Onkel Herbert spricht gern übers Essen. „Lecker“, sagt er über seine Lieblingsgerichte – das L wird in die Länge gezogen und erst nach Sekunden lässt Herbert das Restwort folgen. Das E klingt dann wie ein Ä. Wenn es besonders lecker wird, sagt Onkel Herbert: „Da könnt ich mich reinsetzen.“ (Wahlweise auch reinlegen.)
Wenn Onkel Herbert Ballettfan wäre, würde er über b.28 sagen: „Da kannze dich reinlegen.“ b.28 ist quasi die letzte Ausfahrt vor der Sommerpause. Die Injektion muss bis November vorhalten und: Sie tut es. Ein Abend, drei Stücke, ein Wort: Grandios.
Es beginnt mit Bach. Paul Taylor begnügt sich nicht mit einem Stück. Geboten werden das E-Dur Violinkonzert und zwei Sätze aus dem d-moll Doppelkonzert für zwei Violinen. Taylors Choreographie startet sportlich – irgendwie burlesk. Bach mit einem Augenzwinkern. Vielleicht – glaubt man einen Moment lang – vielleicht nimmt Taylor seinen Bach auf die leichte Schulter. Der Gedanke zerschellt am ersten langsamen Satz. Schnell wird klar: Diese Chorographie macht sich auf die Suche nach dem Innersten und erforscht die Seelen. Sie macht vor nichts Halt – nicht vor der Seele der Musik, schon gar nicht vor der des Tanzes, und sie umarmt den Zuseher gleich mit. Man kann nicht außen vor bleiben und einfach mal hinsehen. Der Tanz zieht alles auf die Bühne und lässt nichts und niemanden entkommen. Schnell wird klar, warum der DJ Taylor sich nicht mit dem E-Dur Konzert zufrieden gibt. Ein schönes Stück – gewiss, aber es fehlt die abrundend allumfassende Schönheit des Mittelsatzes von Bachs Doppelkonzert. Gehört ist zum Schönsten, das sich hören lässt? Bestimmt. Taylors Antwort auf Bachs intime Musik des zweiten Satzes ist von schwereloser Schönheit. Man schleicht sich in die Pause als hinge man noch am Tropf. So beginnt ein furioser Abend.
Dann: Hubert Essakows „Tenebre“ – die erste von zwei Uraufführungen. Wer den Tonstifter Bryce Dessner nicht kennt, muss sich nicht schämen, aber die Musik macht neugierig auf mehr Dessner, der mit zwei Stücken vertreten ist: „Tenebre“ für Streichorchester und „Delphica“ für Viola solo. Hubert Essakows „Tenebre“ brennt ab der ersten Sekunde. Da gräbt ein Choreograph sich ganz tief in die Möglichkeiten des Inszenierens, nutzt den ganzen Apparat und schafft eine Einheit, die in ihrer Dichte so nur selten zu erleben ist. Man möchte meinen, dass alles an dieser Choreographie genial ist und folgt atemlos. Willig. Nichts ist zu viel. Ein Ensemble, das sich die Seele in den Leib tanzt. Alles ist unglaublich: Das Licht (Mark Doubleday), Bühne und Kostüme (Merle Hensel), die Musik, die Tänzer. Dieses Stück gewissermaßen als eiserne Konserve für schlechte Tage in die eigene Seele packen – das wär‘s. Die Überlebensreserve. Wenn nichts mehr geht: Die Konserve abrufen. Schon das erste Bild würde vor dem Absturz ins Nichts retten.
Dann das Finale. Man hatte sich vor der Musik gefürchtet: Philip Glass neigt zu benutzten Tönen, ausgetretenen Harmonien und Tonleiterextasen – Überdosen oft genug. Und dann kommt einer wie Christe und haucht dem Glass Leben ein. Choreographien wie „Different Dialogues“ sind allesveredelnd. Glass‘ Musik: Ein Untergrund – eine Zurverfügungstellung. Etwas – am langsamen Satz von Bachs Doppelkonzert gemessen – irgendwie Brauchbares. Mehr nicht. Christe entwirft dazu eine Welt, der es an nichts fehlt. Christe beweist, dass Tanz auch dann noch eine Antwort sein kann, wenn die Musik keine Fragen stellt. Glass lotet in seinen Tönen keine Grenzen aus. Christes Choreographie wird zum Regenten auf der Bühne. Da sucht einer nach der Erweiterung tänzerischer Möglichkeiten und passt damit gut in den Abend, denn auch Hubert Essakow tut nichts anderes.
