Stillleben
„Frau Odenthal hat gesagt, dass wir heute ins Museum gehen.“ „Quatsch, du bist doch noch im Kindergarten. Da hast du bestimmt was falsch verstanden.“ „Nein. Ganz bestimmt. Wir fahren nach Moyland.“ Na bitte, das könnte doch eine Geschichte werden. Kunst und Kindergarten. Beuys und böse Buben. Stillleben und Kindergeschrei.
„Wir kommen klar.“
Um 10 Uhr hält der Bus auf dem Parkplatz vor dem Kunstschloss. Paarweise geht es Richtung Museum. Betriebsausflug zum Kunstpalast. „Sie hatten eine Führung gebucht?“ „Nein. Hatten wir nicht. Wir kommen klar.“ Die Chefin nimmt die Sache in die Hand — keine schlechte Idee, wie sich zeigen wird, denn Iris Odenthal kennt ihre Pappenheimer. Deshalb gibt es erst mal Biologieunterricht. Die Kinder lernen ein neues Tier kennen: Die Mucksmaus. An der sollen sich alle mal ein Beispiel nehmen. „Und wenn ihr alle still seid, dann gehn wir auch ins Schloss. (“ Gibt’s da denn auch Ritter?“)
Auferstanden aus Rosinen
Nach der Biologieeinheit eine Portion Geschichte. „Früher war das alles mal eine Ruine.“ „Wo gibt es Rosinen?“ (So hatte man das noch gar nicht gesehen: Auferstanden aus Rosinen.) Die 16 Ausflügler zeigen sich von Schloss und Wassergraben tief beeindruckt. „So was hab ich bei Playmobil“, sagt einer.
Erstmalig fällt der gewichtige Name: Beuys. (Der alte Jupp.) Von Kassel ist die Rede und von 7.000 Steinen, die dieser Herr Beuys auf einen Haufen gelegt hat. „Wie viel ist 7.000?“ „Eine ganze Menge.“ (So viel Bonbons hätt ich gern.) „Mann, der muss aber groß gewesen sein, wenn der 7.000 Steine aufeinander gelegt hat.“
Minuten später wird — ganz nebenbei — kurz noch mal nach dem Jupp gefragt. Wie hieß der doch noch gleich? Richtig: Beuys. „Der hat doch einen ganz großen Haufen gemacht.“ (Und er kam ja auch von hier.)
Garten oder Friedhof?
„Wollt ihr erst mal draußen gucken oder drinnen?“ Eine einfache Mehrheit beschließt die Inaugenscheinnahme der Außenanlagen. Angesichts des Rosengartens tauchen erste Fragen auf. „Ist das ein Garten oder ein Friedhof?“ (Die Dialektik der Kunst.) Schaun wir mal. Es scheint sich um einen Garten zu handeln. („Da stehen ja keine Kreuze.“)
Plastik oder Plastik?
Im Park stehen so Sachen rum. „Das sind Plastiken.“ „Aber die sind doch gar nicht aus Plastik.“ (Nichts ist wie es scheint. Und nichts ist wie es heißt.) Das Leben ist kompliziert. Und erst die Kunst … „Guck mal. Frau Odenthal, hier ist eine Luftmatratze aus Eisen.“
Trotzdem: Im Gegensatz zu manchem Altsemester hat die Jugend keinerlei Berührungsängste. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eduardo Chillidas ‚Elkartu‘ wird beklopft, befühlt und: für gut befunden. Materialstudien. Ergebnis: Klingt gut. Ist aber kalt. Sinnfragen werden nicht gestellt. „Weiter!“
Ein großes Pferd steht auf der Wiese. Witzig. Und eine Steinskulptur. „Wie ist die wohl gemacht worden?“ „Vielleicht mit dem Taschenmesser“, lautet eine erste Arbeitshypothese. Zum Schluss landet man bei Hammer und Meißel.
Manche Erklärung muss sieben bis acht mal wiederholt werden, weil immer mal jemand dazwischenquatscht. (Die Mucksmaus ist auf Urlaub.) „Drinnen muss das aber besser klappen“, mahnt die Chefin an. Mehr Skulpturen — und im Vorübergehen: Arithmetik. Wie viel Türme hat das Schloss? Aber genau hinsehen.
