Da steht man wieder auf der Straße – irgendwie hypnotisiert von der Magie der Malerei. Ja – es gibt sie noch … Befehle sind fruchtlos. Manchmal hilft Bitten: Bitte hingehen. Punkt.
Haupteingang
Alles beginnt mit dem Titel: „Face of a Woman – Head of a Child“. Poesie legt sich auf alles. Man willmusskann den Titel nicht erklären: Da ist er und wird zum Haupteingang – gibt ein Aroma frei. Wie armselig es klingt, wenn man von den zwei Seiten einer Sache sprichtdenktfühlt. Aber was soll man denn schreiben angesichts dieser Bilder? Vielleicht das: Wer die Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve gesehen hat, begegnet möglicherweise dem Unterschied, der zwischen scheinbar und anscheinend geräuschlos seine Spuren hinterlässt.
Fantastisch desillusionierend
Karin Kneffels Bilderwelt ist – wie soll man sagen? – fantastisch desillusionierend. Man schaut hin und denkt, dass alles doch irgendwie normal ist. Dann der zweite Blick: Es ist der Blick, der alles Gesehene zur Frage werden lässt und jedes Bild zum Spiegel macht. Der Grad des Betäubtseins nimmt zu, wenn man Räume und Etagen abschreitet. Auch die Bilder haben Etagen: Sie geben Ebenen frei. Hinter jeder nächsten Ecke, denkt man, könnte es passieren, dass man selbst auftaucht in einem dieser Bilder und es könnte auch passieren, dass einem jemand auf die Schulter tippt und sagt: „Das da auf dem Bild bist du?“ Vielleicht hätte man es nicht einmal gemerkt …
Spagat
Da läuft ein magischer Film und auf der Suche nach einer möglichen Musik landet man bei Ligetis Klavier-Etüden. Kopfhörer auf – „White on White“: Zweite Museumsrunde. Jetzt entsteht dieser wunderbare Spagat zwischen Realität und Realität. Da schwebt man durch die Räume. Die klingende Wirklichkeit: ausgetauscht. Was jetzt an Intensität entsteht, ist kaum aushaltbar. Eine Zeitlupe des Begreifens wird spürbar. Man sieht alle die Motive: Köpfe – immer wieder Köpfe, Früchte, Kerzen, Feuer … Man erlebt die Welt in ihrer Erhabenheit und an ihren Abgründen („Arc-en-ciel“). Man begreift, dass es zu jedem dieser Bilder eine Geschichte gibt, die man kennen könnte, aber nicht kennen muss.
Hausbesetzung
Bilder sind wie eine neue Wohnung: Man muss einziehen. Besitz ergreifen. Sich etwas zu eigen machen. Selber mit dem Wohnen beginnen. Kneffels Bilder scheinen es nicht eilig zu haben – sie sind nicht in Dringlichkeiten getaucht, aber sie möchten erzählen, möchten etwas loswerden und brauchen Zuhörer dafür … Karin Kneffel hat das Kurhaus in Besitz genommen. Der entstandene Dialog zeigt den Reichtum von Kneffels Bilderwelt und die Schönheit des Museums zu gleichen Teilen.
Außerkraftsetzung
Man geht durch die Wandelhalle – sieht all die Portraits an der Wand und das Herz bleibt einem stehen: Auf Sockeln stehen Heiligenfiguren und schauen sich – längst sind sie selbst zu Besuchern geworden – die Portraits an der Wand an. Ein genialer Kunstgriff, der einen aufpumpt mit einem Gefühl von Ehrfurcht. Nein – das ist ein falsches Wort. Es geht nicht im Furcht – es geht um die Außerkraftsetzung der Zeit. Nichts spielt mehr eine Rolle außer diesem inszenierten Dialog. Weit hinten im Saal grüßt Matarés Mutter mit Kind. Traurigkeit entsteht. Alles Sehen wird Melancholie. Alles ergreift Besitz von allem. Besucher, denkt man, sollten nur einzeln vorgelassen werden. Man will so etwas nicht teilen müssen – man will allein sein und eins werden mit der Inszenierung.
Welteroberung
All die Gesichter, die gezeigt werden: Erlebensgeschichten aus einer anderen Welt, die mit jedem Schritt, den man tut, zur eigenen wird. Bezüge wird es reichlich geben. Vielleicht ist es ein Mehrwert, sie zu kennen. Aber: Wer will das sagen?
Was da gezeigt wird – in großen und kleinen Formaten – ist, auch wenn es platt klingen mag: Leben. Das Wohnen beginnt. Könnte sein, dass man sich umdreht und die Bilder beginnen zu tuscheln: „Schau dir den an!“, sagen sie. Alles ist so unglaublich real: scheinbar. Anscheinend. Man denkt an Getrude Stein: „Eine Rose ist eine Rose ist ein Rose“ und möchte ein „vielleicht“ anfügen.
Kneffels Malerei: virtuos auf allen Ebenen. Das allein würde nicht ausreichen, aber da diese Schicht, die Schein und Sein verdeutlicht … trennt … zusammendenkt. Hinschauen kanndarfsoll Spaß machen – soll die Gedankenzentrifuge in Marsch setzen; soll Anleitung zum Einziehen sein und zur Hausbesetzung, die ja eigentlich eine Hirnbesetzung ist.
Auge in Auge
Natürlich kann man Bilder beschreiben, aber was bringt das? Natürlich kann man von diesem einem Moment sprechen, in dem man vom Café aus die Treppe nach unten hinabsteigt und sich Auge in Auge mit einer gemalten Treppe wiederfindet: Déjà-vu? Eigentlich das Gegenteil. Man sieht, was man sah, was man sieht. Man steigt hinein ins Bild – begreift, dass man sich selbst begegnet; dass sich die zeitlichen Ebenen aufzulösen beginnen; dass nichts ist wie es scheint, aber alles scheint wie es ist. Scheinbar. Anscheinend: „Face of a Woman, Head of a Child“: Ein Titel als Leinwand für den poetischen Blick auf das Große im Kleinen. Oder war es das Kleine im Großen?
Bildertausch
Man tritt zur dritten Runde an. Alles hängt noch immer da, wo es vorher hing: anscheinend. Die Bilder: da, wo sie vorher waren. Anscheinend. Aber vielleicht haben sie längst die Plätze getauscht. Was, wenn sich das eigene Hinsehen geändert hat? Was, wenn der Bildertausch Teil des Denkprogramms geworden ist? „Ja, spinnt denn der jetzt total?“, fragen die Bilder, während sie Gedanken lesen – während sie mitlesen, was da gerade als Text im Schreiberkopf Form und Worte annimmt? „Warum beschreibt der nicht uns? Warum lädt der uns in seinen Kopf?“, flüstern die Bilder.
Man hat‘s gehört und dreht sich um: „Aufgepasst: Es bringt nichts, euch zu beschreiben. Könnte man euch beschreiben, müsstet ihr nicht da sein. Es geht um anderes: Man muss beschreiben, was ihr anrichtet; was ihr mit dem Denken anstellt. Erst dann entsteht doch das Wunderbargroßartige.“ Die Bilder schweigen und man weiß nicht warum. Vielleicht denken sie nach …
Alles ändern
Hypnotisiert steht man auf der Straße: Man steht zehn Minuten und bemerkt den Regen nicht. Der Kopf ist noch drinnen bei einer wunderbaren Ausstellung – einer von denen, die alles verändern. Das Sehen ist nicht mehr, was es vorher war. „Head of a Woman, Face of a Child“. Von drinnen hört man die Bilder rumoren: „Idiot“, sagen sie. „Es ist genau andersherum. Es heißt: ‚Face of a Woman, Head of a Child‘. Merk dir das.“ Man antwortet: „Denkt noch mal darüber nach. Vielleicht geht es auch andersherum.“
Vanitas
Harald Kunde, Direktor des Museum Kurhaus Kleve, schreibt in seinem Vorwort zum Katalog: „Natürlich sind Kneffels Arbeiten Vanitas-Bilder, die um die Vergänglichkeit des irdischen Lebens wissen und gerade deshalb den zeitlosen Glanz der Oberfläche in monumentalen Darstellungen von Pfirsichen und Trauben vor Augen führen. Dass der Schein trügt, ahnen wohl die meisten von uns; dass aber das Sichtbare seine größte Faszination entfaltet, wenn es durch malerische Fixierung dem Zeitlauf entzogen wird, lehren uns nunmehr und erneut die Bilder Karin Kneffels.“
Das Ende der Wirklichkeit
Die Wirklichkeit endet, wo das Abbild beginnt? Zurück an den Anfang: Befehle sind fruchtlos. Bitten können helfen: Unbedingt hingehen. Einwortdiagnose: Grandios. Zweiwortnachsatz: Großes Kino. Bilderrausch. Bilderrauschen. Und noch dies: Die Ausstellung – ein Glücklichmacher.
„Face of a Woman – Head of a Child“ wird bis zum 18. Februar zu sehen sein … falls sich die Bilder nicht vorher aus dem Staub machen. Wer kann das wissen?
Museum Kurhaus Kleve: Karin Kneffel