Das Telefon schellt. Frau Grub nimmt den Hörer ab. Es ist Herr Breuer. Die Sache ist wichtig …
Sicherungsmaßnahmen
Herr Breuer arbeitet für die Sicherheitsabteilung der Bank, bei der Frau Grub ihr Konto hat. Jemand hat versucht, von Grubs Konto eine größere Summe zu überweisen. Da stimmt etwas nicht. Sicherungsmaßnahmen müssen ergriffen werden. Das sagt auch Oberkommissar Braun. Der ist gerade in Herrn Breuers Büro. Ja, sagt auch Brauer: Es müsse etwas getan werden. Er gibt den Hörer zurück an Herrn Breuer. Jetzt nur die Ruhe. Frau Grubs Konto und ihre EC-Karte müssen sofort gesperrt werden. Herr Breuer benötigt Frau Grubs PIN Nummer. Und dann noch etwas: Man wisse ja nicht, wie es weitergehe. Vielleicht ist Frau Grub längst ausgespäht. Vielleicht will man sie zuhause aufsuchen, um an ihre Wertsachen zu kommen. Nein, Frau Grub soll auf keinen Fall jetzt auflegen. Sie muss dran bleiben. Herr Breuer muss doch wissen, ob alles in Ordnung ist. Herr Breuer wird eine weitere Sicherungsmaßnahme ergreifen. Er wird Herrn Nowak zu Frau Grub schicken. Sie soll Schmuck und Bargeld bereit legen und dann Herrn Nowak aushändigen. Sicher ist sicher. Frau Grub soll nicht auflegen. Herr Nowak wird gleich da sein. Es schellt. Der junge Mann vor der Tür muss Herr Nowak sein. Nowak sagt nichts. Er tut nichts. Er nimmt Bargeld und Wertsachen entgegen. Verabschiedet sich. Die Sache ist ausgestanden …
Er gehört zu mir
„Zu wem möchten Sie?“, fragt die Protokollführerin im Gerichtssaal A1 des Klever Amtsgerichts. „Ich komme wegen des Kirchenaustritts“, sagt der Mann. „Da sind Sie hier falsch.“ Dann: Dann betreten drei Angeklagte in Handschellen den Saal. „Wer sitzt wo?“, fragt ein Justizwachtmeister und eine der Verteidigerinnen antwortet, in dem sie auf einen aus dem Trio zeigt: „Er gehört zu mir.“ Man hat jetzt eine Melodie im Kopf. Aber das gehört nicht hierhin.
Die drei Herren – nennen wir sie A., B. und C. sind wegen gewerbsmäßigen Betruges angeklagt und sollen Mitglied einer Bande sein. Es geht um den Vorfall mit Frau Grub. Es gab einen weiteren Vorfall – ähnlich gelagert. A. hat das Auto gefahren, mit dem B. zu den Tatorten gelangte, an denen er bei den älteren Damen Schmuck und Bargeld in Empfang nahm. Nennen wir also B. so, wie ihn auch Frau Grub nannte: Nowak. Erste Zuständigkeiten sind also geklärt. A. der Fahrer, Nowak der Sammler. Und was ist mit Herrn C.? Der hat bei der zweiten der beiden Taten mit A. zusammen im Auto gesessen. Mehr nicht.
Nicht zum Tomatenholen
Nach der Verlesung der Anklage beginnt der Vorsitzende seine Befragung. Das Ganze zieht sich. A. gibt zu, dass er das Auto gefahren hat. Einen Führerschein besaß er zu diesem Zeitpunkt nicht. A. hat Nowak gefahren, dann auf ihn gewartet und ihn schließlich wieder zurück gefahren. Bei beiden Taten. A. hat, sagt sein Verteidiger, gewusst, dass er Nowak nicht zum Tomatenholen fährt. Aha. A.: verschuldet. Bei seinem Dealer. Das „Taxifahren“ gewissermaßen eine Gegenleistung. Der Lohn: 100 Euro. Herrn Nowak haben die Spielschulden gedrückt. Die „Damenbesuche“: Versuche der Schuldenreduzierung.
