Schreibkraft
Heiner Frost

Weiße Wände, schwarze Dielen

Foto: Broken (Rüdiger Dehnen)

Das Blatt: DIN-A4. Eine Fotokopie. Auf dem Blatt ein Ausschnitt in Postkartenkartengröße. Eine Zeichnung.  Zu sehen ist ein Kind. Es macht etwas mit seinen Händen. „Das soll ich sein“, sagt Walburga und legt die Fotokopie auf den Tisch. Das Original? Vielleicht in Moyland? Walburga weiß es nicht. Der Zeichner:  Joseph Beuys. Er hat in Walburgas Elternhaus gewohnt. Damals – es muss in  den 50-er Jahren gewesen sein.

Walburga und ihr Bruder sind sich in Sachen Hausnummer nicht einig. War es Tiergartenstraße 187 oder 101? Die Nummer hat sich im Lauf der Jahre öfters geändert. Einig sind sich Eugen und Walburga, dass mehr als ihre Vornamen nicht genannt werden sollen. „Wir wissen ja auch gar nicht, was Sie da schreiben wollen.“ Ich weiß es auch nicht. Natürlich sind Beuys-Geschichten (fast) immer spannend – erst recht, wenn sie von Zeitzeugen erzählt werden. Eugen geht stramm auf die 80 zu. Walburga ist jünger. Unter der Beuys-Zeichnung steht: Walburga, 1954.
Die kleine Zeichnung: Walburga am Klavier. „Am Anfang hat der Beuys ja ganz normal gemalt“, sagt sie. Ganz normal bedeutet: Man erkennt, was gemeint ist. Das Klavier stand in der ersten Etage. Da wohnten erst einmal Beuys‘ Eltern. Der Vater: Beamter in Rindern. Ein lieber Kerl. „Der Vater wurde irgendwann krank. Der Jupp hat ihn gepflegt“, sagt Eugen. „Der Jupp war ein guter Typ. Ruhig. Zurückgezogen. Kein Aufschneider.“ Damals, als der Jupp noch nicht berühmt war, hat er sich auch schon mal Geld für Zigaretten geliehen. Natürlich wurde auch gescherzt über den jungen Mann. Die Gretchenfrage: „Geht der eigentlich abends mit Hut ins Bett?“
Als der Vater starb, wohnte die Mutter noch eine zeitlang in der ersten Etage. Das Bad war auf halber Treppe. Irgendwann zog sie aus und Jupp blieb. Auch das Klavier blieb. Ein schwarzes Klavier mit schwenkbaren Kerzenhaltern rechts und links. „Irgendwann hat der Jupp dann das Wohnzimmer neu gestaltet“, erinnert sich Walburga. „Alle Tapeten kamen runter. Die Wände wurden verputzt und weiß gestrichen. Den Dielenboden hat er schwarz lackiert.“ Im eigenen Kopf entsteht dieses Zimmer: Weiße Wände, schwarzlackierte Dielen, das schwarze Klavier. „Und dann stand da noch ein dreieckiges Tischchen: Helle Füße, schwarze Tischplatte. Auf der Tischplatte hatte der Jupp dann Streichhölzer mit roten Köpfchen wie Mikados ausgelegt.“ Walburga rührte gern mal mit den Fingern durch die Hölzchen. „Das hat der immer gemerkt“, sagt sie und spricht das ‚immer‘ irgendwie fett gedruckt. „Walburga“, sagte dann der Jupp, „bisse wieder da dran gewesen?“
Ab und an durfte Walburga auf dem schwarzen Klavier spielen. Ab und an nahm der Jupp sie auch mit ins Atelier im alten Kurhaus. Da hat sie die Arbeit an einem Kreuz mitbekommen. „Das hat der Jupp für eine Kirche in in Büderich gemacht. Ein schönes Kreuz“. Später sind die Walbruga und Eugen mit Beuys‘ Mutter im Lloyd nach Büderich gefahren. „Die Frau Beuys wollte das gern mal sehen. Da sind wir halt hin.“
