung eine Zeugin: „War das, was der Angeklagte moniert hat, Ihrer Ansicht nach berechtigt?“ Und die Zeugin sagt: „Ja. Das war es.“ Okay, denkt man. Dann sagt ein weiterer Mitarbeiter: „Ja. Das war berechtigt.“ Aber: Er hätte es anders sagen sollen. Laut Vernehmungsprotokoll soll das Wort „wahnhaft“ gefallen sein. Das Wort „wahnhaft“, sagt der Zeuge, habe er ganz bestimmt nicht benutzt. Ja denkt man: Dieses Wort passt nicht in die Sprachfarbe dieses Zeugen. Er sagt, die Art und Weise, in der M. sich um das Thema Sicherheit gekümmert habe, sei sehr intensiv gewesen. Jetzt passen Mann und Worte zusammen.

Trotzdem steht „wahnhaft“ im Protokoll und natürlich fragt man sich, ob das nur ein anderes Wort für „sehr intensiv“ ist oder schon eine richtunggebende Umdeutung vorliegt. Es geht um Nuancen und es ist ein Unterschied, on einer von wahnhaftem Verhalten spricht oder von einem „sehr intensiven Umgang“ mit einem Thema. Das Wort „wahnhaft“ ist eine Interpretation. Die aber hätte in einem Protokoll nichts verloren. Das Wort „wahnhaft“ passt nicht zu diesem Zeugen. Später wird es von einem weiteren Zeugen verwendet. Bei dem passt es.

Regeln und Regeln

Sicherheit allerdings – auch das wird an diesem Tag klar – lässt sich wohl unterschiedlich interpretieren. Bei Regeln ist es nicht anders. Der Staatsanwalt gewährt Einblicke ins Private. „Es gibt Regeln und Regeln“, sagt er. „Die einen befolgt man“ ….

… und die anderen?

„Meine Steuererklärung zum Beispiel: Natürlich soll sie zum Stichtag fertig sein, aber irgendwie schaffe ich es nie rechtzeitig.“ Man staunt. Es gibt halt Regeln und Regeln. So sieht es auch einer der Zeugen. „Natürlich“, sagt er, „läuft im Betrieb nicht immer alles streng nach den Regeln.“ Er wendet sich an den Richter: „Wenn ich Sie jetzt den ganzen Tag beobachten würde, ließe sich bestimmt feststellen, dass Sie die Abstandsregeln nicht immer eingehalten haben.“ Es gibt Regeln und Regeln. Zum Thema Sicherheit finden Schulungen statt. Am Ende, lernt man, unterschreiben die Beschulten. Da wundert es nicht, dass die Mehrheit von ihnen den Betrieb für sicher hält. Sie machen alles richtig. Natürlich. Dafür haben sie ja unterschrieben.

Wer sonst?

Zwischendurch fragt der Staatsanwalt immer mal wieder einen Zeugen, ob er sich denn jemand anderen vorstellen könne, der zu einer solchen Tat fähig sei. Keiner kann sich das vorstellen. Genauer: Niemand kann sich einen anderen vorstellen. Warum auch: Da sitzt doch der mutmaßliche Täter und macht die Frage zu einer rein rhetorischen. Dass M. es war, scheint für die meisten längst festzustehen. Irgendwie denkt man, wenn einer auf die Könnensiesichnochjemandanderenalstätervorstellen-Frage mit „Ja, klar“ antworten würde, müssten sie den Staatsanwalt wahrscheinlich künstlich beatmen.

Störfaktor

Zurück zu  Herrn M. Der macht sich also Gedanken um die Sicherheit und wird zum Störfaktor. Er spricht bei der Betriebsversammlung und „die Kollegen haben die Augen verdreht und sind gegangen“. Irgendwie schon ein schräges Bild. Aber: Passiert ist ja nie etwas. Nie hat es einen nennenswerten Unfall gegeben. Warum also hat M. irgendwann mit diesem Kreuzzug begonnen? Einer vom Betriebsrat sagt: „Ich bin natürlich kein Psychiater, aber das hatte schon etwas Wahnhaftes.“ Ja – zu diesem Zeugen passt es. M. hat noch einen Satz gesagt: „Ihr werdet euch alle noch umgucken.“ (Auch nicht so gut.)

Die Tür

Die längste Befragung des Tages dauert knapp 120 Minuten. Das ist eine Menge, wenn der Vorsitzende eigentlich davon ausgegangen war, „dass wir pro Zeugen 15 Minuten brauchen“. Es kann anders kommen. Eines der Tagesthemen: Eine Tür in Halle 13. Sie soll sich auch von außen haben öffnen lassen. Wer einmal drin war im Hallensystem der Firma, kam überall hin – nur in den Verwaltungstrakt nicht. Der ist gesichert. Wie genau? Das weiß man auch am Ende des zweiten Verhandlungstages nicht.

