Schreibkraft
Heiner Frost

Lange Schatten oder: Mama kommt nicht mehr

  1. Tag

Strafgesetzbuch, Paragraph 46: Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. Bei der Zumessung der Strafe wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters […], die Gesinnung, die aus der Tat spricht und der bei der Tat aufgewendete Wille […], die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, […] sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie die Bemühungen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen …

Alles irgendwie normal

Herr Z. hat seine Frau vor acht Jahren kennengelernt. Die beiden heirateten. Sie haben zwei Söhne. Z.s größter Wunsch: eine Tochter. Die Ehe von Herrn Z. und seiner Frau: ohne besondere Vorkommnisse. Klar – man streitet sich mal. Kleinigkeiten. Z. und seine Frau leben mit der Schwiegermutter zusammen – zumindest auf Dreimonatsbasis. Z.s Vater muss alle drei Monate zurück nach Mazedonien. Eine Sache des Visums. Meist nimmt er seine Frau mit. Er mag ungern allein in der Heimat sein. Schwiegermutter und Schwiegertochter: nicht die dicksten Freunde. Man streitet hin und wieder. Es geht um Z.s Kinder. Es geht darum, wie Z.s Frau den Haushalt führt. „Keine großen Sachen“, sagen die Zeugen.

Die weiße Tüte

Am 12. November des vergangenen Jahres sind Z. und seine Frau bei Z.s Schwester zu Besuch. Gegen Abend klagt Frau Z. über Bauchschmerzen. Sie habe, sagt Frau Z. der Schwägerin, Durchfall gehabt und wolle duschen. Es ist 19.35 Uhr. Frau Z. duscht lange. Es ist gegen 21 Uhr, als sie aus dem Bad kommt – in der Hand eine weiße Plastiktüte. „Was hast du in der Tüte?”, fragt die Schwägerin. Frau Z. sagt, sie habe ihre Periode. Sie habe, sagt sie – und ist dabei aschfahl im Gesicht – ihre Tage. Sie habe stark geblutet. In der Tüte: Binden. Niemand müsse da hineinsehen, sagt Frau Z.. Herr Z. ist in Sorge. Er bittet seine Frau, zu einem Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen. Frau Z. will das nicht. Sie stellt die weiße Plastiktüte auf dem Balkon ab. Z.s Schwester, bei der man zu Gast ist, wohnt im ersten Obergeschoss. Z. erzählt dem Richter, er habe seine Frau auf Knien gebeten, ins Krankenhaus zu gehen. Dann bricht er in Tränen aus.

Kein Babybauch

Frau Z. hatte niemandem von ihrer Schwangerschaft erzählt. Sie habe einfach zugenommen. Man habe darüber gescherzt, erzählt Herr Z.. „Wenn du so weiter machst, überholst du mich noch“, habe er in Anspielung auf den Bauch seiner Frau gesagt. Z.s Nichte, die bei einem Gynäkologen in der Ausbildung ist, sagt: „Ich sehe jeden Tag schwangere Frauen. Ich weiß wie ein Babybauch aussieht.” Ihre Schwägerin habe keinen Babybauch gehabt. Das habe eher „nach Speck“ ausgesehen.

Es war doch ein Babybauch. Frau Z. hat im Bad der Schwägerin eine Tochter zur Welt gebracht. Sie hat den Säugling zu erstechen versucht und das Mädchen, als die Stiche keinen Erfolg hatten, erstickt. Frau Z. lässt sich schließlich darauf ein, dass man sie ins Krankenhaus bringt. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt etwas von dem toten Mädchen in der Plastiktüte. Niemand ahnt etwas. Im Krankenhaus gibt Frau Z. vor, eine Fehlgeburt gehabt zu haben. Zwölfte Woche.

