Schreibkraft
Heiner Frost

Kanitverstan*

Der erste Gedanke: Vielleicht ist man zu alt. Das Gehör hat nachgelassen. Besser mal beim Kollegen nachfragen: „Sag mal, hast du was verstanden?“ „Nicht wirklich viel.“ Aber stand denn nicht beim „Verhandlungssatus“ das Wort „öffentlich“???

Nur, damit Klarheit herrscht: Hier ist die Rede von den akustischen Verhältnissen im Saal 105 des Klever Landgerichts. Wurde da nicht vor einiger Zeit eine Art Verstärkungsanlage eingebaut? Unbestätigten Informationen zufolge geht es dabei um einen niedrigen sechsstelligen Betrag – verbaut in Mikrofone, Verstärker, Lautsprecher und einen Beamer. Zugegeben: Bei Letzterem geht es eher nicht ums Hören …
Eine Verstärkungsanlage für Gesagtes könnte nützlich sein für alle, die weiter hinten im Saal ihre Arbeit tun oder aber Angehörige von Angeklagten oder Opfern sind. Es geht nicht nur ums Verstehen im akustischen Sinn. Dem akustischen Verstehen folgt ja das intellektuelle Verstehen. Es folgt die Nachvollziehbarkeit und vor allem – im Namen des Volkes: die akustische Teilhabe.

Staffage

Es gibt – auch das sei nicht verschwiegen – Vorsitzende, die laut, langsam und deutlich sprechen. Man kann sie verstehen: Wort für Wort. Aber immer wieder gibt es beispielsweise Zeugen, die leise sprechen. Auch das sei noch einmal festgestellt: Alle Zeugen (oder Gutachter) sprechen in Richtung der Richterbank. So soll es sein. Aber es sollkanndarf nicht sein, dass weiter hinten im Saal die Zuhörer unter Klangnebelschwaden verhungern. Kollegen von außerhalb – man trifft sie gern bei ‚größeren Sachen‘ – zeigen sich mitunter erstaunt von den Klever Verhältnissen. Alle Tische der Prozessbeteiligten sind mit Mikrofonen ausgerüstet: Ausnahme ist der Zeugentisch. Trotzdem verkommen die Mikrofone nicht selten zur Staffage.

Love-Parade

„Waren Sie mal beim Love-Parade-Prozess?“, fragte neulich ein Kollege. „Man hat alles verstanden – jedes Wort – egal, wo man saß.“ Das als Überleitung zur Anschlussfrage: „Ist das hier immer so?“
Was soll man antworten? „Nicht immer, aber auch nicht wirklich selten.“
Die Verhältnisse in manchen Hauptverhandlungen: Noch immer eine akustische Zumutung. Hinzufügen möchte man: „Sehr geehrte Damen und Herren Richter: Wenn Sie uns nicht dabei haben möchten, sperren Sie die Türen ab.“ Die Stgrafprozessordnung allerdings dürfte es anders sehen.

Silbentrümmer

Und noch etwas: Bei einem Text, den man selbst vom Blatt vorliest, neigt man dazu anzunehmen, dass alle anderen ihn verstehen. (Wir reden von der Akustik – nicht vom Intellekt. Dem ist nicht so, wenn man das Vorgelesene mehr in sich selbst hineinnuschelt, betonungslos und oder gnadenlos schnell vorträgt. Geht es eigentlich um Fahrlässigkeit oder bedingten Vorsatz?

Höchststrafe

Man müsste manchen Vorsitzenden zur Höchststrafe verurteilen: Die eigene Verhandlung vom Reporterplatz aus verfolgen – ohne Kenntnis der Details. Man würde „viel Vergnügen“ wünschen bei der Rekonstruktion der Wort- und Silbentrümmer.
Und wenn wir einmal die Berichterstatter außen vor ließen – es bleiben noch immer Menschen, für die es essentiell ist, zu verstehen, was da vorne vor sich geht: Sie möchten wissen, worum es geht. Vielleicht sollte man von akustischer Teilhabe sprechen. Ab ds t a ch o chtg. J dkt ch ne Tl. Alles klar?
Niemand möchte den Eindruck haben, im hinteren Teil des Saals zu einer unwichtigen Gruppe zu gehören. Nicht vor Gericht. Nirgendwo.

Verständigung darf kein Zufall ein

Merke: Es zählt nicht, was die Vorsitzenden glauben sondern das, was die anderen empfinden, wenn sie akustisch ausgeklammert werden. Was nutzen kluge Urteile oder gute Plädoyers, wenn sie sich akustisch selbst verhindern? Verständlichkeit sollte kein Zufall sein. Verständlichkeit darf kein Zufall sein. Gericht ist kein „Wirhierobenundihrdaunten“. Wer erscheint – egal, in welcher Funktion –, hat Anspruch auf Teilhabe.
Ein Kollege schickte nach der Lektüre des Textes einen Link zu einem Text aus der „Frankfurter Allgemeine“ vom 6. Januar 2011: Ein Aschaffenburger Anwalt hat sich auf die „miserable Akustik“ des altehrwürdigen Sitzungssaals 168 – des größten in dem Justizgebäude in der Aschaffenburger Innenstadt – berufen, um ein Urteil der Ersten Großen Strafkammer anzufechten.
Eines noch: Im Augenblick des Schreibens verspürt man ein ungutes Gefühl. Begeht man „Majestätsbeleidigung“? Das wäre schade, denn es sei nochmals betont: Es geht um Teilhabe. Es ist davon auszugehen, dass niemand absichtlich handelt. In dubio pro reo. Es geht darum, allen Anwesenden „Zugang“ zu gewähren, und Zugang ist mehr als eine offene Tür.

*Kanitverstan ist der Titel einer Geschichte von Johann Peter Hebel,  bei der es um Verständnisschwierigkeiten beim Verstehen einer anderen Sprache geht.  In den 60ern fand sich Hebels Geschichte in vielen Lesebüchern und ist mir in Erinnerung geblieben.

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