Schreibkraft
Heiner Frost

Biedermann als Brandstifter

Auf roten Teppichen wird man so empfangen: in Cannes, Berlin, Venedig – auf dem „Walk of Fame“. Wenn einem vorgeworfen wird, mithilfe von Benzin Brandstiftung betrieben zu haben, erwartet ihn der Walk of Shame. Kameras: Fernsehen, Presse – der ganz große Bahnhof.

120 Millionen

Am 29. Dezember 2019 hat es in Uedem gebrannt. Das klingt alltäglich, solange man keine Fakten beimischt: Rund 340 Einsatzkräfte waren mit dem Brand beschäftigt. Der Sachschaden, so wurde es während des 1. Verhandlungstages beziffert, liegt bei 120 Millionen Euro – aufzuteilen in 60 Millionen Euro Sachschaden und weitere 60 Millionen Folgekosten. Ein Pappenstiel ist etwas anderes.

„Von da an wurde ich gemobbt“

Dass einer so handelt, scheint nicht denkbar ohne eine Vorgeschichte. Der mutmaßliche Täter kam zunächst als Leiharbeiter zu der Uedemer Firma – bekam später einen Arbeitsvertrag. Das klingt gut … und es war gut, bis der Mann auf Lücken in der Arbeitssicherheit hinwies. „Von da an wurde ich gemobbt“, erzählt er dem Richter. „Die haben versucht, mich aus dem Arbeitsbereich fernzuhalten“, sagt der Angeklagte und: „Die haben mir völlig sinnlose Tätigkeiten gegeben.“ Er wird krank. Er geht in Kur. Er erleidet einen Herzinfarkt. Dazwischen: Stationen eines Kampfes. Abmahnungen, Kündigungen. Unter anderem wirft man ihm die Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Arbeitskollegen vor. Um der Geschäftsführung Sicherheitsmängel vor Augen zu führen, macht der Angeklagte Videos mit seinem Smartphone. Er zeigt sie dem Geschäftsführer. Der soll – erzählt der Angeklagte – entsetzt gewesen sein und gesagt haben: „Soll ich die alle entlassen?“ Die Geschäftsführung entscheidet anders und entlässt den, der jetzt angeklagt ist.

Drei Mal

Er zieht vors Arbeitsgericht und bekommt Recht. Drei Mal. Zur Sache will sich der Mann, so sagt es einer der beiden Verteidiger, „zunächst nicht einlassen“. Der Mann ist ein unbeschriebenes Blatt: Keine Schulden, keine Vorstrafen. Verheiratet ist er und hat einen Sohn. Biedermann als Brandstifter?

Der da auf der Anklagebank sitzt, wirkt nicht wie ein Racheengel. Gut – das muss nichts heißen. Man würde ihn gern seine Geschichte erzählen hören – die Geschichte des Tattages, aber da ist dieses Schweigegebot. Der Angeklagte wird das mit den Verteidigern erörtert haben. Manchmal wirkt er während einer Befragung, als würde er sich gern einschalten. Einmal sieht man, wie seine Verteidigerin einen Zeigefinger an ihre Lippen legt.

Kohlhaas

Die Verteidiger tun ihre Arbeit: Sie fragen immer wieder nach bei den Zeugen des ersten Tages. Bei jedem Detail haken sie nach. Wer die Akten nicht kennt, könnte auf die Idee kommen, dass ein Täter diese komplexe Tat nicht bewältigen konnte. Am Ende brannte ein Verwaltungsgebäude. Dazu noch – man kommt mit dem Zählen nicht nach – zehn Hallen (oder mehr). Das Gericht hat mehrere Gutachter bestellt. Ein Brandsachverständiger ist dabei. Auch ein Psychiater ist anwesend. Dazu ein Gutachter, der Auskunft über Umweltgefährdungen geben soll. Der Psychiater wird sich wohl, denkt man, mir der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt befassen. Ist da einer zum Kohlhaas geworden? Hat er das Unrecht in die eigene Hand genommen?

Ein Rucksack

Am Brandort – irgendwo im brennenden Verwaltungsgebäude – wurde beim Einsatz ein Rucksack entdeckt. Zwei Feuerwehrmänner haben ihn gefunden. Das Ding wurde der Polizei übergeben. Irgendwie wirkt die Rekonstruktion unscharf. Im Rucksack: Eine Mütze. Handschuhe. Ein Fleeceshirt. Werkzeug. Irgendwie hat niemand hineingesehen, aber irgendwie gibt es dann doch Lichtbilder vom Inhalt. Später vielleicht – im Lauf der kriminaltechnischen Untersuchungen. Die Verteidiger fragen ein Dickicht ab. Oder erzeugen sie es nur? Das lässt sich schwer entscheiden. Man weiß nicht, was sie wissen.

Leiser Verdacht

Diese Geschichte, denkt man, kann sich noch drehen. Den Angeklagten erwarten, wenn man ihn für schuldig befindet, bis zu 15 Jahre Haft. Wenn er’s war, ist das kein Problem, aber was, wenn er es nicht war? Wie ist man eigentlich auf ihn gekommen? Es hat, erfährt man im Verlauf einer Zeugenbefragung, Gespräche mit der Personalabteilung der Firma gegeben. Gesucht: (Ehemalige) Mitarbeiter – solche, mit denen es Ärger gab. Eine Polizistin erzählt, schon am Tattag sei „ein leiser Verdacht geäußert worden“ – ein Verdacht ohne Namensnennung. Ein Verdacht auch ohne Autorenangabe. Komisch irgendwie. Am Tag nach der Tat schält sich aus möglichen Verdächtigen der Angeklagte. Der Betriebsrat hat recherchiert und ist auf den Angeklagten gestoßen. ??? Jetzt wird ermittelt. Gegen ihn. Und – zunächst – auch gegen den Sohn. Beide werden verhaftet – der Sohn schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Hat es denn andere Ermittlungen gegeben? Zumindest erfährt man nichts davon. Dass die Verteidiger unablässig Fragen stellen, nervt den Staatsanwalt. Kleinkaliberbissigkeiten wechseln die Seiten. „Sie können den Zeugen noch zehn Mal dasselbe fragen. Er wird nichts anderes antworten.“ Oder: „Glauben Sie denn, dass die Zeugen vorher die Akten auswendig lernen, um hier zu antworten?“ „Herr Vorsitzender, vielleicht machen Sie dem Staatsanwalt klar, dass ich meine Frage stellen möchte.“

Tür zu

Nach der ersten Verhandlungspause stellt sich heraus, dass die hintere Tür zum Saal nicht wieder aufgeschlossen wurde. Mehr als eine Stunde war sie verschlossen. Der Verteidiger hat das bemerkt. „Was war da los?“, fragt er einen Justizwachtmeister, der einem Mann aus dem Zuschauerraum die Tür aufgeschlossen hat. Die Sache scheint Bedeutung zu haben. Vielleicht mal nachschlagen bei „Revisionsgründe“. Siehe da: Der Paragraph 338,6 der Strafprozessordnung gibt Antwort:

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind.

Es geht nicht darum, ob Öffentlichkeit anwesend ist – es geht darum, dass die Möglichkeit dazu jederzeit bestehen muss. Die hintere Tür zum Saal A 105 ist dem Publikum vorbehalten. Ist sie verschlossen, kommt das womöglich einem Ausschluss der Öffentlichkeit gleich. Der Beamte, der die Sache mit der Tür vergessen hatte, ist angenervt.

Am Ende des ersten Verhandlungstages schlagen die Verteidiger einen Termin am Tatort vor. Das könne hilfreich sein, meinen sie. Die Ermittler der Polizei konnten sich alles ansehen. „Wir haben von der Firma keine Erlaubnis erhalten, das Gelände zu betreten.“

Ungenauigkeiten

Der erste Verhandlungstag hinterlässt Fragen und offenbart „Unschärfen“ bei der Tataufarbeitung. Das Gericht hat drei weitere Termine, um den Sachverhalt zu klären.

