Eigentlich möchte man es fast für sich behalten – einfach niemandem erzählen, dass man die Welt beim Ausruhen ertappt hat … in einer Art Synkope. Eigentlich.
Zeitreise
Andererseits sollen es doch alle erfahren, die sich interessieren für die Kunst. Kunst ist Betrachtung – findet irgendwo tief innen statt. Das, was man sieht, ist die Spitze des Eisbergs. Die Spannung wächst aus alledem, was drinnen wächst, wenn das Denken die Augen schließt.
Wer sich auf die Spur des Schönen machen möchte, sollte nach Neuss fahren. Die Adresse: „Langen Foundation“, Raketenstation Hombroich 1, das klingt ein bisschen wie der Titel zu einem Science-Fiction-Film – und tatsächlich: Irgendwie geht es um eine Zeitreise …
Es geht um Konsequenzen – genauer gesagt um: Kausalkonsequenz. Das ist der Titel einer Ausstellung mit Werken von Alicja Kwade – zu sehen noch bis zum 18. April 2021. Konsequenzen – das klingt irgendwie nach Strafe, nach Unumkehrbarkeit. Kausalkonsequenz – das ist irgendwie Steigerung und Abschwächung zugleich. Was Alicja Kwade in der Langen Foundation inszeniert hat, zeigt die Unumkehrbarkeit der Dinge, der Augenblicke. Da sieht man Baumstämme, aus denen Pfeifen wachsen oder Hocker und fragt sich, ob der Hocker Teil des Baumes ist oder ob es doch umgekehrt gedacht war. Da schmiegt sich eine Euro-Palette (ja richtig: es ist eine von denen, die zum Warentransport gebraucht werden) – da schmiegt sich also diese hölzerne Palette an eine Wand und erst im zweiten Anlauf wird klar: das Holz hat seine Form aufgegeben: es wächst wie eine Welle um den Winkel, den Wand und Boden beschreiben. Das Holz wird zum Kuss. Ist nun das Museum um diese Palette gebaut oder war es andersherum? Eine Palette auf dem Boden? – das hätte nichts Wunderbares; das wäre nichts, dass das Betrachten aus der Bahn gleiten lässt.
Unanhaltsam
Da wachsen Äste auseineminein Buch. Huhn, Ei, Holz, Papier. Da werden Metallreifen in Hula-Hoop-Größe in einen Raum gefaltet und am Ende fragt man sich, ob man den Wechselzustand eines Rings in angehaltenem Zustand sieht, oder ob Kwade ein Hula-Hoop-Mikado in den Raum gebaut hat. Man denkt an die Sixtinische Kappelle – an die beiden Finger, die sich berühren. Auch hier scheint ein großer Geist am Werk gewesen zu sein: das Unanhaltsame zerlegt in Einzelteile – so, als würde man mit einen Filmstreifen in der Hand halten und auf den Inhalt schließen.
Kwades Arbeiten zeigen, indem sie das Betrachten „auf links ziehen“, dass alles anders hätte sein können, anders sein könnte, anders ist. Kwade stellt die Physik auf den Kopf. Da passieren Dinge, die nicht sein können. Aber da sind sie doch und sie passieren: man sieht es mit den eigenen Augen. Da schmiegen sich riesige Findlinge um ein Stahlgerüst, hänge – der Schwerkraft ein Schnippchen schlagend – irgendwie scheinschwerelos in einer Konstruktion, die Ursache und Wirkung umzukehren scheint. All das passiert nicht: zu sehen sind aktionslose Augenblicksausschnitte, die beim Betrachten zur Ewigkeit werden. Photos of Ghosts: Man kann keine Geister fotografieren, denn wenn sie Geister sind, existieren sie nicht und wenn sie nicht existieren, kann es kein Foto von ihnen geben.
Keine Antwort
Da ist dieser Raum: vollgepackt mit Spiegeln und plötzlich steht man vor einem Spiegel, der keine Antwort gibt. Dann merkt man: Da ist kein Spiegel. Da ist nur ein Loch, das man für einen Spiegel gehalten hat. Die Antwort ist zur Frage geworden. Das Bezugssystem gerät aus den Fugen. Alles bei „Kausalkonsequenz“ dreht sich um Sein und Schein, aber Alicja Kwade tritt nicht als Physiklehrerin auf: sie ist eine, die auf der Suche nach dem Wunderbaren zu sein scheint und da ist der Gedanke:zu sein scheinen. Zu Sein scheinen. Sein und Schein.Was Kwade inszeniert, sind weit mehr als Pointen. Kunst, das spürt man in allen Arbeiten, Kunst ist organisierte Phantasie. „Kausalkonsequenz“ ist ein Plädoyer. Es ist ein Plädoyer für das Wunderbare zuerst und für die Melancholie im Nachglühen, denn man spürt in jeder Arbeit die Einzigartigkeit dessen, was uns umgibt und mit jedem Einblick steigt die Achtung vor dem, was die Ausstellung zeigt und vor dem, was möglich ist. „Kausalkonsequenz“ ist Poesie in Bildern, die Prozesse des Unumkehrbaren aufdröseln.
Weltpartitur
Man hat das Gefühl, das da jemand einen Einblick in die Partitur der Welt aufschließt. Partituren sind Punkte auf dem Papier: sie sind Protokolle von Denkoperationen, von Organisationsprozessen. Partituren werden aus ihrer Gefangenschaft nur dann erlöst, wenn sie Klang werden – wenn sie sich in Töne verwandeln und in der Verwandlung verschwinden.
Es gibt kein Jetzt in der Musik. Jeder Ton ist nur ein Bruchstück. Struktur entsteht aus der Kombination aus Erinnern und Erwarten an der Schnittstelle des Augenblicks. Kwades „Kausalkonsequenz“ scheinen all diese Zusammenhängen auszuhebeln – kehren sie um … setzen sie fort … dokumentieren sie durch Beobachtung und lösen sie auf in Einzelbilder, die erst in der Reihung einen Sinn ergeben.
Zärtlichkeitsessays
Kwades Arbeiten sind inszeniertes Nachdenken – Zärtlichkeitsessays über das Wunderbarunumkehrbare. Sie entfalten in eben diesen Räumlichkeiten ihr unglaubliche Wirkung. „Kausalkonsequenz“ ist ein Blick auf die Welt, aus der Welt, über die Welt, in die Welt: alles passiert in dieser einen magischen Sekunde des Hinsehens: die Welt wächst zusammen, trennt sich, marschiert vorwärts, träumt zurück. Da ist dieser Moment, den es niemals geben kann – der Moment, in dem jemand „Haltstopp“! sagt, der Moment, in dem alles zum Stillstand kommt und man durch diese eine, magische Sekunde spazieren kann wie durch einen wirklich existierenden Raum. Alles ist wirklich Illusion. Alles gewinnt an Bedeutung. Alles löst sich auf. Verschwindet. Ist verloren und doch gewonnen. Da scheint jemand zu flüstern: Denkt noch mal nach. Es ist zu spät. Eigentlich. Am Schluss – nach dem Hinausgehen – überlegt man, ob all das stattgefunden hat oder ob die Sekunde des Wunderbaren nur Einbildung war. Aber da ist diese Adresse. Da ist die Ausstellung. Da sind die Menschen, denen man begegnet ist. Das ist kein Beweis – nicht, nachdem man „Kausalkonsequenz“ gesehen, genossen, aufgesaugt hat. Nichts ist Beweis. Alles kann sich auflösen.
Frieden …
Zuhause, nachdem man die Autotür öffnet, fällt das Katalogheft aus der Tasche: der Beweis. Endlich. Oder war es doch die Truman Show? Alles ein Film im Film? Eine Partitur in der Partitur? Die Seele antwortet: Es hat stattgefunden. Das Hirn sagt: Bilde dir bloß nichts ein. Dann das Herz: ruhig schlägt es. Zufrieden wie lange nicht. Zufrieden. Frieden … den …