Schreibkraft
Heiner Frost

90 Minuten

Ein „Tatort“ dauert 90 Minuten und ist meist ein Vielpersonenstück. Jetzt hat einer ein Messer am Hals: 90 Minuten lang. Nachher ist kaum etwas wie es vorher war.

Was bleibt

Was bleibt am Ende eines rund fünf Stunden dauernden Verhandlungstages? Was nehmen Geist und Seele als Beute mit? Es ist die Aussage eines Mannes, der für eine Spielfilmlänge das Messer am Hals spürte und dann im Gerichtssaal Auskunft gibt. Herr Z., der Geiselnehmer, sei doch eigentlich ein ruhiger Mensch gewesen. Zurückhaltend. Höflich. Zu höflich fast. Sogar als Z. seinem Opfer das Messer an den Hals hielt, hat er ihn gesiezt und nur einmal gedroht: „Gleich duze ich Sie.“ Herr Z. erinnert sich an nichts. Das Tatzeitfenster: wie ausgestanzt. Die Erinnerung: abgereist. Schutzbehauptung oder Wirklichkeit?

Ruhig

Auch vor Gericht ist Z. höflich – redet die Verfahrensbeteiligten mit ihren Namen an. Er sagt nicht „Herr Richter“ – Z. spricht den Namen aus. Ruhig sitzt er da: an Händen und Füßen gefesselt. In den Saal gebracht wurde Z. von bewaffneten Männern mit Sturmhauben und schwarzen Lederhandschuhen. Muss man Herrn Z. bemitleiden? Eine schwierige Frage. Vielleicht kann man ihn bedauern. Ist Herr Z. eine tickende Zeitbombe? Das zu klären ist wohl das Hauptziel dieser Verhandlung. Für Z. geht es um das, was man Sicherungsverwahrung nennt. Eben deswegen ist ein Gutachter anwesend.

Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte sich am 2. September 2020 in der anstaltsinternen Druckerei der Justizvollzugsanstalt Geldern eines Justizvollzugsbeamten mittels eines Messers, das er unter dem Vorwand einer notwendigen Wundversorgung ergriffen haben soll, bemächtigt haben, um ihn durch Drohung mit dem Tod („Ich steche Sie ab, ich steche Sie ab. Ich will zu meiner Familie“) zu seiner Freilassung zu nötigen. Im Rahmen dessen soll der Angeklagte den Beamten bis auf den Innenhof der Anstalt verschleppt haben. Dort soll er schließlich durch weitere aufmerksam gewordene Beamte und einer Eingreiftruppe überwältigt worden sein. Mindestens acht der an der Fixierung des Angeklagten beteiligten Justizvollzugsbeamten sollen dabei verletzt worden sein, zwei der Beamten sollen nach wie vor dienstunfähig sein.

Umgänglich

Zeugen erzählen die Geschichte der 90-minütigen Geiselnahme. Ein ehemaliger Abteilungsbeamter der JVA Geldern schildert Z. als einen umgänglichen Gefangenen, „aber mit einem ‚Nein‘ konnte der nicht umgehen. Der wurde dann aufbrausend“. Auf der Anklagebank sitzt Z., als sei er auf Besuch im eigenen Leben. Irgendwie wirkt er ruhig, aber wer kann sagen, was in ihm vorgeht? Immerhin saß Z. zum Zeitpunkt der Tat bereits wegen versuchten Totschlags: zwölf Jahre waren zur Hälfte abgelaufen.
Als der Vorsitzende nach Z.s Leben fragt, sagt der: „Eigentlich hatte ich ein schönes Leben.“ Z. hat vier Geschwister. Ein Bruder: Polizist in Hamburg. Die drei Schwestern: alle im Leben angekommen. Normal irgendwie. Und Z.? Einer, der von sich sagt, er leide unter Panikattacken, Herzrasen. Als der Vorsitzende nach den Zukunftsplänen fragt, sagt Z.: „Ich möchte mich in eine Forensik einweisen lassen.“ „Wir müssen hier prüfen, ob sie künftig eine Gefahr darstellen“, sagt der Vorsitzende.

