Schreibkraft
Heiner Frost

Haftbefehl … wahrscheinlich

Die Uhr am Turm der Burg hat den Geist aufgegeben: regungslos die Zeiger. Der Grund: ein Blitzeinschlag. Die Zeit steht.

Ein Mann …

Auch im Gesetz bleibt die Zeit manchmal stehen. Strafgesetzbuch, Paragraph 183: „Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Weiter heißt es: „Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.“
Immerhin – unter Ziffer 4 heißt es: „Absatz 3 gilt auch, wenn ein Mann oder eine Frau …“

Was liegt an

7. große Strafkammer (Jugendkammer), Landgericht Kleve, Saal A 105. Strafverhandlung gegen einen 41-jährigen Syrer aus … wegen exhibitionistischer Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Der Angeklagte soll am 7. Februar 2018 an einer Straße in … in Anwesenheit einer 16-Jährigen sein Geschlechtsteil entblößt und onanierende Bewegungen gemacht haben. Zu einem weiteren Vorfall soll es am 21. Februar 2018 gekommen sein, bei dem der Angeklagte in Anwesenheit einer anderen Zeugin in seine Hose gegriffen und onanierende Bewegungen gemacht haben soll. Zur Hauptverhandlung sind zwei Zeugen und ein Sachverständiger geladen.
Vielleicht sollte man festhalten: Auch Männer ohne Migrationshintergrund begehen exhibitionistische Taten. Dass hier überhaupt von der Nationalität eines Angeklagten die Rede ist, hat mit den Umständen zu tun.

Ein Betreuer

Der Prozess ist für 9.30 Uhr angesetzt. Gegen 9.20 Uhr taucht ein Mann auf: Er sei der Betreuer des Angeklagten, sagt er, und befürchte, der Mann werde nicht erscheinen.
Man holt den Richter. Die beiden führen ein Gespräch. „Ich denke, der Beschuldigte wird nicht erscheinen“, wiederholt der Betreuer und erklärt, er habe die Unterkunft des Mannes aufgesucht und ihn nicht angetroffen. „Wann haben Sie Herrn X. zuletzt gesehen?“, fragt der Richter. „Das ist mindestens vier Monate her.“ „Ist der denn sonst zuverlässig?“, möchte die Staatsanwältin, die auch im Saal ist, wissen. Der Betreuer kann das nicht sagen. Er hat den Klienten seit Monaten nicht gesehen. Der Mann spreche kein Deutsch und kein Englisch. Man könne nur mittels Übersetzer mit ihm reden.

Wer was will

Da verschwindet einer von der Bildfläche und das Ganze schafft es erst ins „Protokoll“, weil der Mann zu einem Prozess nicht erscheint, in dem er der Beschuldigte ist. Wenn einer eine Ladung in deutscher Sprache erhält, welche Chance hat er, ohne jegliche Sprachkenntnisse zu wissen, wer da was von ihm will?
Der Richter sagt, man wolle bis 9.45 Uhr warten und dann gegen den Angeklagten gegebenenfalls einen Haftbefehl erlassen. Eine der Zeuginnnen, so der Richter, werde wohl auch nicht erscheinen. Erschienen sind: Die Staatsanwältin, ein Verteidiger, ein Übersetzer, ein Sachverständiger.
Um 9.45 Uhr – die Uhr im Verhandlungssaal scheint noch zu funktionieren – betritt die 7. Große Strafkammer den Saal. „Bitte bleiben Sie stehen“, sagt der Vorsitzende, „wir haben zwei Schöffen zu vereidigen.“

Ver(t)eidigung

„Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, getreu der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“ Die Vereidigten werden zu Verteidigern des Gesetzes.

Einlegung in den Briefkasten

Der Vorsitzende stellt fest, dass der Angeklagte trotz „Ladung mittels Einlegung in den Briefkasten“ nicht erschienen ist. Kein Einschreiben? Offensichtlich nicht. („Es gibt Richter, die eine Ladung durch die Polizei zustellen lassen“, sagt jemand anschließend.) Auch mit dem „Einlegen der Ladung in den Briefkasten“ sei das so eine Sache, hört man. Zum Teil, heißt es, gäbe es in Unterkünften Gemeinschaftsbriefkästen. An anderen Stellen seien individuelle Briefkästen zwar vorhanden, doch nicht selten aufgebrochen. „Gehen Sie mal hin. Sehen Sie sich das an.“

Nie gesehen

Der Kreis Kleve, so der Vorsitzende, führe den Angeklagten nach wie vor unter der Adresse, die auch der Betreuer genannt hat. Der Vorsitzende wiederholt, dass der Betreuer seinen Klienten in der Unterkunft nicht angetroffen und ihn zuletzt vor vier Monaten gesehen habe. Auch der Verteidiger hat seinen Mandanten noch nie gesehen. Das lässt sich erklären. Die Verteidigung: ein Pflichtmandat. Der Verteidiger hat mehrmals versucht, Kontakt zu seinem Mandanten aufzunehmen. Keine Antwort. Er hat auch Kontakt zu dem gesetzlichen Betreuer aufgenommen. Ein Termin wurde vereinbart. Der Mandant: nicht erschienen.

Haftbefehl – wahrscheinlich …

Der Angeklagte ist am 1. Januar 1979 geboren. (In arabischen Ländern deutet dieses Geburtsdatum häufig darauf hin, dass das genaue Geburtsdatum nicht feststeht.) Der Angeklagte ist 2015 mit einem großen Flüchtlingstreck nach Deutschland gekommen. Später wurde er psychisch auffällig. Die Kommunikation: eigentlich nur mittels Dolmetscher möglich.
Die Staatsanwältin beantragt Haftbefehl gegen den Angeklagten. „Wir werden darüber in den nächsten Tagen entscheiden“, sagt der Vorsitzende.