„Sex and Drugs – no rock n‘ Roll“ – das müsste man konstatieren bei diesem Verfahren. Es geht um Drogen und Erzwungenes auf der sexuellen Ebene. Man will nicht in die Details. Nur so viel: Nicht nur soll der Angeklagte mindestens eines der Opfer zu dem gezwungen haben, was gemeinhin „sexuelle Handlung“ genannt wird – es wurde auch filmisch festgehalten und in Umlauf gebracht.
Der Angeklagte freilich sieht die Sache anders. Die Handlungen mit einem der Opfer: Freiwillig. Die Aufnahmen: Entstanden auf Drängen des Opfers. Und mit dem anderen Opfer hat es erst gar keinen Sex gegeben.
Ausschluss
30 Minuten dauert es bis zu diesem Punkt im Prozess. Die Anklage ist verlesen. Der Verteidiger hat anstelle seines Mandanten erklärt, was soeben zu lesen war. Pause. 30 Minuten. Danach: Eines der Opfer.
Es ist zu erwarten, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, wenn die junge Frau ihre Aussage macht. Eben das wird nach der Pause verkündet. Gut so. Es besteht „kein übergeordnetes Interesse“ an der Teilhabe. Die Fronten sind die üblichen: Der Angeklagte scheint sich keiner Schuld bewusst. In einem Fall ist nichts passiert – im anderen geschah irgendwie alles in gegenseitigem Einverständnis. Er hat der jungen Frau anschließend das Video-geschickt. Irgendwie muss die es dann an die Öffentlichkeit gelangt sein. Und überhaupt: Die hat es mit vielen gemacht. Lässt der Angeklagte über seinen Anwalt erklären. (Die ist damals 15 Jahre alt.) So weit – so schlecht.
Höchstpersönlich
„Strafverhandlung gegen einen 43-jährigen Türken aus Kleve wegen Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in fünf Fällen, wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte Anfang Mai 2016 einem damals 15-jährigen Mädchen zwei Gramm Marihuana zum unmittelbaren Verbrauch überlassen und sie anschließend veranlasst haben, fünf Linien Kokain durch ihre Nase zu ziehen. Ohne Wissen und Willen der Zeugin soll er ein Video von dem anschließenden Geschlechtsverkehr gefertigt und an Dritte versandt haben. Kurz nach Pfingsten 2016 soll er einem anderen damals 15-jährigen Mädchen wiederum Marihuana zum unmittelbaren Verbrauch übergeben und anschließend mit Gewalt sexuelle Handlungen an sich vornehmen lassen haben. Einige Tage später soll er dem ersten der beiden Mädchen Marihuana und eine Ecstasy-Tablette übergeben haben, die diese anschließend auch konsumiert haben soll, am anschließenden Morgen einen Joint. Dem anderen Mädchen soll er ebenfalls eine Ecstasy-Tablette übergeben und anschließend mit Gewalt sexuelle Handlungen an sich von dieser vornehmen lassen haben. Zur Hauptverhandlung sind sechs Zeugen geladen.“
Wenn die Welt einstürzt
Der 2. Zeuge des Tages ist Vater eines der Opfer. Als er aussagt, erlebt man „Elend über Bande“. „Ich bin innerlich längst tot“, sagt er und: „Ich habe vor nichts und niemandem mehr Angst. Mit was sollen die mir drohen?“ Er ist kein Racheengel. Er kennt doch „diese Leute“ überhaupt nicht. Er meint den Angeklagten und dessen Familie. „Ich will denen nichts anhängen“, sagt er. Niemals hat seine Tochter „das“ freiwillig gemacht. „Ich verstehe das nicht“, sagt er und fährt fort: „Wie kann einer, der selber Kinder hat, anderen Kindern so etwas antun? Wie kann er dem eigenen Kind zum Geburtstag gratulieren und dann meinem Kind so etwas antun?“, fragt er in den Saal und man ahnt, dass er auch sich diese Frage stellt.
Umlaufbahnen
Ein Satz beginnt, im eigenen Kopf zu kreisen. Da ist diese Umlaufbahn des Schreckens – kein lauter Schrecken … eher ein leises Entsetzen. Da kreist dieser Satz: „Ich bin innerlich doch längst tot.“ Der Angeklagte nimmt es ohne Regung. Sein Verteidiger hat „noch ein paar Fragen“ an den Vater. Man ist froh, dass man nicht Verteidiger ist. Längst ist ein Punkt erreicht, an dem Verteidigung sich als großes Paradox darstellt und es doch nicht ist. Längst ist klar, dass das Nacherleben auch den Berichterstatter an Grenzen führt. Es sind die Grenzen dessen, was Objektivität genannt wird und kaum herstellbar ist in einer solchen Situation.
