Schreibkraft
Heiner Frost

Wenn die Schutzengel abreisen

Die Beschränkung beginnt beim Setzen der Ortsmarke. Man möchte nicht „Bedburg-Hau“ schreiben – man möchte mindestens die Welt zur Ortsmarke erklären … oder die eigene Seele. Man muss hin. Und kann nicht. Aber man muss. Man muss sich einlassen auf ein Elend, das die Seele ankratzt, angreift, umstülpt. Man muss diesen Ort betreten, von dem die Schutzengel längst geflohen sind. Zurück bleibt das Grauen.
 
 Im neuen Stück von mini-art geht es nicht, wie man meinen könnte, um Geschichte. Es geht nicht um Vergangenes. Es geht nicht um das Gewesene. Es geht um das Mögliche. Es geht darum, wie jeder Mensch zum Opfer werden kann oder zum Täter. Es geht darum, wie Haltung entsteht oder verschwindet …
Der Anlass: Kindereuthanasie in dem, was manche das Dritte Reich nennen und was eigentlich die erste Armut heißen müsste. Dass Kinder zu unwertem Leben deklariert und schließlich umgebracht werden in einem Haus, das sich noch dazu Schutzengelhaus nennt, zeigt die spektralen Möglichkeiten. Es zeigt den Weg eines Wortes in etwas, das seinem Gegenteil entspricht. Gewinnwarnung, Industriepark, Freisetzen – die scheinbar harmlosen Verdrehungen unserer Tage.
Dass das Grauen in eine theatrale Form findet, ist das Verdienst von Crischa Ohler, Sjef van der Linden und Regisseur Rinus Knobel. Was in der Beschreibung „theatrale Collage zum Thema Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus am Beispiel der ehemaligen Kinderfachabteilung Waldniel-Holstert“ genannt wird, ist Realitätstheater auf subtilstem und allerhöchstem Niveau. „Das Schutzengelhaus“ ist große Kunst, die von Fragen handelt. Große Kunst handelt immer von Fragen – Antworten sind anderen vorbehalten. Großes Theater stellt Fragen: Wie entsteht Haltung? Wie wird sie zerstört? Wie pflanzt sich Geschichte fort?
Theater ist oft genug auch entlarvend. Tausende Sonntagsreden handeln von lebendigem Erinnern als Verhinderung von katastrophaler Geschichts-Wiederholung. Parfumierte Worte. Auch der Nationalsozialismus und sein Seelenkern waren nicht von jetzt auf gleich da. Alles beginnt im Kleinen – muss sich fortsetzen, auf fruchtbarem Boden fallen. Der Boden – das sind wir.
„Wie bekämpft man eine Idee?“, heißt es in einem Dialog in „Ben Hur“. Die Antwort: „Mit einer anderen Idee.“ Theater ist eine solche Idee. Was mini-art da inszeniert, ist keine Klugscheißerei auf allerhöchster Ebene – es ist Theater der eigenen Angst. Unglaubwürdig macht sich, wer einfach schnell mal behauptet, ihm könne all das nicht passieren. „Das Schutzengelhaus“ trifft deshalb so tief, weil kein Zeigefinger in der Luft kreist. „Das Schutzengelhaus“ weckt einen Zielkonflikt: Ins Kabarett gehst du, um zu lachen. Das Ziel: Die anderen. Bei diesem Theater entsteht Verständnis aus der notwendigen Einsicht, dass man selbst die Zielperson ist. Aber: Niemand macht einen dazu – das würde nicht funktionieren, würde nur Abwehr auslösen. Man wünscht einem Stück wie dem „Schutzengelhaus“ alle großen Bühnen dieser Welt, weil es Notwendigkeiten zentralisiert: Es geht um die Notwendigkeit des Hinterfragens. Wer je glaubt, in ihm wohne kein Täter, der könnte Harald Welzers Buch „Täter“ lesen oder Andreas Kinasts „Das Kind ist nicht abrichtfähig“. [Aus einem Interview mit dem an der Euthanasie beteiligten Arzt Prof. Dr. Werner Catel: „Glauben Sie mir, es ist in jedem Fall möglich, die seelenlosen Wesen von werdenden Menschen zu unterscheiden. Ich habe Kreaturen gesehen, die fraglos Vollidioten waren und dennoch äußerlich hübschen Kindern glichen.“] Der innere Blick schweift über eine Seelenlandschaft, in der längst Wunschkinder nicht mehr in den Bereich des Unmöglichen gehören. Der Weg vom Erwünschten zum Unerwünschten ist kurz und speist sich aus denselben Möglichkeiten.
Das Stück setzt auf die große Kunst der kleinen Dinge – es braucht keine große Requisite. Es beginnt mit einer Video-Einspielung aus einem Berlin in Zeiten der Unschuld und gleitet dann ab in das Theater der Phantasie, wo kleinste Gesten die Seele ins Trudeln bringen können. Man braucht keine Realität – die Ahnung reicht. Eigentlich müssten sie das Stück für Einzelmenschen aufführen – das Schutzengelhaus möchte man allein durchleben. Man muss hin. Man weiß nicht, ob mans aushält. Aber man muss. Es hilft dem eigenen Leben auf die Beine.
„Das Schutzengelhaus“ ist eine Collage , die ans Eingemachte geht – kein Wohlfühltheater, aber Theater, das man sehr wohl fühlen kann. Das Stück nähert sich seinem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Es blickt in die Perspektive der Kinder, die der Eltern, die der Ärzte. Am Ende geht es nicht darum, ob man das Stück aushalten kann – es bleibt die Frage, ob man sich selber vor und in diesem Stück aushalten kann, denn: Die Schutzengel sind abgereist. Kommen sie zurück? Erkenntnis: Wir müssen sie beschützen.