Bedauern

Geiselnahmen – das lernt man am ersten Tag – können Leben zerstören, ohne dass Menschen zu Tode kommen. Vielleicht sind Schlafstörungen von all den Zerstörungen noch am wenigsten gravierend. Vielleicht. Was bleibt sind Panikattacken, Vertrauensverlust, Rückzug. All das, hört man, findet nicht nur im Berufsleben statt. Die Folgen halten Einzug ins Private. Natürlich. Man trennt das nicht nach Belieben. Herr A., die Geisel, wirkt ruhig, während er aussagt, aber was in ihm vorgeht, lässt sich nicht ahnen. Da sitzt einer, vor dem man größte Hochachtung haben muss. Er könnte doch jetzt „vom Leder ziehen“ – könnte Z. schlecht aussehen lassen. All das tut er nicht. Z.s Anwältin drückt im Namen ihres Mandanten tiefstes Bedauern aus. Dass es gerade Herrn A. getroffen habe, zu dem Z. ein gutes Verhältnis hatte. Ihr Mandant, so die Verteidigerin, habe einen Brief geschrieben – wolle sich entschuldigen, wenn A. es zulassen könne. A. erklärt, dass all das auch an seiner Familie nicht spurlos vorüber gegangen sei. Wenn das damals schief gegangen wäre, wendet er sich an Z., „müssten Sie jetzt einen Brief an meine Frau schreiben, denn dann würde in Kürze mein Jahresamt stattfinden“.

Sie

Es steckt viel Größe in dieser Antwort. Vorher hat A. gesagt, er habe, als Z. das Messer in der Hand hatte, gewusst, dass es jetzt ernst sei. „Da stand plötzlich ein ganz anderer Mensch.“ „Ich bring Sie um“, „Ich steche Sie ab“, habe Z. gesagt. Zu A.s Kollegen habe er gesagt: „Ihr seid Schuld, wenn ich euren Kollegen ersteche.“
Ein Gefangener aus der Druckerei hat zu Beginn der Geiselnahme versucht, Z. zu entwaffnen. Er ist als Zeuge geladen. Sein Deutsch: nicht wirklich gut. Hätten nicht andere erzählt, was der Zeuge radebricht – man wüsste nicht, was da vorgefallen ist. Z. habe hysterisch gewirkt, sagt ein weiterer Zeuge aus. Hysterisch und verbal aggressiv. Für einen anderen Beamten ist diese Tat schon die zweite Geiselnahme. Die erste fand 1994 statt. Auch in Geldern. Einen Tag nach der Tat meldet sich der Mann wieder zum Dienst. Und diesmal? Die Tat: an einem Mittwoch. Der Mann erscheint montags wieder zum Dienst. Erst nach sechs Wochen begibt er sich in Behandlung. Wieder ein anderer ist nicht mehr in seinem Beruf tätig. Z.s Tat: eine Streubombe.

Zäh

Z. sitzt da. Eine Zeitbombe? Einer, dem die Erinnerung an das Geschehen abhanden gekommen ist?
Der zweite Tag: eine zähe Flüssigkeit. Ein Einkreisen des Geschehenen. Im Zentrum – denkt man zunächst – das Gutachten. War Z.s Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erhalten oder nicht? Ist seine Erinnerungslücke tatsächlich – ist sie ein Schutzschild? Der Psychiater beschreibt zwei Diagnosen bei Z. Das eine: Borderline – das andere: eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Zwei Dinge, die sich, sagt er, gegenseitig eher potenzieren als aufheben. Z.s Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt: nicht eingeschränkt. Z. ist also schuldfähig. Die Einschätzung für Z.s künftiges Strafverhalten: nicht wirklich gut. All das umkleidet der Gutachter mit Beobachtungen, Testergebnissen, Rückblicken in Z.s Verhalten. Die Erinnerungslücke ist, so der Gutachter, in ihrem Ausmaß eher unüblich. Beweisen lasse sich weder ihr Vorhandensein noch ihre Abwesenheit.

