Schreibkraft
Heiner Frost

Wo ein Wunsch ist …

Foto: Rüdiger Dehnen

Justiz ist nicht barrierefrei. Kann sein, dass man es mit Rollstuhl in den Gerichtssaal schafft, aber es gibt andere Barrieren als Rampen und Treppen. Frau S. ist 41. Ihr Intelligenzquotient wird unterschiedlich angegeben … Zahlen spielen keine Rolle.

Frau S. sitzt auf der Anklagebank. Der Staatsanwalt verliest eine Anklage, in deren Zentrum sie, S., seht.

Vorwürfe

Strafverhandlung gegen eine 41-Jährige wegen Bedrohung in fünf Fällen, in einem davon tateinheitlich mit einem tätlichen Angriff gegen einen Vollstreckungsbeamten, Nötigung in drei Fällen, in einem Fall tateinheitlich mit versuchter Sachbeschädigung, sowie Körperverletzung in einem Fall.
Laut Staatsanwaltschaft soll die Beschuldigte im Dezember 2018 damit gedroht haben, sich umzubringen. Daraufhin seien zwei Polizeibeamte erschienen, nach welchen die Beschuldigte getreten haben soll.
Im Februar 2019 und im August 2019 soll sie zudem in der von ihr bewohnten Einrichtung gegenüber einer Mitarbeiterin gedroht haben, diese umzubringen, während sie ein Messer beziehungsweise einen Wasserkocher und eine Metallreibe in der Hand gehalten habe. Sie soll dabei gefordert haben, in eine Klinik eingewiesen zu werden und mehrere Stühle gegen eine Glasscheibe geworfen und einen Mitarbeiter geschubst haben.
Laut Staatsanwaltschaft soll die Beschuldigte die Taten im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen haben.
Zum Hauptverhandlungstermin sind sieben Zeugen und ein Sachverständiger geladen.

Ein steiler Hang

Frau S. hat Messer verschiedener Größen benutzt – Kartoffelschälmesser waren es also nicht. Eher schon Fleisch- und Brotmesser. Die Sprache der Anklage: für S. ein steiler Hang. Sie sitzt irgendwie abwesend im eigenen Schicksal.
„Möchten Sie uns etwas über sich oder die Taten erzählen?“, fragt der Vorsitzende. Die Antwort: „Nö – möchte ich nicht.“ Irgendwie aber schafft es der Vorsitzende, die S. aus ihrer Reserve zu holen. Es braucht ein bisschen Zeit, bis sich das Niveau der richterlichen Fragen der Befragten angepasst hat.

„Ich habe Borderline“

Gibt es Verhandlungen in einfacher Sprache? Kann Justiz sich auf Augenhöhe begeben, wenn das Auffassungsvermögen eines zu Befragenden das erfordert?
Frau S. hat Borderline. „Ich habe Borderline“, sagt sie. Sie sagt das immer wieder. Eine Litanei entsteht. Später sagt sie: „Früher hatte ich ein anderes Borderline als jetzt.“
S. kann sich „innerlich nicht ausdrücken“. S. zum Richter: „Ich kann mich innerlich nicht ausdrücken, weiße.“ Später sagt sie: „Ich weiß nicht, weiter. Ich weiß nicht, was mein Leben noch hergibt, weiße.“ Und: „Ich habe mein halbes Leben in der Klinik verbracht.“ Und: „Ich bin psychisch krank. Manchmal geht‘s mir schlecht. Noch fühl‘ ich micht gut.“ „War das mit den Bedrohungen ernst gemeint?“, fragt der Vorsitzende. S.: „Eigentlich nicht, aber ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich habe gedacht, wenn ich das mache, dann komme ich da weg. Ich wollte, dass die Polizei kommt und mich da weg holt.“

Aus dem Ruder

Frau S. hat Bedürfnisse. Werden die nicht zufrieden gestellt, können Situationen aus dem Ruder laufen. Sie wirft mit Stühlen, droht mit Messern „Ich stech euch alle ab!“ und scheitert am Ende an sich selbst.
„Man geht mit ihr in ein Café“, sagt eine Betreuerin. „Alles ist normal. Dann beschließt sie, dass ihre Beine nicht mehr funktionieren. Dann wirft sie sich auf den Boden und bleibt liegen, bis der Krankenwagen kommt.“
In ihrer eigenen Welt ist S. dann gelähmt. Sie ist ganz sicher, dass sie nicht mehr gehen kann.
Frau S. hat einen Wunsch: Sie möchte in eine geschlossene Station. Das Leben in einer Wohngruppe ist nichts für sie.