II Zwölf Zeugen

Ein spannender Film, heißt es, sollte mit einer Explosion beginnen und sich dann langsam steigern. Vor Gericht wird nicht jeder Film zum Thriller und nicht alles beginnt mit einer Explosion: Aber manchmal brennt es.

Die Rede ist von einem Brand-Ereignis in Uedem am 29. Dezember 2019, an dessen Ende 120 Millionen Euro Schaden standen; ein Ereignis, in dessen Verlauf 340 Einsatzkräfte aufgefahren wurden.

War er’s?

Zweiter Verhandlungstag: Zwölf Zeugen, ein Gutachter. Für einen Film hätte dieser Tag sicherlich nicht getaugt, aber: Aber vor Gericht geht es nicht um Knalleffekte – es geht um präzises Abarbeiten von Fragen, deren Ziel es ist, mögliche Abläufe zu rekonstruieren. Natürlich lautet die Frage: War er‘s oder war er‘s nicht? Die Antwort des zweiten Tages – eine neue Frage: Wer soll das wissen?

Warum?

Da steckt einer seine Firma an – so die Arbeitshypothese – und es gilt, das Motiv zu finden. Wie wär’s denn mit Rache? Ein ehemaliger Mitarbeiter – er sitzt auf der Anklagebank und in Untersuchungshaft – hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeitssicherheit in seiner Abteilung zu verbessern. Glaubt man einigen Zeugen, glich sein Unternehmen einem Kreuzzug. Wahnhaft soll Herr M. sich benommen haben: Fotos hat er gemacht, Videos (mit dem Smartphone) gedreht und sie dem Geschäftsführer gezeigt. Das Ergebnis: M. macht sich unbeliebt bei den Kollegen. Er wird gemobbt. Wird krank. Dann: Herzinfarkt. Er wird gekündigt, zieht vor Gericht: gewinnt.

Wenn ihr so weiter macht …

Bei einer Betriebsversammlung meldet sich M. unter „Verschiedenes“ zu Wort: „Wenn ihr so weiter macht, seid ihr bald alle tot“, soll er gesagt haben und so viel ist sicher: Man sollte solche Sätze vielleicht besser nicht sagen. Sie können zum Mühlstein am eigenen Hals werden. Später geht es um die Frage, warum er „alle“ gesagt hat. Vielleicht war er aufgebracht. Was soll er denn sagen? Vielleicht: „Sterben werden die Kollegen soundo sowie die Kolleginnen soundso aus der Abteilung soundso.“

Berechtigt?

M. – ein nicht mehr geachteter Kollege, der irgendwie allen auf den Geist geht mit seinem Sicherheitsfimmel. Der zweite Verhandlungstag: Acht Stunden und ein bisschen. Endlose Befragungen. Mancher im Saal erliegt einem Minutenschlaf. Dann, irgendwo mittendrin, fragt die Verteidigung eine Zeugin: „War das, was der Angeklagte moniert hat, Ihrer Ansicht nach berechtigt?“ Und die Zeugin sagt: „Ja. Das war es.“ Okay, denkt man. Dann sagt ein weiterer Mitarbeiter: „Ja. Das war berechtigt.“ Aber: Er hätte es anders sagen sollen. Laut Vernehmungsprotokoll soll das Wort „wahnhaft“ gefallen sein. Das Wort „wahnhaft“, sagt der Zeuge, habe er ganz bestimmt nicht benutzt. Ja denkt man: Dieses Wort passt nicht in die Sprachfarbe dieses Zeugen. Er sagt, die Art und Weise, in der M. sich um das Thema Sicherheit gekümmert habe, sei sehr intensiv gewesen. Jetzt passen Mann und Worte zusammen.

Trotzdem steht „wahnhaft“ im Protokoll und natürlich fragt man sich, ob das nur ein anderes Wort für „sehr intensiv“ ist oder schon eine richtunggebende Umdeutung vorliegt. Es geht um Nuancen und es ist ein Unterschied, ob einer von wahnhaftem Verhalten spricht oder von einem „sehr intensiven Umgang“ mit einem Thema. Das Wort „wahnhaft“ ist eine Interpretation. Die aber hätte in einem Protokoll nichts verloren. Das Wort „wahnhaft“ passt nicht zu diesem Zeugen. Später wird es von einem weiteren Zeugen verwendet. Bei dem passt es.

Regeln und Regeln

Sicherheit allerdings – auch das wird an diesem Tag klar – lässt sich wohl unterschiedlich interpretieren. Bei Regeln ist es nicht anders. Der Staatsanwalt gewährt Einblicke ins Private. „Es gibt Regeln und Regeln“, sagt er. „Die einen befolgt man“ ….

… und die anderen?

„Meine Steuererklärung zum Beispiel: Natürlich soll sie zum Stichtag fertig sein, aber irgendwie schaffe ich es nie rechtzeitig.“ Man staunt. Es gibt halt Regeln und Regeln. So sieht es auch einer der Zeugen. „Natürlich“, sagt er, „läuft im Betrieb nicht immer alles streng nach den Regeln.“ Er wendet sich an den Richter: „Wenn ich Sie jetzt den ganzen Tag beobachten würde, ließe sich bestimmt feststellen, dass Sie die Abstandsregeln nicht immer eingehalten haben.“ Es gibt Regeln und Regeln. Zum Thema Sicherheit finden Schulungen statt. Am Ende, lernt man, unterschreiben die Beschulten. Da wundert es nicht, dass die Mehrheit von ihnen den Betrieb für sicher hält. Sie machen alles richtig. Natürlich. Dafür haben sie ja unterschrieben.

Wer sonst?

Zwischendurch fragt der Staatsanwalt immer mal wieder einen Zeugen, ob er sich denn jemand anderen vorstellen könne, der zu einer solchen Tat fähig sei. Keiner kann sich das vorstellen. Genauer: Niemand kann sich einen anderen vorstellen. Warum auch: Da sitzt doch der mutmaßliche Täter und macht die Frage zu einer rein rhetorischen. Dass M. es war, scheint für die meisten längst festzustehen. Irgendwie denkt man, wenn einer auf die Könnensiesichnochjemandanderenalstätervorstellen-Frage mit „Ja, klar“ antworten würde, müssten sie den Staatsanwalt wahrscheinlich künstlich beatmen.

Störfaktor

Zurück zu  Herrn M. Der macht sich also Gedanken um die Sicherheit und wird zum Störfaktor. Er spricht bei der Betriebsversammlung und „die Kollegen haben die Augen verdreht und sind gegangen“. Irgendwie schon ein schräges Bild. Aber: Passiert ist ja nie etwas. Nie hat es einen nennenswerten Unfall gegeben. Warum also hat M. irgendwann mit diesem Kreuzzug begonnen? Einer vom Betriebsrat sagt: „Ich bin natürlich kein Psychiater, aber das hatte schon etwas Wahnhaftes.“ Ja – zu diesem Zeugen passt es. M. hat noch einen Satz gesagt: „Ihr werdet euch alle noch umgucken.“ (Auch nicht so gut.)

Die Tür

Die längste Befragung des Tages dauert knapp 120 Minuten. Das ist eine Menge, wenn der Vorsitzende eigentlich davon ausgegangen war, „dass wir pro Zeugen 15 Minuten brauchen“. Es kann anders kommen. Eines der Tagesthemen: Eine Tür in Halle 13. Sie soll sich auch von außen haben öffnen lassen. Wer einmal drin war im Hallensystem der Firma, kam überall hin – nur in den Verwaltungstrakt nicht. Der ist gesichert. Wie genau? Das weiß man auch am Ende des zweiten Verhandlungstages nicht.

