Es ist der 2. 2. 22. Mehr Schnapszahl geht fast nicht. Ein Grund zu Heiraten für die einen. Und für die anderen? Ein Auftrag vielleicht: „Fahr doch mal nach Leverkusen. Museum Schloss Morsbroich. Sieh dir eine Ausstellung an.“ Wird gemacht.
Startrampen
Wer nach Lösungen sucht, ist im Museum vielleicht falsch aufgehoben. Museen sind Startrampen auf dem Weg ins Wunderbare, ins Rahmenlose – in die atemraubende Welt der eigenen Gedanken.
ReferenzRäume
Beispiel gefällig? Man könnte nach Leverkusen reisen. Dort zeigt das Museum Morsbroich noch bis zum 24. April „ReferenzRäume“ von Mischa Kuball. Kuball ist ein Geschichten-Erzähler. Kunst, denkt man, ist Ereignis am Ende eines Gedankens. Einen wie Kuball stellt das nicht zufrieden. Um seiner Kunst nahe zu kommen, sind die eigenen Gedanken unerlässlich. Kuballs Werke sind mitreißend, weil sie mitreisend sind. Man macht sich auf den Weg in den eigenen Kopf und denkt: Kuball war schon da. Er ist keiner, der eine Mona Lisa malt und uns allein lässt. Kuball ist kein Mann der Abgeschlossenheiten. Er ist Zuständen auf der Spur und nicht Zuständigkeiten.
Du bist die Fortsetzung
Da stellt einer Diaprojektoren ins Innere eines Aktenschubladenschrankes. Die Schubladen: allesamt geöffnet. Hineinsehen würde man vielleicht gar nicht, wäre da nicht das Loclgeräusch des rotierenden Dia-Magazins. Dann sieht man, dass im Inneren Bilder auf die Innenrückseite der Schubladen projeziert werden. Wer sich nicht bewegt, wird nichts sehen. Der Schrank: vor einem Fenster platziert, durch das der Blick nach außen wandern kann. Es entsteht dieses Gegenwicht aus eingesperrten Bildern – versteckt in Schubladen – und dem ungehindert freien Blick in eine schubladenlose Welt. Kuball hebt nicht den Zeigefinger. Er scheint zu fragen: Was fällt dir dazu ein? Kuball ist einer, der eine Geschichte anreißt und dann sagt: Du bist die Fortsetzung.
Geschichtenfortsetzer
Und während man so dasteht, wird klar: Die Zahl der Fortsetzungen ist gleich der Zahl der Zuschauer. Man sollte ein Spalier bilden lassen – eines aus Geschichtenfortsetzern. Da wird einer – im Inneren eines schwarzen Schubladenschranks – zum Bilder-DJ. Es geht um Zustände. Nicht um Zuständigkeiten. „Magazin des 20. Jahrhunderts – Metallschrank mit vier Schubladen, vier Diaprojektoren mit je 81 Dias“ – so steht es im Katalog. Eine karge, wuchtlose Beschreibung, die erst beim Abgleich mit der Wirklichkeit ihre Sprengkraft entwickelt. Man reist ins Hirn: Kuball ist schon da. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Kunst ist die wunderbare Aufhebung des Prinzips von Ursache und Wirkung. Kuball scheint zu sagen: quod erat demonstrandum. Was zu beweisen war.
Viertakter
Kunst, denkt man, ist ein Viertaktmotor: Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen. Jede Phase ist lebenswichtig. Ohne Ansaugen keine Verdichtung, ohne Arbeit kein Ausstoß. Bei Kuball lässt sich der Physik ein Schnippchen schlagen. Reihenfolgen lassen sich umkehren. Die Einstiegspunkte: frei wählbar. Das „Magazin des 20. Jahrhunderts“ – was, bitte war zuerst? Es spielt im besten aller Sinne keine Rolle.
Verschwinden
Da ist einer, der ein ganzes Museum in Beschlag genommen hat – einer, dem man zutraut, dass er auch zwei Museen mit seinen Erzählungen bespielen könnte. Da ist einer uneitel genug, das Erzählte ins Zentrum zu rücken und als Erzähler zu verschwinden. Was natürlich ein Trugschluss ist. Niemand kann spurlos verschwinden in seiner Kunst. Kuball – das wird mit jedem neuen Raum klar – ist einer, für den man Überwältigung anders buchstabieren sollte: es geht um Überweltigung. Zustände – nicht Zuständigkeiten.
