Schreibkraft
Heiner Frost

Kulturhauptstadt – vielleicht

Natürlich kann man sich aufmachen und die Metropolen besuchen. Paris, London, Berlin, Barcelona – öffentliche Städte. Man kennt die Bilder – die Erwartungen sind programmiert. Die einen kommen zum Shoppen – andere zum Chillen. Manche auch wegen der Kultur. All das gibt es reichlich in diesen Städten, die man im Reisezeitalter auch Destinationen nennt. Wer es etwas anders möchte, der könnte vielleicht in Temeswar fündig werden.

Temeswar – Stadt in Rumänien. Entfernung Weeze-Temeswar: 1.570 Kilometer. Luftlinie: 1.281,51 Kilometer. Fahrzeit: 14 Stunden, 46 Minuten. Flugzeit: zwei Stunden, zehn Minuten. Eine Autofahrt nach Köln an einem schlechten Tag kann länger dauern. Stadt in Rumänien, acht Buchstaben: Temeswar – in der Landessprache ist es einer mehr: Timisiora. Braucht man ein Visum? Nein.

Es ist Sommer. Temeswar grüßt mit anstrengendfeuchten 28 Grad und spendiert dazu einen amerikanischen  Soundtrack. Polizeisirenen wie man sie aus amerikanischen Serien kennt – oder aus der bereisten Wirklichkeit. Wikipedia ordnet der Stadt ein kontinentales Klima zu. Im Juli beträgt die Durchschnittstemperatur angenehme 21 Grad. Die Taxifahrt vom Flughafen zur Pension nahe am Zentrum kostet 50 Lei. Man muss sich als währungseinheitlicher Europäer erst daran gewöhnen, dass auch der Euro seine Grenzen hat. Jede Währung unterliegt einer Tagesform. Ein Euro entspricht circa 4,50 Lei. 50 Lei – das sind 11,11 Euro. Kein Preis für eine Halbstundenfahrt von Flughafen ins Zentrum.
Es ist Donnerstagnachmittag, 17 Uhr. Der Verkehr ist zäh. Erste Eindrücke: Die Stadt lässt sich Vergangenheit anmerken. Die Vorstadt: Die Seele versteckt hinter Fassaden, die von alternder Jugendstilpracht bis zum Plattenbau reichen. Manchmal: Rosenrabatten an den Straßenrändern.
Der Weg ins Zentrum wird zu einem Weg in die Geschichte. Die Architektur: Ein bisschen wienerisch. Anblicke zwischen Heldenplatz und Wienerwald. Die Menschen: Längst am Puls der Zeit. Man trägt Handy – meist am Ohr – oder wischt über Smartphonebildschirme. Die Konsumenten-Gegenwart ist eingetroffen: KFC, Mäckes, Orange, Vodafone: Ein Ensemble des Must Have.