Schwarze Handschuhe

Eine Polizistin sagt aus: Ja, jemand von der Feuerwehr hat ihr einen Rucksack übergeben. Vorsitzender: „Waren da Handschuhe drin?“ Zeugin: „Ja.“ Vorsitzender: „Welche Farbe?“  Zeugin: „Schwarz.“ Die Handschuhe sind dann eher beige. Zeugen sind ein gefährliches Beweismittel.

Der zweite Verhandlungstag hat keine Sicherheiten gebracht. Nichts, worauf man wetten würde. Aber vor Gericht geht es nicht um Wetten. Urteile sind zu bedeutend. Begonnen hatte der Tag mit einem Sachverständigen in Sachen Umwelt. Das interessiert den Staatsanwalt. Wie gefährlich war es zum Beispiel für die Anwohner? Das lasse sich so einfach nicht sagen, sagt der Gutachter. „Da hätten sie schon jedem, der da war, ein Messgerät direkt neben den Mund halten müssen.“

Später sagt ein Nachbar aus. Er wohnt 80 Meter vom Brandort entfernt. Ja – abends hatte er ein Kratzen im Hals. Sonst nichts. Seine Frau hat er gleich ins Haus geschickt. Sie war hochschwanger. Er hätte sich gewünscht, dass die Feuerwehr gekommen wäre und ihn aufgeklärt hätte. Stattdessen hat ihn ein Feuerwehrmann von weitem angebrüllt. „Gehen Sie ins Haus.“ Kann passieren – in der Hektik eines Großeinsatzes. „Wir hätten uns gewünscht, dass jemand kommt und uns über die Situation aufklärt“, sagt der Zeuge.

Rauchschwaden

Die Verteidigung tut alles Nötige, um Zweifel zu etablieren. Das Unternehmen ist mehr oder weniger erfolgreich. Es liegen – bildlich gesprochen – Rauchschwaden über dem Saal. Wieder und wieder blickt man zu Herrn M., dem es bei mancher Aussage schwer zu fallen scheint, sich an die „Sagen-Sie-jetzt-nichts-Linie“ zu halten. (Nichts zu sagen scheint in einer Indizienschlacht das einzigprobate Mittel. M. jedenfalls wirkt nicht wie einer, der auf einem Kreuzzug ist. Aber was heißt das schon? Entspannt ist er natürlich auch nicht. Kein Wunder. 15 Jahre können Sie ihm mitgeben am Ende dieses Prozesses. Wenn er’s war, sollen sie ihn einbuchten.

Aber zündet einer, der sagt „ihr werdet alle sterben“ die Firma an, wenn niemand da ist? In einem Krimi würde jetzt irgendein Neuneinhalbmalkluger bemerken, dass ja genau hier die Pointe liegt. Geht natürlich auch.
Zwei Gutachten stehen noch aus. Man ist gespannt auf die psychiatrische Auswertung. „Ihr werdet euch alle noch umgucken.“ „Ihr werdet alle sterben.“ Das kann es ja nicht gewesen sein. Der Abend naht und der Staatsanwalt muss heim. Die Steuererklärung wartet.

Ein Rucksack

Vielleicht doch noch ein paar Gedanken. Das Hirn schaltet ja nicht ab, nur weil man den Gerichtssaal verlässt. Immer wieder ist und war die Rede von einem Rucksack. Er soll dem Angeklagten gehören. In dem Rucksack: Eine Mütze, ein Sweatshirt, (Arbeits-)Handschuhe, Einbruchswerkzeuge. Gefunden wurde der Rucksack im Verwaltungsgebäude – von Feuerwehrmännern. Die übergaben ihn der Polizei. Wenn man es am ersten Verhandlungstag richtig verstanden hat, wurden am Rucksack (oder an den anderen „Fundsachen“) DNA-Spuren gefunden, die sich dem Angeklagten zuordnen lassen. Na bitte. Aber ist es nicht klar, dass sich DNA-Spuren des Angeklagten an dem Rucksack befinden, wenn es sein Rucksack ist? Wie sieht es ansonsten mit DNA-Spuren aus? Fänden sie sich an den mit Brandbeschleuniger getränkten Lappen, die sich nicht entzündet haben, wäre das ein Indiz.

Ein Plan

Wer immer diesen Brand gelegt hat – auch das kommt immer wieder zur Sprache – muss einen dezidierten Plan gehabt haben. Zu strategisch: die Punkte, an denen Feuer gelegt wurde. Da muss jemand Ortskenntnisse gehabt haben und mit Akribie vorgegangen sein. Und dieser Jemand, der Tage, vielleicht auch Wochen, mit der Planung der Brandlegung zugebracht hat, lässt schließlich (s)einen Rucksack am Tatort zurück? Natürlich: Es passieren die dämlichsten Sachen. Es kann viele Gründe dafür geben, dass der Rucksack dann doch zurückgelassen wurde. Aber: Zumindest entsteht ein Widerhaken beim Nachdenken.

Wie man eine Sache sieht, hängt im wahrsten Sinne des Wortes vom eigenen Standpunkt ab. Die Staatsanwaltschaft muss immer und zu allererst zu einem Rundflug antreten: Ermittlungen in jede Richtung.

Ein Geschäftsführer

Was ist eigentlich mit dem im Unfrieden gegangenen Geschäftsführer, der am Rande erwähnt wurde? Hätte der nicht auch ein (Rache-)Motiv haben können? Niemand fragt danach. Niemand hat sich (zumindest bis zum jetzigen Punkt des Prozesses) damit befasst, ob der Mann für die Tatzeit ein Alibi vorzuweisen hätte. Vielleicht war er auf den Malediven. (Das müsste man gelten lassen.) Vielleicht hat ja längst jemand danach gefragt. Vielleicht ist die Antwort in den Ermittlungsakten zu finden. Der Mann wird ein Alibi haben – und also ist es redundant, das zur Sprache zu bringen. Und wäre er’s gewesen: Wie hätte er denn an den Rucksack des Angeklagten kommen sollen?

Ein Motiv?

Und wenn’s der Angeklagte und der Ex-Geschäftsführer dann doch nicht waren (kann ja passieren), dann würde es in der Tat schwierig, einen Täter ausfindig zu machen. Menschen, die dergleichen tun, brauchen – das jedenfalls nimmt man an – ein Motiv. Man steckt nicht einfach eine Firma an, weil gerade nichts Interessantes im Fernsehen läuft oder die Muckibude geschlossen hat.

Eine Vermutung

Die Verteidigung hat auch Fragen in Richtung der „Gesundheit“ des Betriebes gestellt. Niemand ist darauf eingegangen. Der Laden wurde verkauft. Die Banken haben Druck gemacht. Einer vom Betriebsrat soll gesagt haben, das alles sei für die Gesellschafter ein Totalverlust gewesen. Klingt auch nicht wirklich gut. Jetzt – heißt es über die Firma– sei man auf einem guten Weg.

Matula

Und schließlich sind da diesen beiden Herren, die seit Stunde Eins des Prozesses im Zuschauerraum sitzen. Irgendwie versucht man sie einzuordnen. Es sind – so viel steht fest – keine Kollegen von der schreibenden Zunft. Irgendwie drahtig kommen sie daher. Würde einer sagen, es seien Private Eyes – Matulas also – würde man sich nicht wundern. Vielleicht sind sie ja Versicherungsleute. „Die würdest du erkennen“, sagt eine Bekannte. Und sie sagt noch: „Als ich heute auf meinen Schreibtisch geschaut habe, hätte ich mir auch einen Brandstifter gewünscht.“ Vielleicht mal in diese Richtung ermitteln: Vielleicht gab es da jemanden in der Verwaltung, der …

Nein, das ist natürlich nicht witzig. Aber dass der M. es zweifelsfrei gewesen sein soll – das könnte man einem Außenstehenden nur schwer vermitteln. Andererseits … wenn man nur an den richtigen Stellen die Augen schlösse …

Kreuzzug

Und noch eins: Vielleicht macht sich, wer zu viel nachhakt, auch zu einem, den niemand leiden mag. Zweifel sind – denkt man – womöglich nicht erwünscht. Die Leute rollen dann mit den Augen. Regeln sind Regeln. Kreuzzüge sind Kreuzzüge. Es ist doch alles klar, oder? Es gibt einen Angeklagten.
Und – ja natürlich: Der M. kann es auch gewesen sein – er kann sich entwickelt haben von einem, dem etwas auffiel, zu einem, der nur noch eines sah – mit irgendwie verengtem Blick. „Das war alles total drüber“, hat einer seiner Kollegen gesagt. Man wünscht sich nur, nach dem Urteil keine Bauchschmerzen zu haben.