Strukturen
Man lernt etwas über Strukturen. Es geht um Keiler, Logistiker, Abholer. Das System, dass ältere Damen wie Frau Grub zu Opfern macht: eine perfekte Maschinerie. An der Spitze: die Keiler. Sie lenken aus der Ferne das Geschehen. Sie halten die Telefonverbindung zu den Opfern aufrecht. Es geht darum, dass die nicht in der Lage sind, Hilfe oder Rat bei Freunden oder Verwandten einzuholen. Wer in telefonische „Geiselhaft“ genommen wird, kann nichts tun, was den Plan des Keilers gefährdet. Unter der Keiler-Etage: die Logistiker. Das wäre dann, sagt die Staatsanwältin, in diesem Fall Herr A., der dafür sorgt, dass Nowak – der Abholer also – an den Tatort und zurück kommt. Alles zusammen ergibt die Bandenstruktur.
Die Vernehmungen der drei Angeklagten ziehen sich. A. und Nowak gestehen, was zu gestehen ist. Sie sind zusammen mit Herrn C. unmittelbar nach der zweiten Tat festgenommen worden. A. gibt zu, gefahren zu sein, Herr Nowak gesteht das Abholen. Herr C. hat nichts zu gestehen. Er ist nicht Teil einer Bande. Er hat im Auto geschlafen.
Erinnerungslücken
Herr Nowak hat Erinnerungsprobleme. Und dann auch wieder nicht. Herr Nowak ist ein Phänomen. Je größer der Abstand zum Geschehen, um so besser wird die Erinnerung. Ist es normalerweise nicht eher umgekehrt?
Der Vorsitzende hat Zeugen geladen und merkt schnell: Der ursprünglich gedachte Zeitplan ist nicht zu halten. Wessen Aussage wird eigentlich gebraucht? Nach und nach stellt sich heraus, dass die Hälfte der Zeugen nicht gebraucht wird. Die Staatsanwaltschaft sieht es so. Die Verteidiger auch. Schnell merkt man: was über die Geschichte erzählt werden könnte, sprengt das Verstehen. Es geht um juristische Details, die klar werden lassen: Es handelt sich um Spezialistenangelegenheiten.
Muss das sein?
Müssen Frau Grub und die andere ältere Dame befragt werden? Es stellt sich heraus: Frau Grub möchte aussagen. Sie möchte mitteilen, was ihr widerfahren ist. Das zweite Opfer, Frau Back, möchte nicht noch einmal aussagen, was sie schon bei der Polizei gesagt hat.
Würde es, möchte der Vorsitzende wissen, ausreichen, die Aussage der Frau Back zu verlesen? Zustimmung von allen Seiten. Dann erzählt Frau Grub. Sie wirkt ruhig. 83 Jahre ist sie alt. Eigentlich hatte sie mit der Geschichte abgeschlossen. Dann: die Vorladung zum Gericht. Da sei sie, sagt Grub, dann doch wieder unruhig geworden.
Sie hat sich Notizen gemacht – muss nachsehen, wie die Herren hießen, mit denen sie zu tun hatte: Herr Breuer, der Mann von der Bank, Herr Braun, der Oberkommissar, Herr Nowak, der stumme junge Mann vor ihrer Tür.
Wenn’s kein Falschgeld ist …
Herr A. hat gehört, dass Frau Grub einen Schaden von 1.000 Euro erlitten hat. Sein Anwalt würde Frau Grub gern das Geld übergeben und Herr A. möchte sich entschuldigen. „Darf ich das annehmen?“, fragt die alte Dame den Vorsitzenden? „Das ist okay, wenn es kein Falschgeld ist.“ Zurück zu A.: Nie hat er sich so geschämt wie gerade jetzt. „Waren Sie das an meiner Tür?“, fragt Frau Grub. „Nein. Mein Mandant ist derjenige, der das Auto gefahren hat“, springt der Verteidiger ein. An der Tür – das war Herr Nowak. Auch der möchte sich bei Frau Grub entschuldigen. „Ich kann das nicht rückgängig machen, aber es tut mir wirklich sehr leid und ich schäme mich“, sagt Nowak. Er wirkt angegriffen vom eigenen Tun. Frau Grub nimmt die Entschuldigungen an. „Ich hoffe, dass ihr was gelernt habt“, sagt sie.
Reichlich Vorstrafen
Bundeszentralregister
Dann geht es zurück in die juristischen Details. In die Zuständigkeiten. Herr A. und Herr Nowak haben, erfährt man beim Verlesen des Auszugs aus dem Bundeszentralregister, einiges an Vorstrafen. Neun sind es für A., zwölf für Herrn Nowak. Es geht – bei beiden – nicht ausnahmslos um Kleinigkeiten. Gefährliche Körperverletzung, schwerer Raub, Raub und Erpressung, versuchte Körperverletzung und Beleidigung. Herr C. ist mit einer makellosen Bilanz „angereist“. Vorstrafen: Null.
