Schreibkraft
Heiner Frost

Addition – Subtraktion

Foto: Rüdiger Dehnen

Vielleicht müssen manchmal die ganz großen Fragen gestellt werden: Was war? Was ist? Was bleibt? Dass die Kunst als Antwortmedium taugt, hat vielleicht mir ihrer Zerbechlichkeit zu tun und damit, dass sie sich der Eindeutigkeit entzieht.

Spurentilgung, Rückstände

Wer auf der Suche nach Anschauungsmaterial ist und dabei auf das eigene Empfinden vertraut, sollte sich die Ausstellung zum 22. Gelderner Turmstipendium ansehen. Alwina Heinz und Anastasiya Nesterova bespielen den Turm und passen vielleicht deshalb so gut ineinander, weil sie so gegensätzlich scheinen, ohne es zu sein: Reduktion und Spurentilgung hier – Auseinandersetzung mit den Rückständen dort. Oder muss man es umgekehrt sehen? Stellt das Wegnehmen am Ende die Addition her und steht das Hinzufügen für ein Weniger-Werden? Wie immer hängt alles vom Standpunkt ab.

Foto: Rüdiger Dehnen

Die Jurte

In der ersten Etage: ein fast kahler Raum. Zweimal muss man hinsehen, um die Spuren zu finden – wie hingehaucht ist all das, was Alwina Heinz den Sinnen zur Verfügung stellt. Während man über das Wenige nachzudenken beginnt, öffnet sich der Raum. Heinz lässt das Rund des Turms zur Jurte werden. Man denkt dem Wort hinterher. Jurte – das ist vielleicht das Gegenteil eines in der stationären Wirklichkeit angesiedelten Einfamilienhauses, das über die Jahre zum Vergangenheitsspiegel mutiert – sich anfüllt mit allem, was war.

Unterwegs

Auf der anderen Seite das Nomadenhafte: das Unterwegssein.Was ist. Was bleibt. Alles ist reduziert auf das Tragbare, das irgendwie immer auch das Ertragbare ist. Noch einmal öffnet sich ein Wort: Ertragen auf der einen Seite, Ertrag auf der anderen. Alwina Heinz‘ Kunst handelt vom Unterwegssein und darf nicht mit Heimatlosigkeit verwechselt werden. Herausforderung das Eine – Zerrissensein das andere.

Foto: Rüdiger Dehnen

Mitarbeit

Was Heinz im Turm an Spuren auslegt, erfordert ein hohes Maß an geistig-emotionaler Mitarbeit. Kunst stellt immer Ansprüche, aber nicht oft wird der Hinschauende so intensiv zum Objekt dessen, was zu sehen ist. Nicht oft ist das eigene Vorhandensein Grundvoraussetzung für ein Verstehen, das vielleicht besser Nach- und Mitempfinden genannt werden müsste. Die Kunst stößt an. Heinz‘ Geschichten drängen sich nicht in den Vordergrund – sie haben sich ins Wesentliche zurückgezogen und müssen entdeckt werden. Sie sprechen aus dem Off. Mehrwert durch Subtraktion. Man muss in dieser Kappelle des Verschwundenen stehen, um eine Ahnung vom Gewinn durch Auslassung zu bekommen. Heinz‘ Installation sperrt sich gegen das „Sofort“. Zeit ist gefragt: Einlassenkönnen.

Geschichten in Rot

Dann steigt man auf: ein anderer Raum – eine andere Welt: Geschichten in Rot. Sie kommen aus einem gedachten Himmel – sind von der Decke abgehängt. Aller Boden, auf dem sie stehen könnten, wird Fiktion. Ein Schwerkraftschnippchen. Alles in der 2. Etage ist Geschichte. Alles Sichtbare ist Erbschaft: Aus Rückständen entsteht ein neues Lebensmosaik – bedrucktes Papier. Alles ist, wird, bleibt Spur. Die Addition zwingt zur Ausdünnung. Man kann nicht alles im Blick haben und abhängig von der Position, die beim Betrachten eingenommen wird, entstehen andere Zusammenhänge. Nesterova scheint gefunden zu haben, was eine Etage tiefer verloren ging. Aber es funktioniert eben auch umgekehrt: Wer sich von den Geschichten eingeengt fühlt, steigt hinunter in eine befreite Zone. Kunst stellt Standpunkte zur Verfügung.

Entfernung – Annäherung

Man kann das Leben anprobieren und je weiter die Pole auseinanderrücken, desto eher ist der Punkt erreicht auf dem Rückweg, an dem der Rückweg ansetzt, der kein Rückweg sein muss sondern zum Ausblick werden kann. Und zwischen den Spuren: Drucke. Abdrücke einer Wirklichkeit. Modifikationen des Gesehenen. Über Kunst zu schreiben, kann immer nur Andeutung sein. Es ist wie beim Kino: Du kannst vom Film erzählen, aber Rettung sind nur die wirklichen Bilder. Du kannst vom Roman sprechen, aber nur das Lesen stellt den ultimativen Kontakt her. Was im Wasserturm zu sehen ist, muss erlebt, erfahren, erstiegen, ersehen sein. Ganz oben im Turmdachstübchen greifen die Welt-Entwürfe ineinander. Ein großartiger Trialog entsteht, denn ohne das dritte Element, das man selber ist, findet nichts statt – alle Kunst bliebe ein bewusstseinsloser Fleck im Windschatten.

Foto: Rüdiger Dehnen

Die Ausstellung ist ab Sonntag zu sehen. Eine Eröffnung im üblichen Sinn findet coronabedingt nicht statt. Jeder kommt, wann es passt – es sollte nur nicht vor 12 Uhr mittags sein.