III. Lenkzeiten

Gerichtstage sind nicht selten lang. Sehr lang. Lastkraftwagenfahrer würde man aus der Kabine zerren und bestrafen. Man würde in ihnen ein Verkehrsrisiko sehen. Bei Gericht darf die Lenkzeit schon mal überschritten werden. Wo kein Kläger, … Okay: Zwischenzeitlich werden Päuschen eingelegt. All das würde nicht standhalten, wenn die Polizei einen anhielte und den Fahrtenschreiber kontrollierte … eine andere Geschichte.

Belehrung

Am dritten Verhandlungstag im Prozess um den Brand einer Uedemer Firma am 29. Dezember 2019, sagten zu Beginn die Frau und der Sohn des Angeklagten aus. Beide machten nicht von ihrem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch. Vorsitzender: „Wenn Sie sich entschließen, hier keine Aussage zu machen, dann ist das für uns so, als wären Sie gar nicht vorhanden. Wir werden und dürfen das auch nicht zu Lasten oder zum Vorteil des Angeklagten werten. Sollten Sie aber aussagen, muss alles, was Sie sagen, der Wahrheit entsprechen. Sie würden sich im Fall einer Falschaussage strafbar machen und Sie könnten auch vereidigt werden. Wenn Sie etwas nicht mehr wissen, sagen Sie das.” So weit die Theorie.

Alibi

Eigentlich könnte der Tag nach fünf Minuten beendet sein. Die Frau des Angeklagten sagt aus, ihr Mann sei die ganze Nacht zuhause gewesen. Sie haben nebeneinander im Bett gelegen. Zwei Mal müsse sie nachts raus. An eine genaue Zeit könne sie sich nicht erinnern („Ich schaue ja nicht auf die Uhr, wenn ich zur Toilette gehe”), aber beide Male habe ihr Mann neben ihr im Bett gelegen.

Glaubwürdigkeit

Ist jetzt Schluss? Ist die Unschuld des Angeklagten erwiesen? Nein. Was jemand vor Gericht sagt, muss ja nicht stimmen, und wenn eine Frau dem eigenen Mann ein Alibi gibt, weil der sonst womöglich für zehn Jahre ins Gefängnis muss, wäre das irgendwie verständlich. Man würde sich doch wundern, wenn sie ihn reinritte. An dieser Stelle also ist eine Entscheidung zu treffen. Man kann die Welt aus Verteidigerposition betrachten (alles Entlastende ist positiv – der Mandant ist ja unschuldig) oder aus der Position des Staatsanwalts (es gibt einen Angeklagten – also kann jedes Alibi nur gelogen sein). Es gilt also, die Glaubwürdigkeit der Zeugin – dieser Zeugin – anzuzweifeln. Zwei Begriffe stecken in dem Wort Glaubwürdigkeit: Glauben und Würde. Man muss die Aussage eines Zeugen nicht glauben, aber: man muss ihm – dem Zeugen – seine Würde lassen. (Irgendwie sieht man diesen Satz fett gedruckt.) Man muss den Zeugen ihre Würde lassen. Vielleicht hat das dem Staatsanwalt niemand gesagt: Wer sich im Recht weiß, braucht keinen Theaterdonner.

Demütigungen

Gegen Ende der Aussage der Ehefrau geht es um einen Laptop des Angeklagten, auf dem zwei Profile eingerichtet sind: Eines für ihn und eines für seine Frau. Die Zeugin kennt sich nicht aus mit Computern. Man merkt das ziemlich schnell. Oder spielt sie das nur? Der Staatsanwalt will es herausfinden. Die Prozedur: würdelos. Demütigend. Man möchte aufspringen und zur Ordnung rufen. Man spricht mit einer Frau nicht wie mit einem Kleinkind, dem man das Bruttosozialprodukt erklärt und längst beschlossen hat, dass es einen nicht verstehen wird. Das ist nicht nötig. Man wünscht dem Staatsvertreter nicht, dass jemand ihn jemals so behandelt. Und dann wünscht man es sich doch. Ist das noch objektiv? Natürlich nicht.

Vereidigung

Was hat man nach zwei Stunden Befragung erlebt? Man empfindet die Zeugin als authentisch. Natürlich erinnert sie sich an manche Dinge nicht. Aber ist das nicht irgendwie normal? Natürlich wird es Menschen geben, die auf dem Zeugenstuhl von einer – wie soll man sagen – selektiven Amnesie befallen werden. (Man kann es damit sogar auf Ministerstühle bringen, denkt man. Gerade hat man erlebt, dass jemand sich an einen Termin nicht erinnert, aber weiß, was er bei diesem Termin bestimmt nicht gesagt hat.) Natürlich gilt es, einer Aussage kritisch zu begegnen. Vor Gericht geht es nicht darum, jemandem Glauben zu schenken. Es soll um Tatsachen gehen. Und das ist auch gut so.

Trotzdem

Wieder einmal ist alles eine Sache des Standpunktes. Der Staatsanwalt scheint – diesen Eindruck gewinnt man – die Frau des Angeklagten als Lügnerin einzustufen. Ja – sie muss ja eine Lügnerin sein. Würde sie die Wahrheit sagen, wäre der Prozess beendet – die Anklage zerstäubt. Aber: Da sitzt ein Täter. Es scheint keine Zweifel daran zu geben, dass der Angeklagte der Täter ist, und wenn es keine Zweifel gibt, kann nicht zutreffen, was die Frau auf dem Zeugenstuhl gesagt hat. Zu erklären wäre ihr Verhalten (siehe oben). Vereidigt wird die Frau nicht, obwohl doch ihre Aussage von zentralvernichtender Wirkung ist.

Strafprozessordnung Paragraph 59 – 1. Buch (Allgemeine Vorschriften, 6. Abschnitt: “ Zeugen werden nur vereidigt, wenn es das Gericht wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage nach seinem Ermessen für notwendig hält. … Der Grund dafür, dass der Zeuge vereidigt wird, braucht im Protokoll nicht angegeben zu werden, es sei denn, der Zeuge wird außerhalb der Hauptverhandlung vernommen.“

Der Sohn

Dann der Sohn – auch er; authentisch, glaubhaft. Anfangs hatten sie auch ihn im Verdacht – nahmen ihn fest. Die Hypothese: Der Brand und die damit verbundenen vorbereitenden Handlungen: vielleicht zu umfassend für einen einzelnen Täter. Wieder geht es um den Rucksack der Firma Herbalife. Im Rucksack eine Mütze mit der Aufschrift „Landwirtschafts-Simulator” (ein Computerspiel). Dazu ein Fleeceshirt. Der Sohn des Angeklagten: ein Angestellter bei Herbalife. Außerdem spielt er „Landwirtschaftssimulator”, hat die Collector’s Edition. Bestellt man die, gibt es als „Zugabe” die besagte Mütze. Zwei davon besaß der Zeuge. Eine hatte er von seinem (damals) besten Freund bekommen und sie dann seinem Vater geschenkt. Der beste Freund ist nicht mehr der beste Freund. Damals ist er zur Polizei gegangen. Die suchten Zeugen, die etwas zu „Simulatormütze” und zum Fleeceshirt sagen konnten. Nein, der Zeuge findet es nicht schlimm, dass sein Damalsbesterfreund zur Polizei gegangen ist. „Schlimm finde ich, dass er sich weder vorher noch nachher dazu geäußert hat”, sagt der Sohn des Angeklagten. Der Damalsbestefreund war übrigens auch einmal bei der Firma beschäftigt – fuhr Stapler, wie der Angeklagte auch.

