Schreibkraft
Heiner Frost

Kunst, vor allen Dingen

Das Leben bekommt eine absurde Note, wenn es aufgehalten – angehalten wird. Der Moment gerinnt zur pseudo-handlichen Ewigkeit. Die Pose wird zum Statement. Aus Handeln wird Erinnerung. Fotografie konstruiert keine Zukunften. Fotografie ist Denken unter dem Vergrößerungsglas.

Kevin O’Farrell: „Irische Eltern“ – fotografiert von Rüdiger Dehnen.

Ein Mann schickt sich an, von einem Felsen ins Meer zu springen. Die Kamera hält ihn fest an einem Point of no Return: Längst hat sich der Körper in den Sprung gegossen. Es gibt kein Zurück. Aber es gibt (auf dem Bild) auch kein Ankommen. Da ist einer ins eigene Leben geklebt wie die Marke auf einen Brief. Er kann nicht zurück – hat zwar noch einen Standpunkt, aber längst kein Gleichgewicht mehr – und kann nicht nach vorn: da ist dieses Foto, das ihn nie mehr freigibt. Kein Athlet, den wir sehen, sondern ein Ausbund an Gewöhnlichkeit.

Im Spiegel könne man dem Tod bei der Arbeit zuschauen, soll Cocteau gesagt haben. Fotografie ist ein Spiegel, der sich nicht auf den Tod beschränkt. Fotografie ist Gegenwartseinschluss, aber schon während des Auslösens Vergangenheit. Aus diesem Paradox lässt sich Energie gewinnen. Die Realwerdung der Unumkehrbarkeit.

Kunst vor allen Dingen

Natürlich ist Fotografie immer weit mehr als Lebensaufhaltungsbeschreibung. Kunst vor allen Dingen. Kunst immer dann, wenn da jemand ist, der weiß, was, wo und wer anzuhalten ist. Wer sich an der Magie der Fotografie berauschen möchte, könnte nach Goch fahren und ins Museum gehen. Dort gibt es Einblicke in Möglichkeiten und Unmögliches. Da lässt sich der Maschinenraum des Zwischendurch ebenso inspizieren wie die oben genannte Absurdität des angehaltenen Lebens.
Es ist vertane Zeit, wenn man Bildgeschichten zu erzählen versucht. Man kann auch nicht von gemaltem Essen satt werden. Aber man kann sich Appetit holen. So viel sei gesagt: Man kommt hungrig aus dieser Ausstellung. Man möchte sich an die nächste Kreuzung stellen und dem Leben zusehen. Man möchte dann – ganz wie Rilkes Panther – die innere Netzhaut belichten und Bilder machen, die zur Reise ins Herz antreten oder in die Seele.

Auftauchen im eigenen Leben

Facing Britain zeigt Menschen, zeigt ihre Träume. ihre Einsamkeiten, Umgebungen, Arbeitswelten, Feierlaunen, Untergänge und ihr Auftauchen im eigenen Leben. „Facing Britain“ ist eine Art Kopfsprung in Vergangenwart und Gegenheit unterm Union Jack. Facing Britain bietet Vergleiche an zwischen einer Welt in Schwarzweiß und einer in Farben. Längst verschollene Vergangenheit und Gegenwart geben sich die Hand und hebeln gleichzeitig das „waswarzuerst“ aus. Dialog von Rahmen zu Rahmen und manchmal auch im Inneren eines Einzelbildes.

Schubladen

Dass der Untertitel zur Ausstellung „Britische Dokumentarfotografie seit den 1960er Jahren“ lautet, wirkt fast schon störend, denn es leistet dem Schubladendenken Vorschub. Das Leben erzählt sich nicht selbstredend. Jedes Bild ein Roman. Man möchte die Sittenwächter vertreiben, die kategoriesierend beim Hinschauen zuschauen und Stempelkissen in der Wahrnehmungstasche bereit halten.
Facing Britain zeigt Lebensfreude und tiefste Tristesse: Leben und leben lassen, Sehen und gesehen werden, Denken und gedacht werden, Stillleben und Lautleben, gewesene Welten, Gegenwarten. Man möchte einfach hinsehen ohne die Schere des „Wasistdokumentarfotografie“ zu aktivieren.
Am Ende widerlegt sich das eingangs Gedachte. Stellt man sich ein zweites Mal vor dieselben Bilder, scheinen sie plötzlich andere Geschichten gespeichert zu haben. Wer glaubt, Fotografie sei das Eindeutige oder eine Form des objektiven Betrachtens, kann sich bei Facing Britain eines Besseren belehren lassen und schnell feststellen, dass es mit einem Besuch wahrscheinlich nicht getan ist.

Peter Mitchell, fotografiert von Rüdiger Dehnen.

Zu sehen sind Arbeiten von:

Rob Bremner, Tom Bulmer, Thom Corbishley, Robert Darch, Anna Fox, Ken Grant, Judy Greenway, Mohamed Hassan, Paul Hill, David Hurn, Barry Lewis, Markéta Luskacova, Kirsty Mackay, Niall Mc Diarmid, Daniel Meadows, Peter Mitchel, Tish Murtha, John Myers, Jon Nicholson, Kevin O`Farrell, Martin Parr, Mark Pinder, Paul Reas, Simon Roberts, Syd Shelton, Dave Sinclair, Homer Sykes, Jon Tonks.

Museum Goch im Internet