Apropos Autos: „Künstler und Autos gehen nicht zusammen“, hat der Jupp gesagt. Erinnert sich Eugen. Und dann stand eines Tages ein „Riesenschiff“ vor der Haustür: Cadillac. Schwarz. Gebraucht. „Da habe ich Jupp gefragt: Hast du nicht gesagt, Künstler und Auto gehen nicht zusammen? Und jetzt ein Cadillac?“ Jupps Antwort: „Das ist nicht nur ein Auto. Das ist auch meine Wohnung. Da kann ich auch drin kochen.“ Ein bisschen verrückt war der Jupp schon – aber eben gut verrückt.
„Manchmal saß er tagelang im Schneidersitz und hat kleine Zettel bemalt“, sagt Walburga. Zwei dieser Zettel hatte sie auch mal. Später fragte sie nach den Zetteln: „Die sind in deinem Kommunionsgebetbuch“, sagte Walburgas Mutter. Aber irgendwann waren die Zettel weg. „Die waren nicht signiert“, sagt Walburga. Trotzdem schade, dass die weg sind. Stattdessen hat sie noch die Kopie der Kopie des Bildes von dem Mädchen am Klavier.
„Der Jupp hat ja irgendwann auch in Düsseldorf unterrichtet. Und dann haben die den rausgeschmissen. Aber das wissen Sie natürlich alles viel besser.“ Über den Jupp ist ja viel geschrieben worden. Eugen erinnert sich an einen jungen Mann. „Der war damals bei uns und hat nach dem Jupp gefragt. Das muss 50 Jahre her sein. Vielleicht. Seine Adresse und seinen Namen hat er damals aufgeschrieben.“ Danach hat nie mehr jemand gefragt. Dass der Jupp dann zu einem der weltweit wichtigsten  Künstler wurde, haben Eugen und Walburga natürlich mitbekommen. „Ganz viele Künstler haben den Jupp als  Vorbild gehabt – ihn kopiert“, sage ich. Und Walburga sagt: „Den konntest du nicht kopieren. Das war ganz was eigenes.“ Vielleicht lässt sich ja rausfinden, wo die Zeichnung  mit dem Mädchen am Klavier heute ist. „Walburga, 1954“ steht darauf. Und Eugen weiß noch, dass der Jupp irgendwann ganz viele weiße Kreuze auf den Cadillac malte. „Kleine Kreuze“, sagt er und fährt Daumen und Zeigefinger streichholzschachtelhoch auseinander. „Lauter weiße Kreuze.“
Und einmal stand, als Beuys und seine Eva die Mutter besuchten,  der Kinderwagen mit dem kleinen Wenzel draußen vor der Tür. Es war Winter. Es schneite. Schon komisch. Die waren oben bei der Mutter und der Wenzel stand im Kinderwagen vor der Tür. „Aber der  war richtig dick in Felle gepackt. Richtig dick. Der hätte gar nicht frieren können.“ Als die Beuys‘ dann gingen, lag fingerdick der Schnee auf dem Kinderwagen.
Es bleiben Bilder: Weiß getünchtes Zimmer mit schwarzen Dielen, Dreieckstischchen, schwarzes Klavier mit weißen Kerzen und ein schwarzer Cadillac mit weißen Kreuzchen. „Alle mit dem Pinsel gemalt“, sagt Eugen. Der Jupp war schon ein feiner Kerl. „Das hat auch eine von Jupps Freundinnen mal gesagt. Ein halbes Jahr waren die beiden  zusammen. Der Jupp ist ein lieber Mensch, aber nicht verlässlich. Er sagt: Wir sehen uns morgen. Und dann kommt er nicht. Aber wie der seinen Vater gepflegt hat: Alle Achtung.“ „Und im Keller stand die Badewanne, die später berühmt geworden ist. Die Geschichte haben Sie sicherlich gehört, oder?“