„Nehmt die Mucksmaus mit.“
Dann erst mal Stullen aus der Tupperware. Dazu ein kurzes Wettrennen. Danach: Ab ins Schloss. „Nehmt die Mucksmaus mit.“ Die Odenthal legt den Zeigefinger an die Lippe: „Pssssst!“ Rein ins Schloss. Auf Zehenspitzen.
Drinnen erklärt Frau Odenthal mühelos die Petersburger Hängung. „Aber die Bilder da oben kann man doch gar nicht sehen.“ „Es sieht aber schön aus, wenn man so viele Bilder hat.“ (Kindermund …)
Weitere Erklärungen von der Chefin: Stillleben und Portrait. („Das eine sind Äpfel. Das andere sind Leute.“) „Und wer kann mir jetzt mal ein Stillleben zeigen?“ Einige schaffen es auf Anhieb. Andere sind ab sofort sicher: „Auf jedes Stillleben gehört eine Banane.“
Hoffentlich war geheizt
Und dann kommt die Sache mit dem Akt: Akt gleich nackt. „Die Frau musste ziemlich lang still stehen.“ Die Mucksmäuschenmenge reagiert mit Andacht. „Das muss aber langweilig sein“, meinen die einen. „Hoffentlich war gut geheizt“, meinen andere. „Dafür bisse danach auch berühmt“, meint ein Experte. „Und wenn dich deine Eltern sehen?“ (Das Leben grüßt.)
Zwischendurch wird die Kunst im Museum mit der Kunst im Kindergarten verglichen. Schließlich sind sie alle Experten. Wo sonst wird schließlich sooo viel gemalt. Zwischendrin immer wieder: Name-Dropping. „Die Brüder van der Grinten hatten gaaaanz viele Bilder auf ihrem Speicher und in der Scheune und überall.“ „Mehr als wir im Kindergarten?“ „Und wo hatten die dann ihre Kühe, wenn die Bilder alle in der Scheune waren. (Vielleicht in Petersburg.)
„Au weia, das gibt Ärger.“
Dann entdeckt einer die Wendeltreppe zum Turmkabinett, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Rauf! Oben dann der Blick aus dem Turmfenster. Vielleicht mal an diesem Griff ziehen … Die Kinder machen Bekanntschaft mit dem markdurchdringenden Signalton der Alarmanlage. „Au weia, das gibt Ärger“, wird spekuliert. „Jetzt kommt bestimmt die Polizei.“ Eine Erzieherin sagt unten: „Bescheid.“
„Kann passieren.“ Als die Kinder parterre ankommen, kriegen sie auch gleich die Alarmanlage erklärt. („So hat auch das Schlimme sein Gutes“, sagte schon der alte Hitch.) Die Alarmanlage: Lauter Fernseher mit Bildern drauf. „Die haben wir doch gerade gesehen.“ Genau! Ach so funktioniert das also. „Echt spannend.“ Frau Odenthal will noch in den Keller. „Und danach gibt’s Limo“ mahnt einer das vorher abgegebene Versprechen der Reiseleiterin an. Das gehört dazu.
Verständnisprobleme hat es jedenfalls nicht gegeben. Alle wissen jetzt, wie sich ‚Elkartu‘ anfühlt und klingt. Alle wissen, dass der Rosengarten kein Friedhof ist. Alles wissen, dass Aktmalerei langweilig ist. (Für die Gemalten). Dass ein Stillleben Bananen braucht. Vielleicht auch eine Birne. Dass Beuys einen großen Haufen gemacht hat — irgendwo in Kassel. Dass Kunst etwas ist, das man auch anfassen kann. Dass in Petersburg irgendwo in einem Schloss ganz viele Bilder an der Wand hängen und dass da vielleicht auch die Kühe der van der Grintens hingekommen sind. Und dass es im Moyländer Keller auch noch Kunst gibt. Manches, was da rumsteht, sieht ein bisschen aus wie Ritter. Eher wenig haben sie bei der malenden Konkurrenz spioniert. Die Sinnfrage überlassen sie den Erwachsenen.
Auftritt der Mucksmäuse beendet. (Veröffentlicht erstmals: 2004)