Wer in die Geschichte eintaucht, findet in der Regel nicht nur Lorbeeren. Das gilt vor allem dann, wenn es um den „Rücksturz ins Braune“ geht. Wie schnell 1.000 Jahre vorübergehen und wie verheerdend sie trotzdem sein können. Wer zurücktaucht in jene Zeit, findet Täter, Opfer, Mitläufer – eben alles, was sich (nicht nur in deutscher Geschichte) finden lässt.
Eine Expertin
Helga Ullrich-Scheyda ist das, was man eine ausgewiesene Expertin nennen darf. Als die Gemeinde Kranenburg bei ihr anfragte, ob sie sich vorstellen könne, Vergangenheitsaufarbeitung in Sachen Kranenburg in Form eines Buches zu betreiben, war die Frage aus Ullrich-Scheydas Sicht rhetorisch. Natürlich wollte sie.
Fluch der Wiederholung
Günter Steins, Bürgermeister in Kranenburg: „Die Idee zu diesem Projekt kam aus der Politik. Das Ganze ist natürlich noch immer ein sensibles Thema. Aber es ist auch eine Möglichkeit, aus der Aufarbeitung des Vergangenen Erkenntnisse über Gegenwart und Zukunft zu gewinnen.“ Steins zitierte einen Satz des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers George Santayana: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“
Geschichtsschreibung
Was Helga Ullrich-Scheyda auf knapp 300 Seiten vorgelegt hat, ist Geschichtsschreibung, die nicht ansetzt, Schuld zu verteilen. Der Titel des Buches – „Alte Grenzfeste im neuen Deutschland?“ – entstammt einer Werbeanzeige Kranenburger Geschäftsleute aus dem Jahr 1933 im „Volksfreund“: „Cranenburg, die alte Grenzfeste im neuen Deutschland! Deutsche Volksgenossen! Tut eure Pflicht! Kauft am Platze!“, heißt es da. „Sehr verknappt werden hier wesentliche Aspekte des Buches zusammengefasst“, schreibt die Autorin und verweist darauf, dass aus dem ursprünglichen Ausrufzeichen im Buch ein Fragezeichen geworden ist.
Deutliche Haltung
Eben hier wird Haltung deutlich: Geschichtsschreibung darf, muss Fragen stellen. Natürlich ist Ullrich-Scheydas Buch mehr als eine „Fragestunde an das Vergangene“. Da geht jemand mit eben jener Akribie zu Werke, die einzig in der Lage ist, Überblick zu schaffen und mit dem Überblick die Möglichkeit öffnet, Zusammenhänge zu sehen und – im Idealfall – zu verstehen. Natürlich – auch das muss man im Blick haben – sind Geschichte (und somit Geschichtsschreibung) perspektivisch gebunden.
Fragen stellen
Wissenschaft beginnt mit Fragen: Wie kann Geschichte ins Bodenlose fallen? Wie gehen Achtung und Respekt verloren? Wie wird aus einer Minderheit eine Mehrheit? Wie wird aus dem Demokratischen das Diktatorische? Wie entsteht Herrschaftsdenken? Wie kann das Menschliche über Bord gehen? Wie wird aus Unrecht Recht? All das lässt sich nur durch genaue „Belichtung der Quellen“ erreichen. Geschichte erzählt sich am Ende immer selber. Die Nachwelt mag Schlüsse daraus ziehen oder sich den Erkenntnissen verweigern.
Zahlen
Bei den Wahlen zum Kreistag im November 1929 erhielt die NSDAP in Kranenburg 2,1 Prozent. Kaum vier Jahre später verzeichnete die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 einen Stimmenanteil von 21,5 Prozent in Kranenburg. In Niel waren es 47 Prozent.) Stationen einer Geschichte. Statistik eines Wandels.
Ullrich-Scheydas Buch macht sich auf den (notwendigen) Weg ins Gewesene und beleuchtet dabei auch Biografien von Menschen – erzählt deren Leben anhand von Quellen. Bürgermeister tauchen auf, Lehrer, Geistliche. Manche der „Darsteller“ werden beim Namen genannt – andere bleiben (aus nachvollziehbaren Gründen) anonym.
In dem Kapitel „Die andere Seite der Volksgesellschaft“ geht es auch um Menschen, die als „Erbkranke und Alkoholiker“ zu Opfern wurden, die im Nachhinein eines Schutzes bedürfen, der ihnen zu Lebzeiten und bis zu ihrem Tod nicht gewährt wurden.
Ein Echo
Ullrich-Scheyda ist sich der Tatsache bewusst, dass ihr Buch nicht nur positiven Widerhall finden wird. Dass sich eine Autorin vom Gedanken an ein Echo nicht schrecken lässt, gehört zu den wichtigen Voraussetzungen zur Erhaltung eben jener Freiheit, die Geschichtsforschung dieser Art erst ermöglicht und Gelegenheit bietet, sich den Ergebnissen zu stellen.
„Nach der Machtübernahme 1933 setzten die Nationalsozialisten ihre politischen Ziele rücksichtslos durch. Die Diktatur drang in alle Lebensbereiche ein. Aber nicht nur Gewalt und Verfolgung bestimmten die ‚neue Zeit‘, sondern auch eine durch massive Propaganda angeheizte Zustimmung der Bevölkerung, die ihre Hoffnungen besonders auf den ‚Führer‘ Adolf Hitler und seine Verheißungen auf ein wiedererstarktes Deutschland setzte“, heißt es im Klappentext.
Fortsetzung folgt?
Und wie lässt sie die Wiederholung des Schreckens vermeiden? Wissen allein ist kein Schutzschild – es muss eine Verbindung von Kenntnis mit dem stattfinden, was vielleicht aufrechte Haltung genannt werden kann. Aber auch hier lehrt die Geschichte: Wer die Macht bekommt, legt nicht selten auch die moralischen Maßstäbe fest. Die größte Falle, in die man tappen kann ist die, sich automatisch für einen Teil „des Guten“ zu halten oder zu unterstellen: „Das kann mir doch nicht passieren …“
Günter Steins, der sich eine Fortsetzung der Kranenburger-Geschichtsschreibung über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus vorstellen kann: „Natürlich ist es aus heutiger Sicht sehr einfach, Dinge besser zu wissen und Schuld zuzuweisen, aber es geht in diesem Buch in erster Linie darum, zu sehen, wie Menschen in ihrer Zeit agiert haben.“ Ein wichtiges Buch. Ohne Frage. Und irgendwie auch unverzichtbar.
Infos zum Buch
Helga Ullrich-Scheyda: „Alte Grenzfeste im neuen Deutschland? Kranenburg in der Zeit des Nationalsozialismus.“ Kranenburg 2020. 288, Seiten, 250 Abbildungen. ISBN 978-3-00-065391-9.
Das reich illustrierte Buch ist ab sofort zum Preis von 18,– Euro an folgenden Verkaufsstellen erhältlich: Tourist Info Alter Bahnhof, Bahnhofstraße 15, Kranenburg, Buchhandlung Breuckmann (Postagentur), Große Straße 9, Kranenburg, Buchhandlung Hintzen, Hagsche Straße 46–48, Kleve.