Schwarze Handschuhe

Eine Polizistin sagt aus: Ja, jemand von der Feuerwehr hat ihr einen Rucksack übergeben. Vorsitzender: „Waren da Handschuhe drin?“ Zeugin: „Ja.“ Vorsitzender: „Welche Farbe?“  Zeugin: „Schwarz.“ Die Handschuhe sind dann eher beige. Zeugen sind ein gefährliches Beweismittel.

Der zweite Verhandlungstag hat keine Sicherheiten gebracht. Nichts, worauf man wetten würde. Aber vor Gericht geht es nicht um Wetten. Urteile sind zu bedeutend. Begonnen hatte der Tag mit einem Sachverständigen in Sachen Umwelt. Das interessiert den Staatsanwalt. Wie gefährlich war es zum Beispiel für die Anwohner? Das lasse sich so einfach nicht sagen, sagt der Gutachter. „Da hätten sie schon jedem, der da war, ein Messgerät direkt neben den Mund halten müssen.“

Später sagt ein Nachbar aus. Er wohnt 80 Meter vom Brandort entfernt. Ja – abends hatte er ein Kratzen im Hals. Sonst nichts. Seine Frau hat er gleich ins Haus geschickt. Sie war hochschwanger. Er hätte sich gewünscht, dass die Feuerwehr gekommen wäre und ihn aufgeklärt hätte. Stattdessen hat ihn ein Feuerwehrmann von weitem angebrüllt. „Gehen Sie ins Haus.“ Kann passieren – in der Hektik eines Großeinsatzes. „Wir hätten uns gewünscht, dass jemand kommt und uns über die Situation aufklärt“, sagt der Zeuge.

Rauchschwaden

Die Verteidigung tut alles Nötige, um Zweifel zu etablieren. Das Unternehmen ist mehr oder weniger erfolgreich. Es liegen – bildlich gesprochen – Rauchschwaden über dem Saal. Wieder und wieder blickt man zu Herrn M., dem es bei mancher Aussage schwer zu fallen scheint, sich an die „Sagen-Sie-jetzt-nichts-Linie“ zu halten. (Nichts zu sagen scheint in einer Indizienschlacht das einzigprobate Mittel. M. jedenfalls wirkt nicht wie einer, der auf einem Kreuzzug ist. Aber was heißt das schon? Entspannt ist er natürlich auch nicht. Kein Wunder. 15 Jahre können Sie ihm mitgeben am Ende dieses Prozesses. Wenn er’s war, sollen sie ihn einbuchten.

Aber zündet einer, der sagt „ihr werdet alle sterben“ die Firma an, wenn niemand da ist? In einem Krimi würde jetzt irgendein Neuneinhalbmalkluger bemerken, dass ja genau hier die Pointe liegt. Geht natürlich auch.
Zwei Gutachten stehen noch aus. Man ist gespannt auf die psychiatrische Auswertung. „Ihr werdet euch alle noch umgucken.“ „Ihr werdet alle sterben.“ Das kann es ja nicht gewesen sein. Der Abend naht und der Staatsanwalt muss heim. Die Steuererklärung wartet.

Zugabe

Ein Rucksack

Vielleicht doch noch ein paar Gedanken. Das Hirn schaltet ja nicht ab, nur weil man den Gerichtssaal verlässt. Immer wieder ist und war die Rede von einem Rucksack. Er soll dem Angeklagten gehören. In dem Rucksack: Eine Mütze, ein Sweatshirt, (Arbeits-)Handschuhe, Einbruchswerkzeuge. Gefunden wurde der Rucksack im Verwaltungsgebäude – von Feuerwehrmännern. Die übergaben ihn der Polizei. Wenn man es am ersten Verhandlungstag richtig verstanden hat, wurden am Rucksack (oder an den anderen „Fundsachen“) DNA-Spuren gefunden, die sich dem Angeklagten zuordnen lassen. Na bitte. Aber ist es nicht klar, dass sich DNA-Spuren des Angeklagten an dem Rucksack befinden, wenn es sein Rucksack ist? Wie sieht es ansonsten mit DNA-Spuren aus? Fänden sie sich an den mit Brandbeschleuniger getränkten Lappen, die sich nicht entzündet haben, wäre das ein Indiz.