Fünf Planeten
Da ist dieser Raum, in dem sich fünf angeleuchtete Discokugeln befinden und Buchstaben an Wände, Decke und Boden zu spucken scheinen. Je mehr man sich auf das Wandern der Buchstaben einlässt, um so mehr zieht es einem den Boden unter den Füßen weg. Alles löst sich in Schwebung auf – es ist eine saugende Schwebung, der nur entkommen kann, wer den Raum wieder verlässt oder die Augen schließt. „Five Planets“ – wieder geht es um Zustände und nicht um Zuständigkeiten.
Gesammeltes Schweigen
„Platons Mirror“ – Kuballs gesammeltes Schweigen. An der Wand, hoch deckenwärts: Schwarzweißfotografien. Auf dem Boden: Magazinkisten. Da hat vielleicht einer sein Gehirn ausgepackt. In manchen Kisten: Bilder. Denkrückstände vielleicht. Kuball, man muss das begreifen, ist ohne den eigenen Kopf nicht denkbar, nicht erlebbar, nicht nachvollziehbar. Gesucht wird der eigene Gedanke am Ende einer fremden Erzählung. Man reist ins eigene Hirn: Kuball war schon da. Aber vielleicht ist es auch so, dass man, lange vor der Zeit des Erzählens, in Kuballs Kopf Inventur gemacht hat. Wer Lösungen sucht, sollte nicht ins Museum gehen.
Erleuchtungen
Kuball arbeitet – natürlich – mit Licht. Längst haben sich alle Eindeutigkeiten aus dem Staub gemacht. Licht, Erleuchtung. Erleuchtung, Bewusstwerdung:
In einem Raum etwas, das aussieht wie zwei Augen. Man sieht durch die Pupillen nach draußen. Die Pupillen: Gläser. Was man sieht, ist eine schemenhafte Welt, die sich bewegt. Längst fühlt man sich in Kafkas Universum: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte …“
Explosion ins eigene Hirn
Es kann auch eine ganz andere Geschichte sein. Kuball schafft den Raum fürs eigene Denken, Empfinden, Erkunden. Baut da einer Beliebigkeiten für unsere Seligkeit? Aber gar nicht. Da stellt einer die Welt zur Verfügung. Ich und du, Müllers Kuh. Da erzeugt einer Anwesenheit durch Verschwindung. Klingt das jetzt zu abgefahren? Vielleicht. Man kann nicht mehr Platz fürs eigene haben als in dieser Ausstellung, aber: man muss sich die Welt erarbeiten: Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen. Zwischendrin: Zündung. Explosion ins eigene Hirn. Für Kuball – auch das scheint klar – ist die Welt nicht Staffage. Sie ist nicht Komparserie im eigenen Denken. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil. Und doch bleibt unausgesprochen die Frage, ob das Denken die Welt erschafft oder ob es umgekehrt ist. Kuball liefert keine Antwort. Gottseidank. Kuball liefert Anstöße. Man reist in den eigenen Kopf: der Künstler war schon da. Es geht um Zustände und nicht um Zuständigkeiten.
Gleichgewichte
Man sollte Kuball nicht beschreiben. Seine Kunst taugt nicht fürs Nacherzählen, weil sie doch selbst Erzählung ist. Kuballs Kunst handelt von Gleichgewichten. Irgendwie steht am Ende jeder Arbeit die Gewissheit, dass sich nichts ändern ließe, ohne das Ganze zu zerstören. Mehr geht nicht. Über Kunst schreiben heißt im besten Fall, der gefühlten Energie eine anderen entgegenzusetzen. Nacherzählung allein taugt nicht. Kuballs Arbeiten sind Weltatemanzeiger. Sie funktionieren nicht ohne die Umgebung, ohne ein Davor und Danach. Wer Bezug nimmt auf die Welt, macht sich immer auch zum Kommentator. ReferenzRäume entstehen. Ist das politisch? Das Wort ist vielleicht zu benutzt. Es spiegelt falsche Innereien. Kuballs Kunst kann nicht neutral sein und will es wohl auch nicht. Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen …
Infos
Einen Einblick in Kuballs Welt findet man hier
Außerdem ist im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König unter dem Titel Referenzräume ein Katalog erschienen. Kuballs Werke auf stehende Bilder zu reduzieren, ist allerdings ein Eingriff in ihre Lebendigkeit. Transplantion ins Zweidimensionale. Verschwinden der anderen Art.