Effizient

Immerhin: Den Sohn haben sie seinerzeit ziemlich schnell wieder „laufen lassen”. Es ließ sich nichts nachweisen. Neue Hypothese: Es könnte ja auch ein Einzeltäter gewesen sein. Kann der Sohn dem Vater ein Alibi geben? Kann er nicht. Er wohnt nicht mehr bei seinen Eltern und war in der Nacht nicht da. Aber er kann etwas sagen über den Zustand seines Vaters – über dessen Befinden. „Mein Vater ist jemand, der Sachen effizient machen möchte. Er war früher mal selbständig und ist es so gewohnt. Wenn er irgendwo Verbesserungspotential sieht, versucht er, das umzusetzen – erst recht, wenn es um die Sicherheit geht. Aber wenn einer immer wieder Vorschläge macht und auf Missstände hinweist und dabei nur ignoriert wird, dann ist das nicht gut. Wenn er dann auch noch gemobbt wird …” Das interessiert den Staatsanwalt: Wie definiert der Zeuge Mobbing? „Das habe ich ja gerade gesagt: Wenn Sie beständig ignoriert werden, dann ist das für mich schon Mobbing. Wenn man Sie einfach nicht mehr ernst nimmt, die Augen verdreht.”

Manchmal genervt

Natürlich, sagt der Sohn, habe auch ihn das Thema manchmal genervt – dann habe er es dem Vater gesagt. („Lass mal gut sein.“) Wann denn die Sache mit dem übertriebenen Achten auf Sicherheit begonnen habe? Warum habe der Vater nicht von Anfang an darauf bestanden? „Zuerst war mein Vater als Leiharbeiter beschäftigt. Da übt man keine Kritik.” Gibt es einen Punkt, an dem die Sache intensiv geworden sei? „Ich denke, dass war aufgrund eines Gesprächs, das mit meinem Vater geführt wurde. Man hat ihm seitens der Firma gesagt, er sei beim Arbeiten zu langsam, aber er war langsamer als die anderen, weil er sich bemüht hat, in Sachen Arbeitssicherheit alles richtig zu machen.” Klar, denkt man: Da ist einer, der immer wieder von dieser einen Sache anfängt. Das kann nerven. Es hat ja nie einen Unfall gegeben. Alles funktioniert. Ein schöner Satz: „Wir haben es ja schon immer so gemacht.”

Zweifeln?

Der Sohn jedenfalls wirkt – wie seine Mutter vorher – glaubhaft. Er kann die Dinge erklären, ohne ins Abenteuerliche abzurutschen. Ein Traumzeuge, denkt man. Muss man zweifeln? Natürlich. Vor Gericht muss man immer zweifeln. Je enger die Verbindung zwischen Zeugen und Angeklagten, um so genauer muss hingesehen werden. Aber wenn vor Gericht an einer solchen Aussage gezweifelt werden muss, dann muss auch dieser andere Zweifel erlaubt und gefördert werden: Es ist der Zweifel, der am Ende zu einem Freispruch führen kann. In dubio …

Ladungsfehler

Die zwei Feuerwehrmänner, die am Brandtag jenes zentrale Beweisstück – den Rucksack – am Tatort fanden und der Polizei übergaben, sind nicht erschienen. Der Vorsitzende Richter denkt, es könnte einen Fehler bei der Ladung gegeben haben.

Kommunikationsdesaster

Es wird befragt: ein Sicherheitsbeauftragter der Firma. Ja, sagt er, einen Kontakt zum Angeklagten habe es gegeben. Was folgt, ist das Musterbeispiel eines Kommunikationsproblems erster Güte. Der Sicherheitsbeauftragte, seines Zeichens seit Jahresanfang 2019 in der Firma – zu einer Zeit also, als der Angeklagte krankheitsbedingt längst nicht mehr anwesend war – muss sich vom Angeklagten anhören, dass bezüglich der Arbeitssicherheit einiges im Argen läge. Was der Angeklagte ihm zu beschreiben versucht, bezieht sich auf einen Zeitraum, in dem der Sicherheitsbeauftragte nicht für die Firma arbeitete. Was er empfindet, ist eine Kritik an seiner Arbeit. Das rührt an die Ehre. Er reagiert darauf gereizt. Kein Wunder. Er erklärt dem Angeklagten, was dieser sage, entspreche nicht der Firmenwirklichkeit. Diagnose: Beide Herren haben – aus ihrer Position heraus – Recht. Sie beschreiben einen Teil ihrer subjektiven Wirklichkeit. Der Sicherheitsbeauftragte sagt dem Angeklagten, er möge sich an die Geschäftsführung wenden. In einer Vermehmung hat er später gesagt, der Angeklagte habe hasserfüllt geblickt. Er würde das jetzt nicht so sagen, sagt er. Verständnislos – das Wort der Stunde. Was die beiden damals  – siehe oben – entzweite: ein Kommunikationsproblem. Wer sich angegriffen fühlt, setzt sich zur Wehr. Wer sich unverstanden fühlt, reagiert mit Verständnislosigkeit. Daraus lässt sich ein Motiv bestenfalls konstruieren, denkt man. Was der Sicherheitsbeauftragte auch sagt: „Es könnte viel besser laufen mit der Sicherheit, wenn alle sich an die Vorgaben hielten.“ Er sagt das ins Allgemeine – meint nicht den Betrieb, für den er arbeitet. Es ist einfach so.

50 Millionen

Der aktuelle Geschäftsführer der Firma hat nie Kontakt zu dem Mann auf der Anklagebank gehabt. Er kann sich – gern sagt er das jedem – Namen nicht merken. „Schall und Rauch” nennt es später die Verteidigerin. Der Einzug des Poetischen ins Trostlose. Der Schaden bis jetzt: 50 Millionen. Die vier Großpressen – Herzstücke des Betriebes – zerstört. Zwei von ihnen: alt. Die notwendigen Ersatzteile: schwer zu beschaffen. Man entschließt sich daher, statt einer kostenintensiven Wiederinstandsetzung der beiden alten Pressen eine einzelne, neue, anzuschaffen: Sieben Millionen. Roundabout. Die zwei Großpressen neueren Datums: repariert. Betriebsbedingte Kündigungen hat es nicht gegeben. Das Engagement der Mitarbeiter: beispiellos. Eines seiner obersten Ziele, sagt der Geschäftsführer, sei die Arbeitssicherheit. Er sagt das mit einer Intensität, die man glaubt. Schade, denkt man, dass er den Angeklagten nicht kennengelernt hat. Vielleicht wäre alles gut geworden.

150 Minuten

Dann: das Brandgutachten. Start: 14.06 Uhr – Ende 16.40 Uhr, unterbrochen von einer siebenminütigen Pause. Das Brandgutachten beginnt mit einem fotogestützten Rundflug über und durch das unübersichtliche Firmenterrain. Über 200 Lichtbilder wurden gefertigt. Die Sache beginnt sich zu dehnen. Ein Ergebnis: 90 Minuten dürfte es gedauert haben, all die Brandsätze zu installieren – sie an neuralgischen Punkten zu installieren. Das kann ein Mensch gemacht haben, der sich im Betrieb auskennt. 90 Minuten also. 13 Brandherde haben sich am Ende entflammt – weitere 20 präparierte Stellen haben sich nicht entzündet. Allein drei fast völlig leere Fünf-Liter-Kanister haben sich am Schluss gefunden. Vielleicht hat es mehr gegeben. Wenn ja, sind die anderen ein Raub der Flammen gerworden. Allein das Anzünden der vorbereiteten Stellen hat dann noch einmal 20, vielleicht 30 Minuten gedauert. Die dabei zurückzulegende Distanz: ein Tausendmeterlauf. „Ich habe am Tag nach dem Brand auf dem Gelände mindestens zehn Kilometer zurückgelegt”, erinnert sich der Gutachter.

