Schreibkraft
Heiner Frost

Lauter Charakterdarsteller

Foto: Rüdiger Dehnen

Es ist wie in der Historie. Napoleon ist klein, aber er ist der Boss. Besser, man weiß das. Aber: Kein Boss ohne Volk. Zu berichten wäre von Socrates, Ragnar, Masca, Herman und Goliath – jeder einzelne ein Charakterdarsteller. Die meisten kommen im Eselgrau daher. Schwer zu unterscheiden.
Frank Noppen begrüßt uns vom Fenster aus. „Ich zieh‘ mir eben die Eselklamotten an“, sagt der ‚Eselbauer‘, der im wirklichen Leben im Straßenbau unterwegs ist und die Esel zum „Runterkommen“ braucht. „Schau dir die Tiere an: total ruhig. Das strahlt ab.“

Graue Ruhe

Warum also nicht auch anderen das wunderbare Gefühl der „grauen Ruhe“ zuteil werden lassen? Eselwandern? Alles beginnt mit der Theorie, die Frank („Lass uns Du sagen – das ist einfacher“) gern auch Esologie nennt.

Hierarchien

„Esel sind Herdentiere. Du bist neu in der Herde. Die geben dir zehn Minuten, dann steht fest, wer von euch oben und wer unten in der Hierarchie ist.“ Vergeben werden die Esel nach Franks Bauchgefühl. Nicht jeder Mensch passt zu jedem Esel. Was, wenn‘s so gar nicht passt? „Dann muss der Esel-ADAC kommen“, sagt Frank. Spricht: Wenn nichts mehr geht, kommt Frank.

Setz dich durch

Die Ansage: „Setz dich durch.“ Es ist ja wie im wirklichen Leben, denke ich: Am besten klare Ansagen. „Wenn der Esel nicht will, dreh‘ eine Runde – dann geht‘s meistens.“
Füttern? Nein. Die Angestellten werden nach einer Wanderung entlohnt. Zwischendrin höchstens Gras auf der Wiese. „Wenn der Esel von sich aus frisst, sagst du ‚Nein‘. Wenn du ‚lecker‘ sagst, weiß er: Jetzt darf er grasen.“ Hou, hou – dazu die Scheibenwischerhand vorm Eselsauge (Abstand circa 20 Zentimeter) bedeutet: Halt.

30 Meter Anhalteweg

Und das Wichtigste: „Wenn der Esel abhaut, lass die Leine los. Lass ihn laufen. Nach spätestens 30 Metern hält der an.“ Ich denke an Conny: Conny war mit Ragnar unterwegs. Ragnar scheute und wollte weg. Conny ließ die Leine nicht los und hatte anschließend zwei wunderschönblaugescheckte Füße. Ich bin trotzdem ohne Stahlkappenschuhe angereist. Es wird auch so gehen.

Packsattel

Frank legt meinem Esel das Geschirr an. „Ich werde mit einem zweiten Esel ein Stück mitkommen“, sagt er und legt dem Zweit-Esel einen mexikanischen Packsattel auf. Nein – geritten wird nicht, „aber manche Leute nehmen sich Picknicksachen mit.“ (Das macht Sinn, wenn man die Acht-Stunden-Tour vor sich hat. Aber auch bei zwei Stunden hilft ja ein Snack zwischendurch.) Die Regel: Heiß darf nicht. „Wir hatten mal ein Paar, die hatten eine Thermoskanne dabei mit heißem Kaffee drin. Der ist dann ausgelaufen und der Esel hat sich den Rücken verbrannt. Seitdem kontrolliere ich das.“
Windsorknoten

Während Frank mit dem Sattel zu tun hat, fragt er: „Trägst du schon mal Krawatte?“ „Nö.“ „Ich befestige den Sattel mit einem doppelten Windsorknoten“, sagt Frank. Ach so. Vor dem Auflegen von Sattel und -decke hat er das Fell kontrolliert. „Es soll nichts im Fell festsitzen. Das würde ja dann beim Tragen scheuern. Frank achtet auch darauf, dass die Satteldecke so aufliegt, dass alle Haare „in Fließrichtung“ bleiben. Das Personal soll es gut haben.