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In der Pension spricht man Englisch. „How long does it take to get to the Center?“ „Five minutes if you take a walk.“ Die Pension: Gleich neben der tschechischen Botschaft. In der Nähe: Ein Park. Temeswar hat viele Parks.
Es dauert tatsächlich kaum fünf Minuten, bis man im Zentrum ist. Einmal über den Fluss. Da liegt ein Restaurantschiff am Ufer. Eine orthodoxe Kathedrale in Sichtweite streckt eine Art Zuckerhutturm in den Abendhimmel. Und dann dieses Geräusch. Man überlegt, was es ist. Es kämpft gegen den Straßenlärm und übertönt ihn fast: Zigtausende Krähen nisten in den Baumkronen rings um die Kathedrale. Es hitchcockt. Mittlerweile ist es 18 Uhr. Morgen früh um neun werden die Krähen weg sein. Der Park an der Kathedrale: Nichts als eine Vogel-Schlafstadt. Tagsüber sind die Vögel wohl auf Arbeit.
Von der Kathedrale leitet eine Sichtachse den Blick hin zur Oper – gebaut von Wiener Architekten. Zwischen Kathedrale und Oper: Die Flaniermeile – vielleicht 700 Meter lang. Die Mitte, wo vielleicht einmal Autos fuhren, schmückt sich mit bunt bepflanzten Blumenbeeten. Rechts und links: Geschäfte in verwitterter Paradearchitektur.  Auf der Hälfte der Strecke zwischen Kathedrale und Oper: Ein großer Springbrunnen, der sich fontänenspeiend Mühe gibt und in verschiedenen Farben angestrahlt wird, sobald die Dämmerung eintrifft. Vor den Geschäften: Cafès, Restaurants, Cocktailbars. Eine Art Kö ohne Protz. Vielleicht ist Temeswar nichts für die Shopping Queens dieser Welt. Aber: Auch hier bestäuben die Geschäfte den Außenbereich mit Klang. Sitzt man im Café weit genug vom Lautsprecher entfernt, bleibt nur das Diktat des Schlagzeugs. Alle Melodien lösen sich in Luft auf.
Die Stadt mäandert zwischen einst und jetzt, Historie und Gegenwart. Da sind diese altgewordenen Gebäude und da ist das Leben, das niemanden zurücklässt. Es gibt reichlich Stellen, an denen sich etwas, das man nicht Architektur nennen möchte, aufdrängt: Plattenbaufunktionalismus – gesichtslos, irgendwie traurig.
Wenn auf einem Schild über einem Geschäft „BRD“ steht, ist es nicht die Deutsche Botschaft, sondern die „Group Societe Generale“ – eine Bank. Immerhin: Von der Gesamtbevölkerung Temeswars – im Jahr 2011 bestand sie aus 319.279 Einwohnern – sind 4.193 Deutsche. (Das entspricht circa 2,25 Prozent.) Nach den Ungarn (15.564) und den Serben (6.311) stellen Deutsche die größte nicht-rumänische Gruppe. Partnerstädte: Gera und Karlsruhe
Die Lichterstadt: 1884 war Temeswar die erste europäische Stadt mit einem kompletten Stromnetz, das die Stadt mit elektrischem Licht versah: 731 Lampen. Man kann noch weiter zurück: 1771 erschien hier die erste Zeitung Rumäniens, später die erste Deutsche Zeitung im südöstlichen Teil Europas, die „Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien“. Als Schreiber fühlt man Heimat.  Man muss all das nicht wissen, aber es passt zu dem, was man sieht – färbt die Gegenwart ein und gibt der Stadt ihr Gewicht. Temeswar ist alles andere als charmelos.
Drei große Plätze schmücken das Stadtbild: Domplatz, Freiheitsplatz und Siegesplatz – der Platz vor der Oper.  Plätze sind Wohnzimmer – sie ziehen das Leben an und verkünden Botschaften. Siegesplatz: Kinder spielen, Gaukler verkaufen Luftballons. Taubenballett. Wenn jemand mit ausladenden Gesten Brotkrumen ausstreut, beginnt der Kampf der Friedensvögel. Ceausescu war einmal.
Schräg gegenüber der Oper: Das Hotel Lloyd. Wiener Caféhausarchitektur. Wer hier speisen möchte, sollte einen Tag vorher bei einem Kaffee in Ruhe die Karte studieren. Überhaupt: Speisekarten sind – außer natürlich in der Landessprache – mindestens in Englisch abgefasst. Viele auch in Deutsch. Ein bisschen Fantasie muss man mitbringen: „Gekochtes gerauchertes Bein“. Die permanente Frage des Personals, nachdem man um die Rechnung gebeten hat: „Cash oder Card?“
Temeswar hat – wo gibt es das sonst in Europa? – drei Staatstheater. Es wird in drei Sprachen gespielt: Rumänisch, Ungarisch und … Deutsch: Ein Plakat an der Oper kündigt „Biedermann und die Brandstifter“ an und „Der kleine Prinz“ und „Elektra“ und „Der nackte Wahnsinn“. Die deutschen Titel fett gedruckt – darunter, im Normaldruck, die rumänischen Übersetzungen – „Mai Usor cu Buniuta!“ – „Lasst Oma in Ruhe!“ An der Schauspielschule findet der theoretische Unterricht auf Rumänisch statt – die Praxis: Deutsch.
Auf der Tür des Tourismus-Büros: Die Öffnungszeiten. Geöffnet wird um 9 Uhr. Alles ist relativ. Was sind schon zehn Minuten? Auf der Flaniermeile sind regelmäßig Polizisten unterwegs – sommerhimmelblaue Pistolengriffe lugen aus den Holstern. Die Streife: Ein Spaziergang unter netten Menschen. Alles ruhig. Ab und  zu ein Gespräch mit Passanten.
Wer von der Kathedrale Richtung Oper möchte, muss eine der großen Verkehrsadern queren – sie trennt das Kirchliche vom Weltlichen. Die Fußgängerampeln allesamt im Countdownmodus. Noch 16 Sekunden, noch 14 … Es wartet sich leichter, wenn die Portionsgröße feststeht. Den Fußgängern lässt man zwölf Sekunden – den Autos 46. Kaum jemand läuft bei Rot.
Auf der Flaniermeile steht im ersten Viertel zwischen Kathedrale und Oper eine säugende Wölfin auf einem vielleicht zwölf Meter hohen Sockel. Die Wölfin: Ein Geschenk der Stadt Rom. Die Italiener und die Rumänier, heißt es auf einer Tafel, entstammen derselben Quelle.
Wenn es heiß ist draußen, bieten manche Cafés und Bars Wassersprühnebel unter ihren Markisen an. Wenn es regnet, wird aus der Flaniermeile in Minutenschnelle eine Wüste: Alle Unterhaltung wird abgebaut – die Markisen werden eingerollt.  Durchschnittsniederschlagsmenge im Juli in Millimetern: 50,4.  Durchschnittsregentage im Juli: Sieben. Der Springbrunnen kämpft jetzt allein gegen den Niederschlag. Trotzig spuckt er seine Fontänen dem Regen entgegen. Am Ende fallen beide – Fontänentropfen und Regentropfen – verbrüdert aufs Pflaster. Das Wasser regiert. Es regnet kurz und heftig – danach geht das Leben weiter. Essen, trinken, reden, telefonieren.