Der Angeklagte selber hat drei Kinder: zwei mit seiner ersten Frau, ein weiteres mit einer anderen. Deren Vater, erfährt man, sitzt im Zuschauerraum. Es ist der Tag, an dem man froh ist, keiner von all diesen Vätern zu sein. Es ist der Tag, an dem man mehr taumelnd als gehend den Saal verlässt und der eigenen Tochter etwas Liebes schreiben möchte. Es ist der Tag, an dem man den Angeklagten, dessen Schuld noch nicht erwiesen ist, fragen möchte, wie er die Welt erlebt, in der ihm vorgeworfen wird, was vorgeworfen wurde. Noch ein Satz hat längst die Umlaufbahn erreicht. Es ist die Frage des Vaters des Opfers: „Wie können Sie Ihrem eigenen Kind zum Geburtstag gratulieren und einem anderen Kind so etwas antun?
Mittag
Auf dem Gerichtsflur: Gespräche über Thomas Bernhard. Ein Elend verbindet sich mit einem anderen. „… und wie der Apfel roll ich in das Tal“ (Thomas Bernhard). Ein Prozess wie dieser macht den Schreiber zum Personal. Bernhard hätte über Prozesse schreiben müssen, denkt man. Er wäre der Richtige gewesen. „Verstörung“, „Auslöschung“ – Titel wie vom Gerichtsflur. Da hängen ein Wachtmeister gerade ein Schild neben die Saaltür: „Nicht öffentliche Verhandlung.“
In der Mittagspause: Wälzer lesen. Peter Watson: „Ideen.“ Recht, denkt man – ist auch eine dieser Ideen. An der Wiege des Rechts stand vielleicht der Wunsch nach Gerechtigkeit. Aber es gab da diese Gabelung: eins bog in die eine Richtung, das andere woandershin. Nur manchmal, an guten Tagen, treffen sie sich am Richtertisch. „… den Tag, der an der Mauer lehnt und mich zersägt“ (Thomas Bernhard.)
Drehung
Nach der Mittagspause setzt eine Drehung ein. „It‘s not over until it‘s over“, denkt man. Zwei Zeuginnen (Opfer eigentlich) haben unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt. Es stellt sich heraus, dass der Vorwurf der Vergewaltigung wohl nicht aufrecht zu erhalten ist. Kammer, Staatsanwalt und Verteidigung sprechen über Paragraphen, Eventualitäten. 177 ist wohl raus. Hört man. Keine Vergewaltigung also. Irgendwann wird plädiert. Wieder ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Ein ursprünglich anberaumter zweiter Verhandlungstag ist nicht mehr erforderlich. Zwei Zeugen sind (warum eigentlich?) nicht erschienen. Auf der Zeugenliste, die neben dem Eingang zum Saal hängt, stellt man fest, dass alle, die hier aussagen „Zeugen“ sind. Es gibt kein zweites Geschlecht. Auch die jungen Frauen, die ausgesagt haben: Zeugen.
Zweisechs
Um 16.15 Uhr: das Urteil. Zwei Jahre, sechs Monate. Das Gericht hat den Angeklagten hinsichtlich der angeklagten Vergewaltigungen frei gesprochen. Eine Schuld konnte nicht festgestellt werden. Was bleibt, sind vier Fälle der „Überlassung“ von Betäubungsmitteln. Marihuana, Ecstasy, Kokain. Der Richter benutzt das Wort „schäbig“. Schäbig sei, was der Angeklagte da gemacht habe. Die Drogen haben er den damals noch minderjährigen Mädchen aus sexuellen Motiven überlassen. „Es ging Ihnen dabei um Ihre Triebbefriedigung“, sagt der Vorsitzende.
Neben den vier Fällen des „Überlassens zum unmittelbaren Gebrauch“ sei es auch um eine „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches“ gegangen. Es geht jetzt um das Video, das sich Richter, Schöffen, der Staatsanwalt und der Verteidiger während der Beweisaufnahme angesehen haben. Nicht feststellbar sei, ob die Aufnahmen des Geschlechtsverkehrs mit oder ohne Zustimmung der jungen Frau gemacht worden seien. Fest stehe für die Kammer, dass die junge Frau das Video keinesfalls selbst in Umlauf gebracht habe.
Ratlos
Zwei Jahre und sechs Monate. Was werden die Eltern, Angehörige und Freunde der Opfer denken? Auf dem Gang war vor dem Urteil das Wort Sicherungsverwahrung zu hören. Der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit ist nicht leicht vermittelbar. Dass einer nur für das zur Verantwortung gezogen werden kann, was nachweisbar ist: ein Teil der Schnittmenge. Am Ende bleibt eine Spur Ratlosigkeit. Sie legt sich auf den Tag, über dem noch immer Vatersätze kreisen. „Ich bin innerlich längst gestorben …“ Auslöschung …