Der Vorsitzende regt an, man solle in der gehabten Reihenfolge plädieren. A.s Anwalt zuerst. „Vielleicht halten wir uns doch besser an die Strafprozessordnung und lassen die Frau Staatsanwältin beginnen“, sagt A.s Verteidiger.
Vorher eine kurze Unterbrechung. 15 Minuten. Zwei Jahre, sechs Monate fordert die Staatsanwältin für Herrn A., zwei Jahre für Herrn Nowak und 60 Tagessätze zu je 10 Euro für Herrn C. Es stehe, sagt sie, fest: A. und Nowak: Mitglieder einer Bande. C.s Schuld: psychische Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug. Für Herrn A. ist – zusammen mit seinen anderen Strafen – eine Gesamtstrafe von vier Jahren zu bilden, für Herrn Nowak sollen es drei Jahre sein.
Keine Bande
Dann schlägt die Stunde der Verteidigung. A.s Verteidiger kann nicht erkennen, dass A. und Nowak Mitglieder einer Bande sind. Er spricht von „zwei Doofen“. Er spricht davon, dass – moralisch gesehen – die beiden in die unterste Schublade gegriffen hätten, aber vor Gericht gehe es nicht um die Moral, sondern um den Nachweis einer Schuld. Sein Mandant: geständig. Sein Mandant hat Frau Grub Geld gegeben. Sein Mandant hat sich entschuldigt. Für die Staatsanwältin scheine all das nicht zu zählen. „Ich stelle mich hier nicht hin und werde um eine Strafe zur Bewährung bitten. Das habe ich meinem Mandanten auch gesagt.“ Aber es gehe um eine Strafe weit unterhalb des Antrags der Staatsanwaltschaft.
Nowaks Verteidigerin zeigt sich von den Ausführungen der Staatsanwältin „etwas erstaunt“. Ihr Mandant als Mitglied einer Bande? Gehilfe. Bestenfalls. Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug? Allenfalls Beihilfe zum Betrug. Herr Nowak, ein Mann mit Spielschulden, der „da in etwas hineingeraten ist“. Der Mandant nickt.
Finale
Dann C.s Verteidigerin. („Das Beste kommt zum Schluss“, sagt sie. Die Kollegen werden das anders sehen.) Sie positioniert sich anders und stimmt, was A. und Herrn Nowak angeht, der Staatsanwältin weitgehend zu. Was aber will man ihrem Mandanten zur Last legen? Ob der im Tatfahrzeug schlief, scheint nicht mehr festzustellen. Was er gewusst hat? Wer kann das sagen. Freispruch. Der Zweifelsgrundsatz. Sollte das Gericht ihren Mandanten doch verurteilen, dann gewiss allenfalls wegen psychischer Beihilfe zum Betrug. Kein Gewerbe. Keine Bande.
Eine Stunde berät sich die Kammer und spricht Herrn C. frei. Herr A. bekommt zwei Jahre, neun Monate – für Herrn Nowak werden es zwei Jahre, drei Monate. Beide sind nach Überzeugung des Gerichts, „kleine Lichter“. A.: wohl eher kein Logistiker sondern Befehlsempfänger wie Herr Nowak. Ein neues Wort kann gelernt werden. A. und Nowak: tatgeneigt. Beide von Schulden angetrieben. Drogenschulden beim einen, Spielschulden beim anderen. Beide werden wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs verurteilt.
Ein letzter Blick auf die Opfer. Niemalsnie, möchte man ihnen sagen, wird ein Bankmitarbeiter anrufen und nach einer PIN fragen. Aber man schaut nicht in Köpfe, Seelen, Situationen. Ein niemalsnie ist schnell ausbuchstabiert. Es muss der Wirklichkeit nicht standhalten. Frau Grub – sie hat man vor Gericht erlebt – machte einen gefestigten Eindruck, aber das muss nichts heißen. Körper und Seele raffen sich auf in solchen Situationen. Menschen wirken stark und sind doch angegriffen. Sie wollen nicht noch einmal Opfer werden. Man hat nicht wirklich Mitleid mit Herrn A. und Herrn Nowak. Sie haben es ja selbst gesagt: Nie haben sie sich so geschämt. Sie werden wissen warum.
P.S. Alle Namen wurden geändert. Übereinstimmungen mit wirklichen Personen wären rein zufällig.