Dreitagewoche

Napoleon und die anderen arbeiten an drei Tagen in der Woche: Freitag, Samstag, Sonntag. Danach: Freizeit. In Ferienzeiten kommt noch der Mittwoch dazu. Wer mit ihnen loszieht, hat die Wahl: Verschiedene Strecken sind im Angebot. Zwei Stunden dauert die kleine Runde – acht die große. Mittlerweile ist mein Esel reisefertig.
„Normalerweise haben ich den Leuten jetzt eine Karte ausgehändigt, auf der die verschiedenen Strecken eingezeichnet sind, aber wir drehen ja nur eine kurze Runde.“ Kommando von Frank an den potentiellen Eselführer: „Leine kurz halten.“ „Jawohl.“ Auf geht‘s. Wie hieß noch mal mein Esel? Ich glaube, es war Masca.

Eselohren

Ich habe jetzt also meine Zehnminutenherdenprobezeit. Bloß nicht versemmeln. Ach ja: „Wenn der Esel die Ohren anlegt, fühlt er sich wohl“, sagt Frank. Gut zu wissen. Noch ragen Mascas Ohren eher senkrecht himmelwärts. Merke: Man ahnt nichts Gutes. Ich versuche es mit einem Halsklaps. Es staubt aus Mascas Fell. Ein Zungenschnalzen: Ab die Post.

Lecker

Nach 100 Metern hält Frank den Zweit-Esel an. „Lecker“, sagt Frank. Das Kommando zum Essenfassen. Kann nicht schaden, denke ich und sage: „Lecker.“ Das lässt Masca sich nicht zwei Mal sagen. Vom Wiesengrund dringt ein zufriedenes Schmatzen an mein Ohr. Wir sind ein Topteam, denke ich. Dann ziehe ich an der Leine. Zungeschnalzen. Weiter geht‘s.

Konversation

Beim Weitergehen versuche ich es mit ein bisschen Konversation. Ich erzähle Masca von meinem Hund und bilde mir sicherheitshalber ein, Mascas Blick signalisiert Interesse.
„Dürfte ich meinen Hund eigentlich mitbringen?“, frage ich Frank. „Kein Problem. So lange der Hund vorne läuft, ist alles gut.“ Wieso vorne? „Na ja, wenn der Hund hinter dem Esel läuft und zu nahe an den Beinen ist, kann er was abbekommen“, erklärt Frank.
Plötzlich bleibt Masca stehen. Nichts geht mehr. Ich ziehe sanft an der Leine. Wie war doch das Eselgebot: Runde drehen – weiter gehen. Es funktioniert. Ich bilde mir ein, dass Mascas Ohren nun schon ein bisschen nach hinten geklappt sind. Also: Anhalten. „Lecker.“ Es gibt ja viele Eselleckereien am Wegrand.

Konkurrenz

Ja, jetzt würde ich mir auch zutrauen, mit Masca allein die Wildnis von Goch Kessel zu erkunden. An einer Pferdekoppel schaut die Konkurrenz interessiert zu, wie ich mit Masca vorbeiziehe. Hunde sind keine unterwegs. Alles bestens. Die „Lass-Los-Optin“ muss nicht gezogen werden. Nach einer Viertelstunde drehen wir um. Es geht zurück Richtung Stall und niemand kann mir erzählen, dass Masca das nicht merkt.

Belohnung

Zurück beim Stall weiß Masca aber sowas von genau, was jetzt kommt … „Am Ende einer Tour bekommen die Esel immer eine Belohnung“, sagt Eselbauer Frank, „und die meisten Kunden bürsten den Eseln dann noch das Fell.“ Masca ist längst unruhig geworden. Frank soll nicht reden – Frank soll mit der Belohnung rausrücken. Jetzt sofort. Gesagt, getan. Lecker, lecker. Ich nehme die Bürste und drücke meine Hochachtung aus.

Zehn Jahre

„In diesem Jahr haben wir Zehnjähriges“, sagt Frank. Ein Eselfrühstück ist geplant. „Wir decken dann hier auf der Wiese einen Tisch mit lauter leckeren Sachen für die Esel“, sagt Frank. Wenn Corona es zulässt, soll das im Juni stattfinden. Aber wer weiß das schon? Auf Franks Internetseite „Der Eselbauer“ lese ich anschließend, dass er einen Nachfolger sucht. „Wir möchten gern wieder reisen, bevor wir zu alt sind“, steht da.

Foto: Rüdiger Dehnen

Der Eselbauer im Internet