Kein Geld fürs Taxi

Sie kann, so sagt es ein Behandlungsvertrag, jederzeit vorsprechen, wenn sie nicht klarkommt. Dann kommt dieser Tag, an dem sie beschließt: Es ist jetzt so weit. Sie möchte in die Klinik. Sie braucht ein Taxi, um dorthin zu fahren, aber ihr Taschengeld ist aufgebraucht. Kein Geld, kein Taxi, keine Klinik. Eine Wunschunterbrechung. Für S. ist klar: Handelt sie nicht, wird nichts passieren.
„Ich habe dem Betreuer gesagt, dass ich da hin will. Er hat gesagt: Es geht nicht. Er hat gesagt: Es geht nicht. Es geht nicht.“ (Das war vorher.) Jetzt fehlt es an Geld. Frau S. möchte ihren Willen durchsetzen. Sie holt ein Messer. Droht mit Gewalt. Nur einer von insgesamt neun Vorfällen, in die Licht zu bringen die Kammer angetreten ist.

„Ich war so um die 20, 30“

Natürlich geht es darum, was passiert ist, was hätte passieren können und wie sich die Menschen auf der anderen Seite des Messers gefühlt haben. Frau S. sitzt auf ihrem Platz und ihr Gesichtsausdruck spricht von Langeweile und Abwesenheit, während da über sie gesprochen wird. In den 90-ern hat sie in Neuss einen Überfall begangen. „Wissen Sie noch, wie alt Sie waren, als das passiert ist?“, fragt der Vorsitzende und S. antwortet: „Ich war so um die 20, 30.“
Jahre sind ihr, scheint es, wie Tage. Auch umgekehrt ist es denkbar: Gerade jetzt kämpft sie gegen die Jahre, die diese Verhandlung zu dauern scheint. Um 9 Uhr hat der Prozess begonnen – jetzt ist es 10.30 Uhr. Man wartet irgendwie darauf, dass sie aufsteht und sagt: „Mein Gott, ist das langweilig hier.“

Desolate Prognose

Zwischendurch taucht sie auf. Einen Wasserkocher hat sie nie in der Hand gehabt, um damit zu drohen. Ein Pfanne? Vielleicht. Oft erinnert sie sich nicht. „Das ist schon lange her.“ Sie macht den Eindruck, redlich auf der Suche nach Gewesenem zu sein. „Sie hat sich anschließend bei allen entschuldigt“, sagt eine der Betreuerin, die einen der „Vorfälle“ miterlebt hat.
Der psychiatrische Gutachter stellt eine desolate Prognose. S. gehört in die Forensik. Ja – bisher hat sie nur gedroht, aber aus psychologischer Sicht ist der Übergang von der Drohung zur Tat sehr klein. Für die Justiz mag es anders sein. Die Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Taten: stark eingeschränkt oder möglicherweise nicht vorhanden.
S. sitzt irgendwie teilnahmslos dabei. Man wird sie „unterbringen“.

Das Gesetz

Unterbringung gemäß Paragraph 63 Strafgesetzbuch. „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Danke schön

Letzte Worte: S. will nicht mehr in eine Wohngruppe. Sie will in die Forensik. Man soll ihr helfen. Therapie möchte sie. „Danke schön.“

S. hat ihr Päckchen zu tragen: Vater Alkoholiker, der Mutter und Kinder schlug. S. hat epileptische Anfälle, eine Hirnhautentzündung gehabt, ist emotional irgendwie auch desolat. Hindernisse türmen sich. Die epileptischen Anfälle: Von Psychosen überlagert. Das Leben hat ihr übel mitgespielt. Ihrem Wunsch wird entsprochen. Unterbringung nach Paragraph 63.

Die Aussichten: trübe. Wahrscheinlich wird Frau S. die Forensik in ihrem Leben nicht mehr verlassen. Zu düster die Prognosen. Zu groß die gefühlte Gefährdung. Frau S. ist irgendwie abgeschrieben. Man weiß nicht, ob das ihren Wünschen entspricht …

Weitere Infos zum Thema Maßregelvollzug

„Keine Strafe ohne Schuld. Das ist einer der wichtigsten Prinzipien des Strafrechts. Wer wegen psychischer Krankheit für schuldunfähig befunden wird, darf in Deutschland nicht bestraft werden. Egal, was die Person getan hat.“ (Aus: In der Dunkelkammer des Strafrechts“. Autorinnen: Carolin Haentjes und Antonia Märzhäuser. Feature: siehe unten.)

In der Dunkelkammer des Strafrechts. DLF-Feature zum Thema: Maßregelvollzug

 

„Maßregelvollzug ist nicht Strafvollzug und ist nicht Sicherungsverwahrung. Maßregelvollzug leistet die fachgerechte Behandlung und sichere Unterbringung von Straftätern, die aufgrund ihrer psychischen oder Suchterkrankung das Unrecht ihrer Straftat nicht einsehen können. Diese Täter werden in der Regel von Gerichten als nicht oder vermindert schuldfähig in forensisch-psychiatrische Kliniken eingewiesen – im Unterschied zu schuldfähigen, für ihre Tat voll verantwortlichen Rechtsbrechern, die überwiegend in Justizvollzugsanstalten kommen.“ Quelle: