Schreibkraft
Heiner Frost

60 Euro und die Folgen oder: Was ist Wahrheit?

Ob 60 Euro viel Geld sind, hängt davon ab, wen man fragt. Ob fünf Jahre eine lange Zeit sind – auch eine dieser Fragen, bei denen es auf die Perspektive ankommt …

Herr Z. wollte sein Geld zurück: 60 Euro. Er hatte sie Herrn O. geliehen und nicht zurück bekommen. Aber da geht es schon los. Von wegen geliehen … Herr O. hat – das sagt er selbst – Gras bei Herrn Z. gekauft und war das Geld schuldig geblieben. Da also steht der Mann, der nur helfen wollte (Z.) dem gegenüber (O.), der von einem Drogendeal spricht.

„Ich schlag dir den Schädel ein.“

Z. soll, um an sein Geld zu kommen, O. in einer Tiefgarage mit dem Hammer gedroht („Ich schlag‘ dir den Schädel ein!“) und ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben. O. konnte nicht zahlen. (Juristischer Subtext: Wenn es sich um ein Drogengeschäft gehandelt hat, hätte Z. sein Geld nicht einklagen sollen. Daher hat Z. glaubt das Gericht, die Geschichte vom Ausleihen an einen Bedürftigen irgendwie frei erfunden.) Als Z. die Tiefgarage verlassen will, macht O. ein Foto mit der Smartphonekamera. Z. steigt aus, droht O., dass er das Foto löschen soll. Wie gibt es einen Faustschlag. O. gibt vor, das Foto zu löschen, stellt es aber entweder anschließend wieder her oder hat es erst gar nicht gelöscht. O. gibt freimütig zu: „Die 60 Euro Schulden waren für Gras, das ich bei Z. gekauft habe.“ Wieder einmal treffen Wirklichkeitsversionen aufeinander. Herr Z. gibt hilfreich Auskunft über das Geschehen. Fast, denkt man, ist er bei der Wahrheitsfindung gern behilflich. Man denkt an die Frage des Pontius Pilatus im Johannes Evangelium: Was ist Wahrheit?

Was ist Wahrheit?

Vielleicht stellt man diesen Bezug her, weil ein weiterer Vorfall angeklagt ist, der sich in unmittelbarer Nähe zu einer Kirche abgespielt hat und weil die Verhandlung in der Karwoche stattfindet. Wieder treffen Z. und O. aufeinander. Wieder geht es um die 60 Euro. Wieder setzt Z. laut Anklage Gewalt ein – tritt O. ins Gesicht und in den Rücken. Starker Tobak, zumal Z.s Kerbholz einiges zu bieten hat, das Juristen einschlägige Vorstrafen nennen. Und tatsächlich: einschlägig ist es auch im übertragenen Sinn, denn es geht um Körperverletzungen – oft sind es Faustschläge ins Gesicht der Opfer. „Haben Sie Schulden?“, fragt der Vorsitzende an einer Stelle. „Ja. 150.000 Euro.“ „Und wofür?“ Es stellt sich heraus, dass es sich um eine Krankenhausrechnung eines des früheren Opfer handelt. Dazu: Schadensersatz. Was da geschehen ist – davon erzählt die Summe – muss heftig gewesen sein. O. dagegen trug – zumindest nach den Faustschlägen des Z. – keine sichtbaren Spuren roher Gewalt.

Erst mal nicht erschienen

O., der als Opfer als Zeuge geladen ist, erscheint nicht und muss von der Polizei geholt werden. Einem zweiten Zeugen ergeht es auch so. So kommt es, dass der als dritter Zeuge des Tages vorgeladene zuerst aussagt. Er weiß immerhin über sein Alter Bescheid. 21. Vorsitzender: „Was sind Sie von Beruf?“ Zeuge: „Nichts.“ Es folgt eine Serie von Erinnerungslücken. Vorsitzender: „Erzählen Sie mal, was da passiert ist.“ Zeuge: „Weiß ich nicht mehr so genau.“ Vorsitzender: „Und ungenau?“ Immerhin weiß der Zeuge, „dass der Z. den O. nicht geschlagen hat“. Vorsitzender: „Das wissen Sie aber genau? Und wie ging es weiter?“ „Weiß nicht. Ich bin vorher gegangen.“ „Ging es um Rauschgift?“ „Keine Ahnung.“ „Wie gut kennen Sie den X.?“ Irgendwie erwartet man jetzt ein „keine Ahnung“. Der Z. – ein mittelguter Bekannter. Vorsitzender: „Mit der Wahrheit nehmen Sie es nicht so genau?“ Zeuge: „Ich nehme es ganz genau mit der Wahrheit.“

„Wir hätten doch ganz anders ermittelt.“

Ein Polizist hat nach dem Vorfall in Kirchennähe an O. außer Schürfwunden keine nennenswerten Verletzungen festgestellt. „Wir hätten doch sonst ganz anders ermittelt.“ Als O. nach der Mittagspause dann doch vor Ort ist und aussagt, sagt er, dass der Polizist dann etwas weggelassen habe. Z.s Anwalt hat dann doch ein paar Fragen: „Mein Mandant hat also in der einen Hand den Hammer gehalten und mit der anderen Hand sie. Wie kann er Sie dann auch noch durchsucht haben? Das geht doch gar nicht.“ Da springt jetzt aber mal der Vorsitzende ein: „Es ist ja nicht die Rede davon, dass das gleichzeitig passiert ist.“ Z. nimmt den Ball auf: „Das ist nicht gleichzeitig passiert.“

Die Feinheiten

Es geht – wie so häufig in der Juristerei – um die Feinheiten: Hat Z. mit dem Hammer gedroht? Z. sagt: „Der Hammer war in meiner Arbeitshose. Ich habe den nicht in der Hand gehabt.“ Der Zeuge beschreibt es anders: „Der hatte den Hammer in der Hand. Der Hammerkopf zeigte nach unten.“

Nicht zimperlich

Man erfährt etwas über Z.s strafliches Vorleben. Da lernt man einen Menschen kennen, der – zumindest mit drohenden Worten – nicht zimperlich war: „Ich schlag dir den Schädel ein“, ist noch einer der harmloseren Wendungen aus Z.s Vorleben. Und wenn er zuschlägt, bleiben Spuren zurück. Der Vormittag: Ein Vorbeimarsch unterschiedlichster Wirklichkeitsversionen. Der Opferzeuge will die 60 Euro irgendwann in einem unbeschrifteten Briefumschlag in Z.s Briefkastn geworfen haben. „Der wird schon wissen, von wem das war.“ Vielleicht ist auch das irgendwie abenteuerlich.

Zwei Handys

Übrigens hatte Z. zwei Handys. Auf einem davon: mehr oder weniger eindeutige Botschaften, die auf Drogendeals hindeuten. Z. kann das erklären: „Das war nicht mein Handy und ich muss nicht sagen, von dem das war. Ich wollte dem das Ding zurückgeben. Und außerdem: Wenn jemand die Sache mit den Drogen geglaubt hätte, dann wäre das doch Teil der Anklage.“ So denkt Z. und nicht lange danach wird er einen weiteren Polizeibeamten sagen hören, „dass es dazu demnächst ein Verfahren geben wird“.

Zwei Plädoyers

Der Staatsanwalt fordert am Ende seines Plädoyers fünf Jahre und sechs Monate. Z.s Verteidiger sieht es anders: Fünf Monate fordert er und bittet um die Aufhebung des Haftbefehls. Hätte sein Mandant dem Opfer mit der Faust ins Gesicht geschlagen – da hätte man etwas sehen müssen. Die Polizei, so der Verteidiger, habe nicht in Richtung möglicher Unschuld ermittelt. Man habe seinem Mandanten – wohl wegen dessen Vorgeschichte – gar nicht erst geglaubt.

„Ruinieren Sie bitte nicht meine Zukunft.“

Z. hat in seinem letzten Wort noch einiges anzugeben. Das Opfer habe sich in seiner Aussage widersprochen. Die Kammer solle, bitte, überlegen, ob sie seine, Z.s, Zukunft mit einer hohen Strafe ruinieren wolle. Er wolle in den offenen Vollzug, werde sich, wenn es so weit sei, freiwillig stellen. Er hat die Zusage für eine Ausbildung in einem Restaurant. Irgendwie, denkt man, steckt eine Zuversicht in Z.s Bitte und irgendwie hat man trotzdem ein Gefühl, dass alles hier in eine andere Richtung weist. 45 Minuten später das Urteil: Fünf Jahre. Die Kammer ist in weiten Teilen der Aussage des Opferzeugen gefolgt. Der habe keine Belastungstendenzen in Z.s Richtung erkennen lassen. „Ganz im Gegenteil. Der hat sich mit seiner Aussage, das Geld sei er für Drogen schuldig geblieben, sogar selbst belastet. Der hätte doch eine ganz andere Geschichte erzählen können.“

Fünf Jahre hält die Kammer für tat- und schuldangemessen. Der Rest: Begründungen am Rande des juristischen Hochrecks. Was war Versuch, was war Ausführung? War es schwerer Raub oder Raub? War es Körperverletzung oder schwere Körperverletzung? War es Nötigung. Eine Überlegung am Rande: Hat nun die Kammer Z.s Zukunft verdunkelt? Vielleicht hat er selber einen (nicht zu kleinen) Anteil daran. In Handschellen wird Z. abgeführt. Draußen sieht man Z. entweder straucheln oder – nein, das ist schwer vorstellbar – bei einem Fluchtversuch? Das ganze dauert den Bruchteil einer Sekunde. Was wirklich geschehen ist? Wer will das sagen …