Schweigen

Nun sitzt sie neben ihrem Anwalt und schweigt. Sie macht keine Angaben. Nicht zum Lebenslauf. Nicht zur Person. Alles ist Schweigen. („Die Schuld des Täter ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.”) Es muss doch, denkt man, ein Motiv geben – einen Grund. Irgendetwas. Und dann sagen 15 Zeugen aus, ohne eine Spur zu hinterlassen. Alles war doch normal. „Ich hätte doch für die meine Hand ins Feuer gelegt”, sagt eine der Zeuginnen.

Kein Weg

Da ist diese Tat – eine Tat, in die es keinen Weg zu geben scheint. Da ist Herr Z. – längst innerlich zerrissen. Er, der sich so sehr eine Tochter wünschte. Sein Weinen entspringt der Ohnmacht. Da sind die beiden Kinder, denen man gesagt hat, die Mutti sei im Krankenhaus. Was soll man auch sagen: Eure Mutti hat eure Schwester getötet und sitzt nun im Gefängnis?

Am Rand

Da ist Frau Z., die spätestens bei der Aussage ihres Mannes ebenfalls an den Rand des seelisch Möglichen zu geraten scheint. Einer der Jungs, sagt der Verteidiger, habe in einigen Tagen Geburtstag und die Mutter, habe ein Geschenk für ihn. „Würden Sie das mitnehmen?”, fragt er Herrn Z.. Herr Z. nickt. Seine Frau hat, so heißt es bei der Anklageverlesung, einen Menschen getötet, ohne Mörderin zu sein. Frau Z. ist 27 Jahre alt. Man hat sie wegen Totschlags angeklagt. „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen …”

Unbeschrieben

Was spricht für Frau Z.? Sie ist ein unbeschriebenes Blatt. Sie ist eine Mutter, die zwei Kinder zur Welt gebracht und bisher gut erzogen hat. Frau Z. hat ihre Tochter wenige Minuten nach deren Geburt getötet. Es bleibt ein Warum. Man wartet auf das psychiatrische Gutachten. Man möchte die Schatten wegschieben: Sie hüllen das Geschehene in Dunkelheit. Alle sind fassungslos. Niemand hätte das gedacht.

Neonatizid

In einer Hausarbeit von Therese Hallmann zum Thema „Der Neonatizid – Wenn Mütter ihr Neugeborenes töten” (2006) heißt es: „Die Auseinandersetzung mit der Thematik des Neonatizides gestaltet sich kompliziert, da es an wissenschaftlichen Erhebungen und empirischen Befunden fehlt. […] Eine zuverlässige Statistik über die genaue Anzahl der Fälle existiert nicht. 1996 sind 16 Fälle nachgewiesen und 1997 waren es 17. […] Der Gesetzgeber ahndet die Tötung eines Neugeborenen in der Regel nach §212 StGB (Totschlag) mit einem Strafmaß nicht unter fünf Jahren und in besonders schweren Fällen mit lebenslanger Freiheitsstrafe. In minderschweren Fällen (§213) kann eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren verhängt werden.”
Was Frau Z. zu erwarten hat, wird nicht zuletzt vom psychiatrischen Gutachten abhängen … Gesucht: ein Weg in die Tat. Es muss mehr bleiben als Fassungslosigkeit.

2. Tag

Eine Frage schwebt im Raum: Wie kann eine Mutter das eigene Kind unmittelbar nach dessen Geburt töten? 17 Stiche mit einem scharfen Gegenstand und anschließendes Ersticken mit der Hand oder einer aufgelegten Decke. Gibt es Erklärungen? Kann ohne Erklärung verurteilt werden? Eine Mutter tötet ein Neugeborenes. Ein Mädchen, geburtsreif, lebensfähig und ohne Erkrankungen – das Kind kommt zur Welt und ist kurze Zeit später tot. Die Mutter: unauffällig. Die Familie: unauffällig. Frau Z. und ihr Mann haben zwei Söhne. Der Ehemann hätte so gern ein drittes Kind gehabt: eine Tochter.

