Schreibkraft
Heiner Frost

Erfolgsaussicht sollte ins Zenrum rücken

Gerhard van Gemmeren ist Vorsitzender Richter am Landgericht Kleve. „Rund 80 Prozent der erstinstanzlichen Verfahren haben einen direkten Drogenbezug“, schätzt van Gemmeren und dürfte damit ziemlich richtig liegen.

Substanzkonsumstörung

In vielen Verfahren mit Drogenbezug spielt der Paragraph 64 eine Rolle: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die überwiegend auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; der Hang erfordert eine Substanzkonsumstörung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert. Die Anordnung ergeht nur, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt [ … ] zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“

Überlastungen

Eben dieser Paragraph hat sich seit dem 1. Oktober dieses Jahres geändert. In der Juristerei geht es nicht selten um vermeintliche „Kleinigkeiten“. Was zum Beispiel bedeutet es, wenn im oben zitierten Paragraph 64 von einem „Hang“ gesprochen wird. Gerhard van Gemmeren war – zusammen mit Richterkollegin Bettina Trenckmann – Mitglied einer Bund-Länder-Gruppe, die einen Bericht zur Reform des Paragraphen 64 vorlegte. Einer der Gründe für die Gesetzesänderung: Die Überlastung der Therapie-Institutionen. Statistik: In den Jahren 1995 bis 2009 wurde in den Therapie-Institutionen ein Anstieg der Patientenzahlen von 1.373 auf 4.300 verzeichnet – in der Zeitspanne zwischen 2017 und 2020 erfolgte ein weiterer Anstieg, diesmal von 4.462 auf 5.280. Bei der Unterbringungsdauer wurde ein Plus von sechs Monaten festgestellt. Grund für den Gesetzgeber, sich Gedanken zu machen.

Reform erforderlich

Van Gemmeren bewertet die Grundüberlegung für eine Gesetzesänderung als richtig („…Reformen im Zusammenhang mit dem Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) sind erforderlich, weil die Unterbringungsanordnungen den Maßregelvollzug räumoich und personell überfordern“) – sieht aber auch Probleme. Bei der neuen Fassung des 64-ers stehe man vor allem bei Jugendlichen Straftätern vor einem Problem. „Gerade bei Jugendlichen Straftätern besteht nicht selten ein sehr gute Erfolgsaussicht, wenn sie in die Maßregel – also in Therapie – kommen.“ In der neuen Fassung des 64-ers werde jetzt der Begriff „Hang“ enger gefasst, was am Ende dazu führen könne, „dass Jugendliche, bei denen eine Therapie gute Erfolgsaussichten hätte, durch das Raster fallen, weil bei ihnen der zitierte ‚Hang‘, im enger gefassten Sinn, nicht vorliegt.“ War der „Hang“ – vormals eher weitmaschig – als „eingewurzelte psychische Disposition“ definiert, geht es nun um die Frage, ob „ein Angeklagter an einer Substanzkonsumstörung leidet, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert.“

Tatsächlicher Bedarf

Ziel dieser Änderung sei es – anwaltspraxis-magazin.de – „die Anordnungsvoraussetzung des Hangs stärker auf Fälle zu beschränken, in denen der Angeklagte tatsächlich der Behandlung in einer Entziehungsanstalt bedarf, und so die Ressourcen des Maßregelvollzugs zielgenauer zu nutzen“ (Quelle: anwaltspraxis-magazin.de).
Van Gemmeren: „Ein Jugendlicher ‚am Beginn einer Drogenkarriere‘ würde jetzt häufig nicht die Voraussetzung für eine Maßregel erfüllen.“ Eben da liege das Problem. Van Gemmeren sieht weiteren – an der Praxis orientierten – Handlungsbedarf. Er würde es für sinnvoll halten, mutmaßlichen Tätern, die im Zusammenhang mit Drogenvergehen in Untersuchungshaft kommen, gleich zu Beginn eine Haarprobe zu entnehmen. „Haarproben ein verlässliches Mittel mit einer hohen Aussagekraft.“ Dieses käme allerdings nur dann zum Tragen, wenn eine Haarprobe frühzeitig genommen würde. „Wenn ein Angeklagter zum Prozess erscheint, ist in der Regel viel Zeit verstrichen und somit verliert die Aussagekraft einer erst dann entnommenen Haarprobe an Zuverlässigkeit.“ Eine diesbezügliche Anordnung liege allerdings in der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften, so van Gemmeren. Die Sache mit der Haarprobe allerdings hat mit der Änderung des 64-ers zunächst allerdings nur indirekt zu tun. Immerhin stellt sie laut van Gemmeren ein wichtiges Instrument bei der Überprüfung von Angaben eines Angeklagten dar.

Entlastungen

Van Gemmeren: „Wie gesagt halte ich den Grundgedanken hinter der Änderung für durchaus richtig. Es muss um die Entlastung von Therapie-Einrichtungen gehen. Das zentrale Problem der Maßregel liegt meiner Meinung nach allerdings bei der Auswahl der ‚richtigen‘ Patienten.“ Es gehe um die Erfolgsaussicht einer Therapie. Das schreibt der Richter in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“ in einem ausführlichen Text.

Verstärkt geprüft

Am 7. Juli dieses Jahres gab der Bundesrat „grünes Licht“ für die Gesetzesänderung, die am 1. Oktober in Kraft trat. Auf „https://anwaltspraxis-magazin.de/ki-spezial/“ wird die Gesetzesänderung wie folgt gesehen: „Die Neuregelung [ … ] wird sich auf die Strafrechtspraxis in erheblichem Maße auswirken, hat die Unterbringung nach Paragraph 64 StGB für den Angeklagten durch die Reform doch erheblich an Attraktivität verloren. Dies wiederum hat zur Folge, dass bei der Festlegung der Verteidigungsstrategie künftig verstärkt geprüft werden muss, ob eine Unterbringung überhaupt noch angestrebt werden soll oder ob es – insbesondere im Hinblick auf die Folgen eines etwaigen Scheiterns der Therapie – den Interessen des Mandanten im Gegenteil nicht eher entspricht, eine solche zu verhindern.“

Enger koppeln

Es gehe, so später im Text darum, eine „Therapieanordnung enger an den Therapiebedarf zu koppeln“. Musste sich der „Subtanzmissbrauch“ noch nicht zu einer Abhängigkeit verfestigt haben, um ein therapeutisches Eingreifen zu veranlassen, reiche künftig der „einfache schädliche Gebrauch“ für eine Unterbrinung nicht mehr aus, so die Ansicht von anwaltspraxis.de, die sich – mit Blick auf jugendliche Straftäter mit van Gemmerens Einschätzung zu decken scheint, denn – siehe oben – die neue Rechtslage setzt zwingend eine dauerhafte und schwerwiegende Beeinträchtigung voraus.
Für Richter wird es künftig – mehr noch als jetzt schon – darum gehen, die Instrumente der Rechtsprechung zu justieren, denn Strafe soll in erste Linie auch Resozialisierung bedeuten – die aber ist wesentlich vom wohldosierten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel abhängig.

30 Prozent

Schätzungen aus dem Pflegebereich gehen davon aus, dass von den derzeit in der Maßregel untergebrachten Tätern 30 Prozent „eher kriminell als abhängigkeitskrank“ seien. Van Gemmerens Fazit: „Bei der Qualitätssteigerung im Bereich des Maßregelvollzugs […] sollte der Schwerpunkt der Reform […] nicht in einer neuen Definition des Begriffs ‚Hang‘ liegen, sondern in einer realistischen (strengeren) Überprüfung der Erfolgsaussicht.“