Harald Kunde ist glücklich. Er muss das nicht sagen. Man sieht es. Trotzdem sagt er etwas – er sagt: „Ist das nicht schön?“, und müsste man erklären, was eine rhetorische Frage ist – hier wäre das Beispiel.
Zum Hundertsten
Wir stehen in der Wandelhalle des Museums Kurhaus Kleve. An der Wand ein Foto, das Joseph Beuys zeigt. Daneben ein Text: „Das Museum Kurhaus Kleve nimmt den 100. Geburtstag des Ausnahmekünstlers zum Anlass für ein zweiteiliges Ausstellungsprojekt. Zum einen werden ganzjährig im größten Saal des Hauses, der sogenannten Wandelhalle, exemplarische Arbeiten aus der Sammlung gezeigt. Zum anderen wird die Austellung „Intuition. Dimensionen des Frühwerks“ vom 19. Juni bis zum 3. Oktober in den Räumen des Joseph-Beuys-Westflügels rings um sein ehemaliges Atelier vielfältige Einblicke in den geistigen Kosmos des frühen Beuys eröffnen.“
Zur Weltseite hin geöffnet
Das hier ist also der erste Teil: ein Paukenschlag in der Stille. Das Museum: geschlossen. Die Wandelhalle: eine Beuys-Kathedrale. Draußen scheint die Sonne – drinnen strahlt der Beuys. Ein Wurf. Ein Kosmos. In sich geschlossen und doch zur Weltseite hin geöffnet.
Der tote Hase
Beuys, der einst einem toten Hasen die Bilder erklärte, öffnet – so scheint es – die Denkschublade. Aber keine Angst: Niemand muss denken. In der Wandelhalle des Kurhauses wird klar, was passiert, wenn Denken Fühlen wird. Das Museum: eine Energietankstelle. Da ist eine Auswahl aus den drei Suiten: „Schwurhand“ (1980), „Zirkulationszeit“ (1982) und „Tränen“ (1985) – Radierungen, Litographien: Seelenausflüge. Man steht und staunt. Man kann nicht begreifen, woher diese Kraft kommt. Dann hat man‘s. Hier hängt – nur hinter Glas – Kunst im Tageslicht.
Alles flüstert
Man steigt nicht hinab in die abgedunkelte Gruft des Sehens – man wird unmittelbar angesprochen von einer ungeheuerlich stabilen, unverstellten Zerbrechlichkeit. Das ist die Impfung, auf die man so gewartet hatte. Alle Wirkstoffe sind enthalten. Es ist zu spüren, wie Raum und Kunst sich durchdringen – nie das Eine ohne das Andere. Während man vor den Bildern träumt, möchte man fast meinen, dass Beuys mit Hut, Mantel und Hirtenstab irgendwo in einer Ecke lauert und auch genießt, was hier zu sehen ist. Die Wanne – die endlich einen Platz gefunden hat, der sie zum Sprechen reizt. Alles flüstert: die Materialkästen, die Bilder, die Capri-Batterie. Alle erzählen sie Geschichten – auch der gezeichnete Elch, über dem ein Hut schwebt. Alles schwebt. Alles flüstert.
Präzise, lebendig
Wie ist mit Beuys umzugehen? Harald Kunde: „Weder vorbehaltlose Heiligenverehrung noch der momentan gern praktizierte Sockelsturz durch Spätgeborene erweisen sich im Umgang mit dem Phänomen Beuys als produktiv, sondern allein der fortgesetzte Versuch, so präzise und lebendig wie möglich seine Arbeiten, seine Handlungen, seine Botschaften und seinen Humor miteinander in Beziehung zu setzen. Denn gerade die nicht endenden Kontroversen und Diskurse zeigen ja bis heute, dass Beuys neuralgische Punkte im Selbstverständnis unseres kollektiven Bewusstseins freigelegt und für diese Wunden immer wieder singuläre Formen der Artikulation gefunden hat.“
Abschalter fürs Denken
Die Ausstellung in der Wandelhalle zeigt Zartheit und Wucht nebeneinander und es wird klar: Das Eine ist nicht fühl-, denk- oder spürbar ohne das Andere. Gäbe es einen Abschalter fürs Denken – man sollte ihn drücken. Und dann auch wieder nicht, denn zu sehen ist eine Ingangsetzung auf der Ebene der Kunst. Beuys ist ein Anfacher.
Kunst – auch das spürt man hier – braucht das Mitatmen. So wichtig konservatorische Aspekte für die Erhaltung des Sichtbaren auch sein mögen – sie sind immer ein Kratzen an der Strahlkraft des Wunderbaren.
Gregorianik im Eierkarton
Kunst in der konservatorisch verordneten Dunkelheit, das ist wie ein gregorianischer Choral – gesungen im Eierkarton: erzwungene Unentfaltbarkeit. Schlachtfeld und Demarkationslinie sind also definiert: konservatorische Gründlichkeit tritt gegen kuratorische Freiheit an. Man flaniert also durch die Wandelhalle: Alles ist Licht und kann sich auflösen im Gesehenen.
Geschichten
Natürlich gibt es Geschichten zu den Werken. Da wäre die Geschichte der „Seven Palms“: Beuys in Kenia; am Strand findet er ein Holzbrett: Verwirkt kommt es daher. Verbraucht. Voller roter Flecken. Blut? Beuys nimmt das Brett mit nach Deutschland – montiert Filz aufs Holz. Hier die Spritzer (Blut oder nicht) – dort der Filz (Schutz oder nicht). Darüber eine Stange – an einer Stelle mit Filz umwickelt … Es wächst zusammen, was nicht zusammen gehörte. Da entsteht eine neue Einheit. Kunstwerke zu beschreiben ist eigentlich eine Überflüssigkeit. „Ach, könnten Sie mir bitte beschreiben, wie die Kunst der Fuge klingt – wie Jasminblüten duften – wie Gelb aussieht …“
Poetische Tonalität
Kunst ist Ingangsetzung auf höchstem Niveau. Man kann es gar nicht oft genug sagenschreibendenken: Es muss nicht alles allen gefallen. Es muss nicht jeder alles verstehenerklären können. Harald Kunde schreibt von einer „poetischen Totalität der Welterfahrung“ und das Gewicht der Worte wird deutlich. Beuys ist ohne Poesie nicht fühlbar. Es bleibt dann nichts Erfahrbares – allenfalls Beschreibbares, Erstarrtes. Kunst ist ein Appell an geöffnete Herzen – Denk-Barrikaden haben noch nie geholfen.
Organisierte Phantasie
Das wird auch klar, wenn man die Materialvitrinen abschreitet – wenn man das Vorher (in den Schaukästen) mit dem Nachher (an der Wand) sprechen lässt. Wenn man spürt, wie aus dem Gegebenen das Gefühlte wird. Kunst ist organisierte Phantasie.
Wer sich Beuys filmisch annähern möchte, hat die Gelegenheit, zwei wunderbare Filme zu sehen: Andres Veiels „Beuys“ gehört – um beim Thema zu bleiben – zum Poetischsten, was es über den Mann mit Hut zu sehen gibt. Und dann ist da noch: „Zeige deine Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys“ von Rüdiger Senner.
Wieder einmal bleibt am Ende nur zu sagen: Hingehen. Bitte. Unbedingt. Nichts erwarten – alles bekommen. Vielleicht.