Hypothesen

Frau Z. hat sich entschlossen, dem Gericht gegenüber nichts auszusagen. Der Weg in die Tat kann also nur aus Hypothesen bestehen – Hypothesen, die sich auf eine Wirklichkeit stützen, die von Dritten mitgeteilt wird.
Wenn kein direkter Weg in die Tat auszumachen ist, kann vielleicht ein psychiatrisches Gutachten als Orientierung dienen. Ein Gutachten, das mit einer Hypothese endet. Da ist eine Frau, die quasi von der Geburt überrascht wurde. Realisten sagen: Das kann nicht sein. Die Geburt als Überraschung? Das Gericht sagt: eher nicht. Frau Z. hat schon, als sie von ihrer Schwangerschaft wusste, versucht, mittels Medikamenten, die sie aus dem Badezimmerschrank der Schwiegermutter nahm, die Schwangerschaft zu beenden. Ein Zentralwort des Prozesses: Schwiegermutter. Vorurteile nehmen Gestalt an. Da ist eine, die an der Angeklagten herumgemäkelt hat. Frau Z. hat dies und jenes falsch gemacht und fühlte sich der Kritik der Schwiergermutter ausgeliefert. Ihr Mann rät Frau Z., sich „keinen Kopf zu machen“. Die Schwiegereltern: alte Menschen. Er stellt sich – so empfindet es Z. – nicht hinter sie; bekennt nicht Farbe, Die Schwiegermutter soll auch an Z.s Familie nicht viel Gutes gelassen haben. Z. will sich nicht äußern – nennt keine Details. Ein Fehler?

Es zählt: das subjektive Empfinden

Die Familie – es ist die Familie des Mannes – hat nichts Außergewöhnliches bemerkt im Verhältnis von Z. und deren Schwiegermutter. Was zählt am Ende, wenn es um eine Tat wie diese geht, wenn die Z. sich in einer Notlage sieht? Der Gutachter ist eindeutig: Es zählt das subjektive Empfinden der Z.. Es geht weniger darum, was alle anderen nicht außergewöhnlich finden. Aber: Frau Z. hat wenig gesagt über den Zustand, in dem sie sich befand. Ein zentrales Wort des Gutachten: Traurigkeit. Immer wieder taucht der Begriff auf. Frau Z. hat schon vor der Tat Traurigkeit erlebt. Danach, in Untersuchungshaft : noch mehr Traurigkeit. Selbstvorwürfe. Aber auch die „ausgestanzte Erinnerung“. Die Tat: Ein schwarzes Loch, umkleidet von Erinnerungslosigkeit. Das Töten: aus der Überraschung entstanden. Das sei, so sagt es der Gutachter, bei Fällen von Säuglingstötungen, nicht selten der Fall. Z.s Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat: mindestens eingeschränkt. Trotzdem zwischendurch reflektiertes Handeln. Als das Stechen keinen „Erfolg“ hat, wechselt Z. das Vorgehen. Aus dem Erstechen wird das Ersticken. Später wird der Vorsitzende in seiner Urteilsbegründung auf eben diesen Umstand hinweisen: das Umschalten vom Einen ins Andere.

21

Der Gutachter sieht den Paragraph 21: Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, […] bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe […] gemildert werden.
Angeklagt ist Frau Z. wegen Totschlags. In seinem umsichtigen Plädoyer sieht der Staatsanwalt am Ende einen minder schweren Fall. Das klingt lapidarer als es der Strafrahmen mitteilt. Es geht um eine Höchststrafe von zehn Jahren. Beim Totschlag öffnet sich der Rahmen bei fünf Jahren und schließt bei 15 Jahren. Der Staatsanwalt sieht keine Mordmerkmale – keine niedrigen Beweggründe. Er sieht „gerade noch so eben“ einen minder schweren Fall. Fünf Jahre, sechs Monate beantragt er für eine Tat, die „viele Fragen offen lässt und uns sinnlos erscheint“.
Z.s Verteidiger plädieren am Ende unisono für ein Strafmaß von zwei Jahren, die man zur Bewährung aussetzen solle. Sie sind sicher, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden könne. Es bestehe keine Fluchtgefahr. Wohin soll Z. fliehen? In ihre Heimat Mazedonien? Weg von ihren Kindern und dem Mann, der im Zeugenstand am ersten Tag sagte, dass er seine Frau weiter lieben werde?