Ein Plan

Wer immer diesen Brand gelegt hat – auch das kommt immer wieder zur Sprache – muss einen dezidierten Plan gehabt haben. Zu strategisch: die Punkte, an denen Feuer gelegt wurde. Da muss jemand Ortskenntnisse gehabt haben und mit Akribie vorgegangen sein. Und dieser Jemand, der Tage, vielleicht auch Wochen, mit der Planung der Brandlegung zugebracht hat, lässt schließlich (s)einen Rucksack am Tatort zurück? Natürlich: Es passieren die dämlichsten Sachen. Es kann viele Gründe dafür geben, dass der Rucksack dann doch zurückgelassen wurde. Aber: Zumindest entsteht ein Widerhaken beim Nachdenken.

Wie man eine Sache sieht, hängt im wahrsten Sinne des Wortes vom eigenen Standpunkt ab. Die Staatsanwaltschaft muss immer und zu allererst zu einem Rundflug antreten: Ermittlungen in jede Richtung.

Ein Geschäftsführer

Was ist eigentlich mit dem im Unfrieden gegangenen Geschäftsführer, der am Rande erwähnt wurde? Hätte der nicht auch ein (Rache-)Motiv haben können? Niemand fragt danach. Niemand hat sich (zumindest bis zum jetzigen Punkt des Prozesses) damit befasst, ob der Mann für die Tatzeit ein Alibi vorzuweisen hätte. Vielleicht war er auf den Malediven. (Das müsste man gelten lassen.) Vielleicht hat ja längst jemand danach gefragt. Vielleicht ist die Antwort in den Ermittlungsakten zu finden. Der Mann wird ein Alibi haben – und also ist es redundant, das zur Sprache zu bringen. Und wäre er’s gewesen: Wie hätte er denn an den Rucksack des Angeklagten kommen sollen?

Ein Motiv?

Und wenn’s der Angeklagte und der Ex-Geschäftsführer dann doch nicht waren (kann ja passieren), dann würde es in der Tat schwierig, einen Täter ausfindig zu machen. Menschen, die dergleichen tun, brauchen – das jedenfalls nimmt man an – ein Motiv. Man steckt nicht einfach eine Firma an, weil gerade nichts Interessantes im Fernsehen läuft oder die Muckibude geschlossen hat.

Eine Vermutung

Die Verteidigung hat auch Fragen in Richtung der „Gesundheit“ des Betriebes gestellt. Niemand ist darauf eingegangen. Der Laden wurde verkauft. Die Banken haben Druck gemacht. Einer vom Betriebsrat soll gesagt haben, das alles sei für die Gesellschafter ein Totalverlust gewesen. Klingt auch nicht wirklich gut. Jetzt – heißt es über die Firma– sei man auf einem guten Weg.

Matula

Und schließlich sind da diesen beiden Herren, die seit Stunde Eins des Prozesses im Zuschauerraum sitzen. Irgendwie versucht man sie einzuordnen. Es sind – so viel steht fest – keine Kollegen von der schreibenden Zunft. Irgendwie drahtig kommen sie daher. Würde einer sagen, es seien Private Eyes – Matulas also – würde man sich nicht wundern. Vielleicht sind sie ja Versicherungsleute. „Die würdest du erkennen“, sagt eine Bekannte. Und sie sagt noch: „Als ich heute auf meinen Schreibtisch geschaut habe, hätte ich mir auch einen Brandstifter gewünscht.“ Vielleicht mal in diese Richtung ermitteln: Vielleicht gab es da jemanden in der Verwaltung, der …

Nein, das ist natürlich nicht witzig. Aber dass der M. es zweifelsfrei gewesen sein soll – das könnte man einem Außenstehenden nur schwer vermitteln. Andererseits … wenn man nur an den richtigen Stellen die Augen schlösse …

Kreuzzug

Und noch eins: Vielleicht macht sich, wer zu viel nachhakt, auch zu einem, den niemand leiden mag. Zweifel sind – denkt man – womöglich nicht erwünscht. Die Leute rollen dann mit den Augen. Regeln sind Regeln. Kreuzzüge sind Kreuzzüge. Es ist doch alles klar, oder? Es gibt einen Angeklagten.
Und – ja natürlich: Der M. kann es auch gewesen sein – er kann sich entwickelt haben von einem, dem etwas auffiel, zu einem, der nur noch eines sah – mit irgendwie verengtem Blick. „Das war alles total drüber“, hat einer seiner Kollegen gesagt. Man wünscht sich nur, nach dem Urteil keine Bauchschmerzen zu haben.

Der erste Verhandlungstag

Post an Frost