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Temeswars Plätze sind sehenswert: Auf dem Domplatz könnte man gleich historische Filme drehen. Alles ist fein herausgeputzt. Alles strahlt. Der Platz: Eine Einladung. Die Stadt bewirbt sich. Sie möchte europäische Kulturhauptstadt werden: 2021 könnte es so weit sein.
Wenn der Abend über die Stadt fällt, kehren die Krähen zurück in ihren Park. Alle, die dort keinen Platz finden, sitzen auf den langgezogenen Giebeln der Häuser, die die Plätze umstehen: Vogelsilhouetten vor untergehender Sonne. Ein gutes Essen, ein paar Cocktails in der Tempo-Bar – Abschied von einer schönen Stadt. „How did you like the town?“, fragt die Frau an der Rezeption. „It‘s beautiful. I‘ll be back.“ Was würde man noch sagen: Temeswar hat eine Form von Schönheit, die nicht für Hochglanzmagazine taugt. Temeswar öffnet den Blick für Geschichte. Temeswar ist nichts für Fastfood-Tourismus. Temeswar schafft den Spagat zwischen Rush-Hour und Langsamkeit, zwischen Farbe und Würde, zwischen Abblättern und Aufgemotztheit. Wer nach Temeswar reist, stellt die Uhr um eine Stunde vor und die Zeit zurück. Yesterday meets today. In der Stadt existieren zwei Zeitebenen parallel. Temeswar vereint ansatzlos das Gewesene mit dem Jetzigen – nichts für Leute mit dem Hang zu schnieken Metropolen. Temeswar erzählt immer auch Hinterhofgeschichten. Natürlich: Temeswar zu lieben setzt die Toleranz für Verwitterung voraus und den Hang zum Maroden. Temeswar ist kein Berieselungsziel. Wer zur Berieselung anreist, könnte eine Enttäuschung erleben. Ein taubes Gefühl könnte zurückbleiben. Temeswar ist ein Ort für Schriftsteller. Hinsetzen, beobachten, beschreiben.
Beim nächsten Besuch, so viel steht fest, muss Saison sein. Jetzt schlafen Oper und Theater: Sommerpause. Auf einem gelben Plakat steht in schwarzer Schrift: „La reverdere, la toamna – Auf Wiedersehen im Herbst“. [Der Herbst, denke ich, ist die schönste Jahreszeit. Alles andere: Zeiten im Jahr.] Darunter steht: „Deutsches Staatstheater Temeswar.“ Ja: Wir sehen uns im Herbst. Nach 36 Stunden ein Blick auf den Schrittzähler: 34.673. In Wien wäre man vielleicht Fiacker gefahren. Einmal wenigstens. Immerhin: Am Friedensplatz kann man – gleich neben der Straßenbahnhaltestelle Fahrräder mieten (Velo TM). Vielleicht führen sie zum Kulturhauptstadtjahr, wenn‘s denn klappt, Kutschfahrten ein. Passen tät‘s.

Hitchcock in Temeswar

Hitchcock in Temeswar