Statistik

Es geht in den Plädoyers der Verteidiger auch um Statistiken. In zehn Jahren hat es in Deutschland 92 Fälle von Kindestötungen gegeben. In der Hälfte der Fälle wurde am Schluss ein Urteil mit einer Bewährungsstrafe ausgesprochen. Das zeigt eine Tendenz. Rechtssprechung ist aber im besten Fall nicht tendenziell. Sie soll sich auf Fakten stützen und – wenn Zweifel anstehen – freisprechen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. „Bitte finden Sie sich in einer Stunde wieder hier ein.“

Nachbarschaft der Zahlen

Es wird um einen Unterschied gehen, der viel größer ist, als die Nachbarschaft der Zahlen es vermuten lässt. Paragraph 212 (StGB) hier – Paragraph 213 (Minder schwerer Fall des Totschlags) dort. Paragraph 213: War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

Fünfneun

Die Kammer urteilt: Fünf Jahre, neun Monate. Es ist kein minder schwerer Fall. Die Begründung: ausführlich. „Die Angeklagte hat sich nach Beratung mit ihren Verteidigern entschlossen, hier keine Angaben zu machen.“ So beginnt es. Für einen minder schweren Fall brauche man aber, so der Vorsitzende, besondere Umstände. „Die haben wir hier nicht finden können.“ Der Gutachter hat ein anderes Bild entworfen. Vielleicht war es kein Bild – vielleicht muss von einer Skizze gesprochen werden. Es ging um eine Arbeitshypothese.
Frau Z. habe geschwiegen und die Kammer dürfe schließlich [zur Begründung der Annahme eines minder schweren Falls]nichts erfinden. Die Lage der Angeklagten sei, so sieht es die Kammer, nicht aussichtslos gewesen. Eine „Zwangslage“ habe man nicht feststellen können. Die Rechtsprechung erwarte zur Rechtfertigung und somit Begründung eines minder schweren Falls besondere Umstände. Die aber seien nicht gegeben. Eine Geburt allein reiche als besonderer Umstand nicht aus. Nochmals macht der Vorsitzende klar, dass man nicht einfach etwas erfinden könne.
Hätte Frau Z. also reden sollen? Hätte sie Auskunft erteilen und Zugang zu ihrem Seelenleben gewähren sollen?
Vor Beginn einer Befragung werden Angeklagte darüber belehrt, dass es ihnen frei steht, sich zur Sache zu äußern. Sie können auch schweigen. Frau Z. hat das Schweigen gewählt. Die Folge: Die Kammer findet keine Zwangslage. Und das Gutachten?

Keine Zweifel

Auch Zweifel gibt es nicht. Dass Frau Z. die Tat begangen hat, steht wohl tatsächlich außer Frage. Aber – so sieht es die Kammer – Frau Z. wusste, was sie da tut. Wie hätte sie denn sonst, nachdem das Stechen nicht zum Tod des Kindes führte, auf das Ersticken umschalten können? Was Frau Z. empfunden hat, hüllt sich in Dunkelheit.
Den Kindern hat man gesagt, „die Mutti ist im Krankenhaus“. Man will nicht in Frau Z.s Haut stecken – natürlich nicht. Man möchte auch mit ihrem Mann nicht tauschen. Wird er Z. weiter lieben können? Was wird er den Söhnen sagen, wenn sie alt genug sind, Dinge zu verstehen? „Es gab da mal eine Schwester.“ „Wo ist die?“ „Sie ist gestorben. Gleich nach der Geburt.“ „War sie krank? „Nein.“ „Woran ist sie gestorben? War sie krank?“ „Nein.“ „Und wo ist Mama?“ „Mama kommt nicht mehr…“
Post an Frost