Intensiv

33 Brandstellen also – präpariert mit Stofflappen, die mit „Vergaserkraftstoff” getränkt waren – danach das Anzünden und das einsetzende Feuer: Wer immer da am Werk war, denkt man, muss am Ende vorsichtig formuliert ziemlich intensiv nach Vergaserkraftstoff gerochen haben. Das Fleeceshirt im Rucksack – erfährt man später vom Ermittlungsleiter – habe nicht gerochen. Okay: War es nur als Deko in jenem Rucksack der Firma Herbalife? Sollte es nach der Tat „die Wäsche zum Wechseln” sein? Wenn ein Täter den Rucksack während des Weges, den er beim Präparieren genommen hat, mitführte, müssten Rucksack und Inhalt nach Benzin gerochen haben. Intensiv. Der Brandgutachter hat sich bei der Reihenfolge der Brandsatzinstallationen festgelegt. Der Täter hat den Verwaltungstrakt zuletzt aufgesucht. Also wird er, denkt man, nicht den Rucksack zuerst dort abgestellt haben. Oder doch? Der Täter hatte reichlich Marschgepäck. Mindestens drei Kanister (siehe oben).

Das Gewicht eines Liters Benzin beträgt circa 750 Gramm. Das Eigengewicht eines Fünf-Liter-Kanisters aus Kunststoff dürfte circa 300 Gramm betragen. Gesamtgewicht circa 12 Kilogramm– das Gewicht verringert sich an jeder Präparationsstelle.

Für einen Einzeltäter eine logistische Herausforderung. Der Brandgutachter schätzt, dass die erste Brandlegung (in Halle 21) gegen 7.15 Uhr stattgefunden hat. Gegen 7.45 muss der Täter dann den Brand im Verwaltungsgebäude gelegt haben. Zeit genug für den Angeklagten – er wohnt (Zeit mit einem Roller) fünf Minuten vom Werksgelände entfernt – nach Brandlegung nach Hause zu fahren und sich zu seiner Frau ins Bett zu legen, als sei nichts gewesen. „Hat es in Ihrem Schlafzimmer komisch gerochen?“, hatte der Verteidiger gefragt. Antwort der Zeugin: „Nein. Ganz normal. Alles wie immer.“

Karenzzeit

Wie ist der Gutachter auf die Anfangszeit des Brandes in Halle 21 gekommen? Es gibt da einen Getränkeautomaten in eben dieser Halle. Dessen Stromversorgung brach um 7.26 Uhr ab. Man kann also davon ausgehen, dass es davor schon gebrannt haben muss. Man weiß ja nicht, wo in der Halle der Täter den ersten Brand gelegt hat. Also entsteht eine Art Karenzzeit.

Alarm

Aber da ist noch der Alarm im Verwaltungsgebäude, der – es wird jetzt kompliziert – um 8.13 Uhr auslöste. Wie, von wem, wodurch? Nicht ermittelt. Vielleicht durch die Hitze-Entwicklung. Vielleicht war es aber auch ein Bewegungsmelder? Diese Zeit des Alarms allerdings muss als unrichtig angesehen werden. Mann muss 24 Minuten abziehen. Man landet also um 7.49 Uhr. Wenn der Angeklagte den Alarm beim Betreten des EDV-Raums ausgelöst hat, kann er nicht fünf Minuten später im Bett neben seiner Frau gelegen haben – frisch geduscht und ohne eine Geruchs-Spur von Benzin.

Zweidritteltür

Letzter Zeuge des Tages: der Ermittlungsleiter. Es gibt viel zu klären. Da wäre die „Zweidritteltür”. Sie war alarmgesichert und wurde – das ist die Hypothese der Anklage – im unteren Drittel zerstört, um – unter Umgehung der Klinke – in den EDV-Bereich eindringen zu können. Im oberen Drittel der Tür: Hebelspuren. Die wurden abgeglichen mit dem Stemmeisen aus dem Rucksack. Ergebnis: Kann sein, kann auch nicht, dass jenes Stemm- oder Brecheisen Spurenverursacher gewesen ist. Frage: Wenn einer den unteren Teil der Tür entfernt, um ohne Alarmauslösung eindringen zu können, wieso versucht er, mit einem Brecheisen die Tür zu öffnen?

Spurensicherung

Die Tür: in erstaunlich gutem Zustand. Fantastisch, denkt man. Wenn der Täter durch den unten entfernten Teil gekrochen ist, muss es Spuren geben. Die Tür – erfährt man staunend – wurde nach ebensolchen Spuren nicht untersucht. Wie wurde eigentlich der Ausschnitt aus der Tür entfernt? Dazu gibt es keinerlei Erkenntnisse. Wurde eigentlich – um mal ein anderes Thema anzuschneiden – der entlassene Geschäftsführer vernommen und gegebenenfalls nach einem Alibi für die Tatzeit befragt? Nein. Am Fleeceshirt wurden übrigens Haarspuren gefunden. „Wir sind davon ausgegangen, dass es sich dabi um Tierhaare handeln könnte”, erklärt der Ermittlungsleiter. Man habe dann von einem Hamburger Institut feststellen lassen, dass es sich bei der „Leitspur” um Hundehaare handelte. Also: DNA-Abgleich mit den Hunden des Angeklagten. Ergebnis: kein Treffer.

Beweisanträge

Natürlich: Es lässt sich nicht immer alles „aus-ermitteln”. Aber man hat den Eindruck, dass gezweifelt werden darf. Die Verteidigung stellt zwei Beweisanträge. Es geht um die Alarmanlage im EDV-Bereich und es geht um den Gesundheitszustand des Angeklagten. Es geht um die Frage, ob er physisch überhaupt in der Lage gewesen wäre, was ihm zur Last gelegt wird, eigenständig ausgeführt zu haben: Überspringen des Zauns, Tragen der Kanister und des Rucksacks über eine nicht geringe Entfernung. Der Staatsanwalt zerpflückt die Beweisanträge. Er lässt auch keine Zweifel daran, wer im Prozess die wichtigen (oder sagt er richtigen?) Fragen stellt. Er benutzt das Wort „Negativtatsache”. Man schaut nach:

„Sobald ein ’nicht‘ im Beweisantrag auftaucht, ist besondere Vorsicht geboten. Diese Vorsicht resultiert daher, dass ein Beweismittel immer nur Beweis erbringen kann, über Tatsachen, welche dem Beweisgehalt des Beweismittels umfassen. Erklärung: Niemand kann einen Beweisantrag stellen, bei dem es darum geht, dass jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo nicht gewesen ist. …Deshalb ist bei einem Beweisantrag zwischen Beweistatsache und Beweisziel deutlich zu unterscheiden. (Quelle: www.strafrechtsblogger)”

Über die Beweisanträge wird das Gericht am (geplant) letzten Verhandlungstag entscheiden. Dann wird – neben der Aussage der Feuerwehrmänner, die den Rucksack fanden – auch das psychiatrische Gutachten zu hören sein.