Urteile

Das Verlesen des letzten vieler Urteile, die gegen Z. ergangen sind, dauert allein fast 60 Minuten. Man ächzt sich durch ein Höchstmaß an brutalem Verhalten. Dann die Plädoyers: Zehn Jahre sechs Monate fordert die Staatsanwaltschaft und beantragt zusätzlich die Sicherungsverwahrung. Die Verteidigung muss in vielen Punkten zustimmen – die Tat lässt sich nicht leugnen. Man hat Video-Aufnahmen gesehen. Dennoch: Die Kammer möge Z. angemessen bestrafen. Die Erinnerungslücke, die der Mandant beschreibe, lasse sich weder eindeutig belegen noch entkräften und dürfe daher nicht ins Urteil einfließen. Längst ist dieser Gerichtstag anstrengende sechseinhalb Stunden alt. „Sie haben das letzte Wort“, hört man den Vorsitzenden sagen und denkt: Okay, vier Minuten vielleicht, dann eine Stunde Beratung, dann das Urteil.

Hamlet

Da steht der Angeklagte auf. Alles tut ihm leid, sagt er. Er möchte sich entschuldigen, sagt er, auch wenn er wisse, dass vieles nicht gutzumachen sei. Schon schiebt man die Sachen auf dem Tisch zusammen, als der Mann auf der Anklagebank beginnt, sein Leben zu erzählen – ein Leben, von dem man in all den vorigen Urteilen so viel gehört hat, dass man schon glaubt, sich auszukennen. Aber Z. findet kein Ende. Nicht nach zehn Minuten, nicht nach 20, nicht nach 30 und auch nach 60 Minuten hat er den Rundflug durch das eigene Elend beendet. Man möchte Einhalt gebieten, weil sich der Gedanke einnistet, dass Z. gerade jetzt, nachdem er alle seine großen Fehler aufgelistet hat, den größten zu machen im Begriff ist. Und dann denkt man: Da hat einer verstanden, dass jetzt und hier alle zuhören müssen. Da steht er und spricht seinen großen Monolog: Sein oder nicht sein. Z. könnte zwölf Stunden reden – niemand dürfte ihn bremsen. Alles muss raus, denkt man, während Z. Kopf und Kragen in Worte fasst. Er weiß jeden Namen der letzten zehn Jahre: Er zählt Anwälte auf, Richter, Mitgefangene – alles hat er gespeichert und will es erzählen, während jeder im Saal flehentlich zur Decke schaut. Nach einer Stunde schiebt man sein Zeug zusammen, steht auf,  verlässt – eigentlich der Gipfel der Ignoranz – in Z.s Vortrag hinein den Saal und fühlt sich schuldig, aber es geht nicht mehr: Es ist nicht mehr zu ertragen, wie da einer sich selber Ketten anzulegen scheint – wie alle sich von ihm abwenden und auf ein Ende des Vortrags hoffen, der jedem Angeklagten zusteht – zu Recht zusteht; ihm zusteht, um ein letztes Mal zu Wort zu kommen. Vielleicht will Z. diese 90 Minuten hier wiederholen – 90 Minuten, die sein Leben sind. 90 Minuten, die damals – bei der Geiselnahme – alles auf den Angeln hoben.
Nach dem Urteil, lässt sich vermuten, wird niemand mehr zuhören. Z. wird versickern und schlimmstenfalls zermahlen. Er wird ein Leben führen, dessen Tristesse nur schwer vorstellbar ist. Einmal soll es gesagt sein: Natürlich hat Z. Leiden verbreitet – er hat Körper und Seelen verletzt und jetzt wird all das beantwortet werden. Acht Jahre lautet das Urteil. Dazu: Sicherungsverwahrung. Z. hatte sich die Forensik „gewünscht“ und auf Hilfe gehofft für das und in seinem Leben. Es ist anders gekommen. Aber ein Mal hatte Z. die Möglichkeit, alles zu sagen.