Und dann gibt es da noch einen gemeinsamen Nenner des Abends. Da tanzt ein Ensemble, das alles kann und dem man alles zutrauen kann. Niemand, der ohne Spannung ist, niemand, der aus dem Rahmen fällt. Alle geben alles und schaffen so einen tänzerischen Gesamtklang, der in seiner Perfektion nicht zu beschreiben ist. Man muss das gesehen haben. Man kann vor einem solchen Ensemble nur niederknien, Blumen auf die Bühne werfren und sich danach auf b.29 freuen oder noch mal eine Karte für b.28 lösen oder irgendeine andere Produktion. Was in Düsseldorf geboten wird ist eines mit Sicherheit nicht: Ballett für nebenbei. Wer Martin Schläpfers Programme erlebt, muss – wie die Compagnie – den Mut haben, sich in Grenzregionen zu begeben. Als Belohnung gibt es Tanz vom Allerfeinsten. Am Ende kämpft man mit den Superlativen und fragt sich, wer das noch glauben soll. „Ballett zum Reinsetzen“, würde Onkel Herbert sagen. Man könnte auch vom Tanz als Erlösung sprechen.
Weitere Aufführungen (alle in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf): Samstag, 4. Juni (19.30 Uhr); Sonntag, 12. Juni 18.30 Uhr); Sonntag 3. Juli (18.30 Uhr); Donnerstag, 7. Juli (19.30 Uhr); Sonntag 10. Juli (15 Uhr).
Foto: Gert Weigelt
Abspann
Esplanade – Paul Taylor
Musik: Konzert für Violine, Streicher und Continuo E-Dur BWV 1042 sowie Largo und Allegro aus dem Konzert für zwei Violinen, Streicher und Continuo d-Moll BWV 1043 von Johann Sebastian Bach
Choreographie: Paul Taylor
Musikalische Leitung: Aziz Shokhakimov
Kostüme: John Rawlings
Licht: Jennifer Tipton
Choreographische Einstudierung:
Richard Chen See
Violine: Franziska Früh / Egor Grechishnikov / Dragos Manza / Emilian Piedicuta
Tänzerininnen: Camille Andriot, Doris Becker, Wun Sze Chan, Yuko Kato, Asuka Morgenstern, Elisabeta Stanculescu
Tänzer: Vincent Hoffman, Bruno Narnhammer, Alexandre Simões
Orchester: Düsseldorfer Symphoniker
Tenebre – Hubert Essakow
MUSIK „Tenebre“ für Streichorchester und „Delphica“ für Viola solo von Bryce Dessner
Choreographie: Hubert Essakow
Musikalische Leitung: Aziz Shokhakimov
Bühne und Kostüme: Merle Hensel
Licht: Mark Doubleday
Sound Design: Gareth Mitchell
Viola: Ralf Buchkremer
Tänzerinnen: Ann-Kathrin Adam, Marlúcia do Amaral, Camille Andriot, Doris Becker, Wun Sze Chan, Feline van Dijken, Sonia Dvorak, Nathalie Guth, Yuko Kato, So-Yeon Kim, Norma Magalhães, Anne Marchand, Louisa Rachedi, Virginia Segarra Vidal, Elisabeta Stanculescu
Tänzer: Brice Asnar, Rashaen Arts, Odsuren Dagva, Philip Handschin, Vincent Hoffman, Michael Foster, Filipe Frederico, Richard Jones, Sonny Locsin, Marcos Menha, Bruno Narnhammer, Chidozie Nzerem, Friedrich Pohl, Boris Randzio, Eric White
Orchester: Düsseldorfer Symphoniker / Düsseldorfer Symphoniker
Different Dialogues – Nils Christe
MUSIK 2., 3. und 4. Satz aus der Sinfonie Nr. 3 sowie 2. Satz aus dem Konzert für Violine und Orchester von Philip Glass
Choreographie: Nils Christe
Musikalische Leitung: Aziz Shokhakimov
Bühne: Thomas Rupert
Kostüme: Annegien Sneep
Kostüme und choreographische Assistenz: Annegien Sneep
Licht: Remko van Wely
Solo-Violine: Franziska Früh / Dragos Manza
Tänzerinnen: Ann-Kathrin Adam, Marlúcia do Amaral, Camille Andriot, Doris Becker, Wun Sze Chan, Feline van Dijken, Nathalie Guth, Alexandra Inculet, So-Yeon Kim, Anne Marchand, Louisa Rachedi, Virginia Segarra Vidal, Julie Thirault
Tänzer: Rashaen Arts, Andriy Boyetskyy, Odsuren Dagva, Michael Foster, Filipe Frederico, Sonny Locsin, Marcos Menha, Tomoaki Nakanome, Bruno Narnhammer, Chidozie Nzerem, Friedrich Pohl, Alexandre Simões, Eric White
Orchester: Düsseldorfer Symphoniker / Düsseldorfer Symphoniker