Das Ende des Fassungsvermögens

Mittlerweile ist es kurz nach 18 Uhr. Begonnen hatte der Verhandlungstag um kurz nach 9 Uhr. Man ist am Ende seines Fassungsvermögens. Die Frage: Ist es sinnvoll, so lange zu verhandeln? Es ist, denkt man, auch eine Art Sicherheitsproblem. Würde man Staatsanwälte und Richter fragen – vielleicht würden sie sagen, dass es schon immer so gemacht wird. Vielleicht, denkt man, würden sie sagen, einen Tag wie den heutigen auf drei Verhandlungsage aufzuteilen – oder zumindest auf zwei – würde unnötige Kosten verursachen und die Organisation nur schwieriger machen. Was würde, denkt man, mit einem passieren, der mit diesen Einwänden ankäme – immer wieder? Der Angeklagte: auf dem Weg zurück in die Untersuchungshaft. Was soll man denken am Ende dieses dritten Tages? Ist man naiv gewesen? Ein Träumer in Sachen Gerechtigkeit? Wäre man ein Schwamm, hätte man sich mit Zweifeln vollgesaugt. Säße man – als Schöffe – vorn am Richtertisch: man würde am Ende dieses Prozesses zum Kämpfer für den Zweifel werden.

Was wäre, wenn

Was, denkt man, würde eigentlich im Fall eines Freispruchs passieren? Das Gutachten hat ergeben: Der Brand war gelegt. Wenigstens daran muss nicht gezweifelt werden. Was aber passiert? Würde neu ermittelt oder wäre „die Sache dann durch“?

Ein Zwiespalt

Justiz, denkt man, ist unabhängig und nicht zuständig für Zwischenräume, die der Zwiespalt öffnet. Es geht darum, sich auf die Spur eines Täters zu begeben und dabei am Ende erfolgreich zu sein – zweifelsfrei erfolgreich. Es kann aber auch darum gehen, dem Ruf des Zweifels zu folgen und einen Angeklagten freizusprechen. Man müsste sich in diesem Fall auf eine erneute Suche begeben, denn einen Täter muss es ja geben. Ob man ihn findet, steht auf einem anderen Blatt. Einen Menschen zu verurteilen, weil man keinen anderen Täter finden konnte – das kann es nicht sein.

IV. Von überwertigen Ideen

Der letzte Verhandlungstag im Prozess um die Brandstiftung bei der Uedemer Firma Mühlhoff brachte nach rund neun Stunden ein Urteil: Vier Jahre, sechs Monate für den Angeklagten, in dem die Kammer den (einzigen) Täter sieht. Kann man objektiv sein? Ja. Dann ist dieser Text jetzt zu Ende: Ein Schuldiger ist gefunden, dem Gesetz Genüge getan. Klappe zu.

Ein anderes Konzert

Aber was passiert, wenn man mitdenkt? Immerhin Folgendes: Man fühlt sich, als seien da ein paar Menschen in einem ganz anderen Konzert gewesen. Abends eine SMS vom Nachbarn. Der hat das Urteil schon mitbekommen und schreibt: „Viereinhalb Jahre. Da waren sich die Richter doch wohl ganz sicher.“ Antwort: „Die Richter vielleicht …“

Zweifel?

Was, fragt man sich nach dem Ende dieses Prozesses – was hätte eigentlich passieren müssen, damit diese Kammer Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten gehabt hätte? In einem Indizienprozess kann es nur selten absolute Sicherheiten geben. Das hier ist ein Paradebeispiel. Man hört zwei Plädoyers und denkt sich, dass es zwei Wirklichkeiten gibt. Da ist ein Staatsanwalt, der sicher ist: Der Angeklagte ist der Täter. Das Alibi, das er von seiner Frau bekommen hat: falsch. Jemand, der den Angeklagten hätte belasten – ihm also die Schuld in die Schuhe schieben – wollen, hätte doch mehr Spuren gelegt, die auf den Angeklagten deuten. Ja – so geht es natürlich auch.

7,6

Dass ein Sohn bezüglich der Kleidungsstücke, die in einem Rucksack am Tatort gefunden wurden, zweimal sagt, dass dergleichen millionenfach produziert wird, wird so quittiert: er verfüge nur über einen beschränkten Wortschatz. Aha? Von der „schweren Brandstiftung“ ist der Staatsanwalt abgerückt. Jetzt ist es „nur“ noch Brandstiftung. Zehn Jahre wären möglich, aber dafür müsste einer die Klever Stiftskirche anzünden oder die Basilika in Kevelaer. Sagt der Staatsanwalt. Das hat der Angeklagte nachweislich nicht getan. Sieben Jahre sechs Monate beantragt der Staatsanwalt.

Nur ein paar Fragen

Die Verteidigerin des Angeklagten hält ein brillantes Plädoyer. Sie hat da einfach mal ein paar Fragen. Mit jeder Frage rappelt es im Indizienkarton. Aber bitte: man ist ja kein Jurist. Juristen, denkt man, denken anders. Aber man denkt auch: Was, bitte schön, hätte gereicht, um diese Kammer zu einer zweifelnden Kammer zu machen? Ein Rucksack: darin Werkzeug, das am Tatort höchstwahrscheinlich nie eingesetzt wurde. An manchen Teilen des Inhalts: DNA-Spuren des Angeklagten. Unter anderem. Kein Wunder, wenn es sich um eines seiner T-Shirts handelt. Alle Spurenträger, darauf weist der Verteidiger im Plädoyer hin: mobile Spuren. Das Beweismittel – eine Tür, in die ein irgendwie geartetes Loch irgendwie hineingeraten zu sein scheint: nicht mehr vorhanden. Kann passieren? Vielleicht doch besser nicht, wenn seriös ermittelt wird. Von der Tür wurden keine Spuren gesichert. Kann passieren? …

Entsorgt

Die Meldungen einer Alarmanlage wurden nicht etwa von den Ermittlungsbehörden ausgelesen sondern (im Auftrag der geschädigten Firma) durch eben die Firma, durch die die Alarmanlage installiert wurde. Kann passieren? Besser nicht. Aber: halb so wild. Da muss es ja noch die Platine geben, von der all das ausgelesen wurde. Kleine Einschränkung: Die Platine wurde nach dem Auslesen der Daten vernichtet. Entsorgt. Kann passieren? Besser nicht.

Einigkeit und Recht

Hauptsache, Staatsanwaltschaft und Kammer stimmen überein, wenn es darum geht, dass der Angeklagte ein Motiv hatte und der Rucksack ihm gehörte. Ach ja: An dem Fleece-Shirt, das im Rucksack vorgefunden wurde, befanden sich Tierhaare. Wenn sie von den Hunden des Angeklagten stammten, wäre das doch nützlich. Tun sie aber nicht. Kann natürlich auch passieren.

Kann

Zugegeben: Natürlich kann der Angeklagte Täter sein, aber ein Beweis, denkt man, geht anders. Die Vokabel des Tages: überwertige Idee. Der psychiatrische Gutachter hat diesen Begriff eingeführt und die Kammer benutzt ihn dankbar als Werkzeug für die Urteilsbegründung: Ja, der Angeklagte, der im Augenblick des Urteils zum Täter wurde, ist seiner überwertigen Idee von der Arbeitssicherheit erlegen und am Ende zu einer Art Kohlhaas geworden – zu einem, der das Recht in die eigene Hand genommen hat. Passt scho, oder?

Motiv

Überwertige Ideen verfolgen sie alle hier: die Verteidiger, der Staatsanwalt, die Kammer. Dem Angeklagten erwachsen daraus vier Jahre, sechs Monate. Übrigens: Auch die Kammer und der Staatsanwalt benutzen häufiger denselben Ausdruck: Motiv. Niemand attestiert ihnen deswegen einen beschränkten Wortschatz.