Walburga am Klavier

Holz, Axt, Hut, Krawatte

Beuys ruft. Eigentlich ruft er nicht – er singt: „Ja, ja, ja“, singt er und „nää, nää, nää“.  Die Stimme hallt durchs Museum. Man ist geneigt, ihr zu folgen. Das ist der Trick.
Immer der Stimme nach wird man ins ehemalige Atelier gesogen, wo nicht nur die Videos warten, die Zeichnungen. Was würde man verpassen, wenn die Lockrufe-Rufe nicht wären. Wie schön, dass es einen Plural gibt – wie nützlich. Es gibt ja mehrzahllose Worte: Heimat, Mut … aber Zentrum stellt eine Mehrzahl zur Verfügung. Es wäre sonst schwierig zu erklären, dass der Beuys‘sche Kosmos derzeit zwei Zentren hat. Man muss nicht in die Metropolen. Man fährt aufs Land und ist mitten drin. Bis zum 4. September zeigt das Museum Kurhaus Kleve „Werklinien“. Wieder einmal geht es um die Spur des Mannes mit Hut. „Werklinien“ stellt Geschichte zur Verfügung und ist dabei eine grandiose Inszenierung aus Vorstufen und Endpunkten. Das Büdericher Ehrenmal ist nur eines der Highlights der Ausstellung. Das Werk (Kreuz und Portal) ist für Büderich entstanden und normalerweise dort zu sehen. Jetzt macht das Ehrenmal Station im Kurhaus und ist in einen anderen Zusammenhang „gegossen“. Anders als am Stammplatz ist das Kreuz nicht hängend zu sehen, sondern in der Wandelhalle inszeniert. Ein bisschen erinnert diese Position an das Beuys-Portrait, das Fritz Getlinger einst in Beuys‘ Atelier in eben jenem alten Kurhaus aufnahm, das jetzt zur Heimkehrstätte wird. Kuratorin Valentina Vlasic: „Das Portrait, das Beuys mit dem Kreuz zeigt, ist ja in sich auch eine Inszenierung.“ Da steht der Künstler über sein Werk gebeugt,  mit den Händen das Holz berührend, im Vordergrund eine Axt – so, als hätte gerade der letzte Schlag stattgefunden. „Dabei ist das Kreuz gar nicht im Atelier entstanden“, erzählt Valentina Vlasic. Wohl aber die Buchstaben der Namen der Gefallenen auf der rechten Portaltür. Eine Mark bekam Beuys für jeden Buchstaben. Wer in den Katalog zur Ausstellung (ein absolutes Muss!) schaut, sieht das Kreuz im Büdericher Turm hängen. Es sieht  besch… aus. Man schreckt vor dem Wort zurück, aber es trifft die Sache genau: Vogelkot. Der ist jetzt – nach dringend erforderlichen Konservierungs- und Reinigungsmaßnahmen – verschwunden. „Beim Büdericher Ehrenmal handelt es sich um das monumentalste Werk, das in seinem Atelier im Kurhaus entstanden ist. Es nimmt in Beuys‘ Oeuvre eine singuläre Bedeutung ein“, heißt es in einem Text zur Ausstellung, aber das Büdericher Ehrenmal ist nur eine der „Heimatgeschichten“. Eine weitere: Die Straßenbahnhaltestelle – jene weltbekannte Installation von monumentaler Traurigkeit.
Und dann wäre da noch eine kleine Zeichnung. Ganz unscheinbar kommt sie daher. „Walburga Mülders, 1954, Bleistift auf Papier“ – heißt es im Katalog. Walburga – eine Zeitzeugin. Die da zu sehen ist, besitzt eine Fotokopie der Zeichnung. Walburga war in Beuys‘ Atelier, als das Büdericher Ehrenmal entstand – sie spielte auf Beuys‘ Klavier und die Zeichnung zeigt Walburga beim Spielen auf dem Klavier, das in Beuys‘ Wohnzimmer stand …
„Werklinien“ ist eine eindrucksvolle (Zeit)Reise – ein wunderbarer Ausflug in den Kopf und die Geschichte des Mannes mit dem Hut und eine Ausstellung, die im Kopf bleibt, weil sie nicht verkopft daherkommt. Beuys ruft: „Ja, ja ja – nää, nää, nää …“