Sedieren

Man möchte nach einem solchen Urteil zur nächsten Medikamentausgabe gehen und sich sedieren lassen. Die Kammer bleibt in ihrem Urteil weit unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Man fragt sich warum? Spekuliert werden darf ja. Vom anfänglichen Strafrahmen (maximal 15 Jahre für eine schwere Brandstiftung) sind zunächst noch zehn Jahre geblieben. Der Staatsanwalt beantragt sieben Jahre, sechs Monate. Der Angeklagte hat ja weder die Klever Stiftskirche noch die Basilika in Kevelaer in Brand gesetzt. Warum also unterbietet die Kammer den Antrag (relativ) deutlich? Vielleicht könnte ein Grund darin liegen, dass die vier, die da ein Urteil fällen mussten, uneins waren. Bei Stimmengleichheit: Freispruch. Wenn aber zwei nicht von ihrer Meinung abweichen wollen – der Angeklagte ist schließlich zweifelsfrei der Täter – muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Runter also mit der Strafe. Kann sein. Kann auch nicht. Wer will das wissen? Man war ja nicht dabei und Beratungen sind geheim. Hat sich im Laufe des Prozesses diese überwertige Idee von der Schuld des Angeklagten entwickelt? Urteile sind Mischspuren – und manchmal auch Trugspuren. Was sagte der Verteidiger in seinem Plädoyer? DNA Spuren sind Indizien – keine Beweise.

Die Hand im Feuer

Wofür würde man seine Hand ins Feuer legen wollen bei diesem Prozess? Für nichts und niemanden. Es bleiben Zweifel – erhebliche Zweifel an der Täterschaft dieses Angeklagten. Ein Freispruch, formuliert es der Verteidiger, hinterlasse manchmal ein flaues Gefühl im Magen, aber Justiz müsse in der Lage sein, dieses Gefühl auszuhalten. Das möchte man unterschreiben.

Der Blitz schlägt ein

Abends sitzt man zuhause, trinkt ein Glas Wein, schaut fern. Dann schlägt der Blitz ein: da sitzt jetzt einer in der Zelle – einer, der es vielleicht nicht gewesen ist. Der kann nicht abschalten. Wenn er’s war: selber Schuld. Aber man kannmag es nicht glauben. Ja – Justiz ist keine Gefühlsangelegenheit, aber was man erlebt hat – in diesem Prozess – macht nachdenklich. Es macht – genau besehen – auch Angst. Justiz – das war in diesem Prozess eine Maschine, in die man nicht geraten möchte.

Gerechtigkeit ist ein Geschenk

Längst ist man selbst infiziert von dieser überwertigen Idee. „Ich möchte es nicht fixe Idee nennen“, hat der Vorsitzende im Zusammenhang mit dem Angeklagten und seinem Kampf für und um die Arbeitssicherheit gesagt. Er griff das Gutachterwort von der überwertigen Idee auf. Man hört in sich hinein und da ist sie: die überwertige Idee von der Gerechtigkeit. Aber: man kann sie nicht herbei schreiben. Gerechtigkeit ist bestenfalls ein Geschenk, das einem zuteil werden kann. Rechtsprechung ist etwas anderes.

Gespräch im Februar

Gab es einen Wendepunkt in der Geschichte des Angeklagten? Der Gutachter erwähnt ein Gespräch im Februar 2018. Damals wurde dem Angeklagten mitgeteilt, er arbeite zu langsam – er werde den Ansprüchen nicht mehr gerecht. Das Gespräch, habe, erzählt der Gutachter, laut dem Angeklagten an einem Montag stattgefunden. Vielleicht war das der Tag, an dem sich Arbeitswirklichkeit und Hoffnung trennten. Hat da einer Wahnvorstellungen entwickelt? Ein deutlicheres Nein als das des Gutachters lässt sich kaum denken. Aber: Es entsteht das, was der Gutachter eine „emotional überwertete Vorstellung“ nennt – die überwertige Idee, die „fixe Idee“ zu nennen, zu kurz gegriffen wäre. Jetzt entsteht das Werkzeug für spätere Begründungen der Kammer: die überwertige Idee. Gutachten sind bestenfalls Wegweiser. Sie nehmen dem Gericht nichts ab. Sie versuchen, Klarheiten zu schaffen. Aber was, bitte, hat dieser Prozess an Klarheiten zu bieten? Was aus einem Gutachten wird, liegt in der Interpretation des Gerichts.

Verschiedene Versionen

Was erklärt man nun also dem Nachbarn? Vielleicht, dass in der Justiz selten alles klar ist. Vielleicht auch, dass Prozesse wie dieser im Kampfmodus abgehalten zu werden scheinen. Es geht um überwertige Ideen. Jeder hat seine eigene Version mitgebracht: Der Staatsanwalt, die Verteidigung, das Gericht, die Angehörigen … und die Presse natürlich auch. Mit der Objektivität ist es so eine Sache. Natürlich: Es darf nicht um Gefühle gehen – sie sind unter Umständen ein schlechter Richter. Aber wie wäre es denn mit Instinkten? Wovon soll man sich leiten lassen in einem Fall wie diesem – einem Fall, der zig Fragen hinterlässt, auf die es keine Antworten gibt. Es sind (dummerweise) auch Fragen dabei, die sich niemals mehr werden beantworten lassen, denn die zu ihnen passenden Beweisstücke sind nicht mehr vorhanden.

Aber-Satz

All das muss – völlig klar – längst noch nicht heißen, dass der Angeklagte unschuldig ist. Ein Aber-Satz. Also: Aber Ermittlungen wie diese hinterlassen – freundlich formuliert – extreme Unzufriedenheit. Das Gericht möchte nicht leben müssen mit dem flauen Gefühl eines Freispruchs. Diesen Eindruck gewinnt man. Das Gericht zieht es vor, den Angeklagten als Täter zu sehen und reicht das flaue Gefühl an einen Teil des Volkes weiter, in dessen Namen es geurteilt hat. Da ist sie: die überwertige Idee. Das Dumme: es gibt Duplikate. Zweitversionen.

„Womit bekämpft man eine Idee?“ „Mit einer anderen Idee.“ (aus Ben Hur, 1959)

Ein Tagesgerüst

Der letzte Verhandlungstag soll um 10.30 Uhr beginnen. Um 10.34 Uhr betreten die ersten beiden Zeugen (zwei Brüder – einer Berufsfeuerwehrmann, der andere in der Landwirtschaft beschäftigt) den Saal. Belehrung der Zeugen.

Die erste Befragung ist um 10.50 Uhr beendet – die zweite um 11.00 Uhr. Die Befragung eines Zeugen, der zum Thema Alarmanlagen und – auslösung gehört werden soll, beginnt um 11.04 Uhr. Zwischendurch stellt die Verteidigung zwei Beweisanträge. Die Befragung ist um 11.30 beendet. Es folgen weitere Beweisanträge der Verteidigung. Um 11.42 Uhr beschließt die Kammer: Zehn Minuten Pause. Um 12.04 zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Veranschlagt: 45 Minuten. Um 13.25 Uhr wird die Verhandlung fortgesetzt. Die Beweisanträge werden abgelehnt. Das DNA-Gutachten wird verlesen. Um 13.38 Uhr beginnt des Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen. Um 14.40 Uhr ist es beendet. Die 30-minütige Pause vor den Plädoyers endet um 15.31 Uhr. Plädoyer des Staatsanwaltes. Er fordert: Sieben Jahre, sechs Monate. Um 16.35 Uhr übernimmt die Verteidigung. Das erste Plädoyer beginnt um 16.35 Uhr und dauert bis 17.04. Die Forderung: Freispruch. Das zweite Verteidigergutachten beginnt 17.04 Uhr und endet um 17.20 Uhr ebenfalls mit der Forderung nach einem Freispruch. Im Zweifel für den Angeklagten. Das Gericht kündigt das Urteil für 18.20 Uhr (oder später) an. Um 18.55 Uhr: Das Urteil: Vier Jahre, sechs Monate.

Post an Frost