Schreibkraft
Heiner Frost

Mut zur Kleinigkeit

Haldern Pop: Next Generation? Foto: Thorsten Lindekamp.

Paul McCartney auf der Bühne. Er greift zur Gitarre. „Wings over America“ – zu sehenhören auf Youtube. McCartney beginnt zu spielen. Nach dem vierten Ton: Jubel im Publikum. Vier Töne hat das Publikum gebraucht, um das Stück der Stücke zu erkennen: Blackbird. Die Freude liegt also im Erkennen: Das Blackbird-Syndrom …

Ein Duell

Ich sitze mit Stefan Reichmann in Haldern in der Pop Bar. Geburtstagsstimmung: 40 Jahre Haldern Pop. Mit 40 beginnt das Duell zwischen Rückschau und Prognose an der Schnittstelle, die man Gegenwart nennt. Was ist zu erwarten beim Geburtstag eines Festivals? Grußbotschaft vom Kanzler vielleicht oder von David Bowie aus dem Grab?
Wohl eher nicht. Haldern ist anders. Mahler muss herhalten: „Tradition ist die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Stefan Reichmann führt Clips vor. Das 2023er Line-Up. Zwischendurch immer wieder ein „Daskannstdujetztnochnichtschreiben. Dashabenwirnochnichtbekanntgegeben.“
Was macht ein Festival aus? Sind Festivals Bestätigungsapparaturen (das Blackbird-Syndrom) oder Geschmacksfährtenausleger? Fest steht: Festivals sind längst zu Events geworden, bei denen es auch um die ‚Location‘ geht: 40 Prozent Musik, 60 Prozent irgendwas …

Identitätsstiftung

Festivals sind Trendsetter oder -bestätiger. Festivals sind Marketing-Inseln. Und Haldern? Haldern ist – möchte man glaubenhoffen – irgendwie anders. Haldern ist Identitätsstiftung auf anderen Ebenen. In Haldern bauen sie keine Kulissen auf – keine Stadt entsteht. Potemkin auf dem Lande? Das muss nicht sein. Hier ist das Dorf – da sind die Menschen. Da treffen Unerwartbarkeiten aufeinander.

Erst Haldern, dann die Welt

Haldern ist immer auch eine Wundertüte – die Vertugendlichung eines besonderen ‚Notstandes‘: Wer sich das Große nicht leisten kann, muss den Zeitmaschinenfaktor ausspielen: einfach das Große von Morgen heute schon auf die Bühne bringen. (Sam Smith war so ein Fall: Erst Haldern, dann die Welt: 007 auf dem Lande.) Haldern Pop als Geschmacksseismograph. Ein Ermöglichungsort. Haldern ist das Vorführen des Zaubers im Normalen und ein Ort, an dem Musiker gern spielen möchten. Fragt man nach dem ‚Warum‘, zerstört man vielleicht den Besonderheitsfaktor.

Ich twittere, also bin ich?

In Zeiten des Social-Media-Diktats (ich twittere, also bin ich) haben sie zum 40. in Haldern den Aktionären Postkarten und Briefmarken gegeben. „Wir haben Postkarten an die Aktionäre verteilt“, erzählt Stefan Reichmann. Postkarten??? Was war das noch gleich? Genau: Ein Gruß aus dem Gestern. Ein Gruß, der vom Bewegen erzählt. Text schreiben, Briefmarke draufsabbeln. Zum Briefkasten laufen. Geht‘s noch? „Wir sind da. Kommste auch?“

„Ich glaube an das Pferd“

Das Signal: Probiert‘s doch mal mit echter Kommunikation. Nein – sie werden nicht das Internet abschalten. Das kann sich niemand leisten, obwohl es paradoxerweise nichts kosten würde. Aber: Kommunikation ist etwas anderes, wenn sie von Hand stattfindet. Man denkt an Kaiser Wilhelm II. Der sagte einst: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Vorsicht jetzt mit dem Spott. Noch ist Willems These nicht als Nonsens enttarnt, denn es fehlt noch an der Zukunft. Sie ist noch nicht eingetroffen.

Zeitenschnittstelle

Da ist also dieses Festival an der Zeitenschnittstelle. Die Zeiten, als alle Tickets drei Stunden nach dem Vorverkaufsbeginn ausverkauft waren, finden sich im Rückspiegel. Das ist nicht nur in Haldern so. Das gilt auch für die Großen. Klappern gehört zum Handwerk und die Nachricht vom Ausverkauftsein weckt Kundenbegehrlichkeiten.
Haldern wird, man muss kein Prophet sein, dem Publikum nicht hinterherlaufen – sich nicht ins Opportune flüchten. Es geht – siehe oben – um Kommunikation. Es geht um die Schaffung einer Sonderzone im Normalen.
Stefan Reichmann zeigt den nächsten Clip. „Sag was“, sagt Stefan. „Nicht meins“, sage ich. Aber was bedeutet das schon. Es gibt andere Clips, die bei mir für Pulsbeschleunigung sorgen. Geschmack ist eine Spraydose.

Tuchfühlung

In Haldern spielen die Künstler auch in der Pop Bar. Das ist ein Örtchen. Heutzutage hat manches Einfamilienhaus ein größeres Bad. Tuchfühlung macht‘s. Es braucht keine Geschmacksverstärker. Die Konzerte in der Kirche: Proppenvoll. Das Spiegelzelt – die Hauptbühne – das Tonstudio – die Bühne auf dem Marktplatz … Spielstättenroulette. Haldern in die Zukunft zu bringen, hat mit der Gegenwart zu tun. Es braucht Weiterträger. Es braucht Begeisterungsspenden. Begeisterung entsteht selten durch Argumente. Begeisterung ist ein sprachloser Gedanke. Vier Gitarrentöne … das Blackbirdsyndrom.

Nebeneinandergleichzeitig

Haldern – das ist das Nebeneinander von Palestrina, Pärt, Punk und Pop. Palestrina? Renaissancekomponist. Tatsächlich: Wird schon mal in der Kirche vom Berliner Chor Cantus Domus gesungen. Haldern Pop – das ist über 40 Jahre ausgefalteter der Mut zur Kleinigkeit.
40 Jahre Haldern Pop – da muss, möchte man meinen, das Besondere her. Das ganz große Rad. Muss nicht. Es reicht doch, zu bleiben wie man ist. Bleiben wie man ist – das ist Veränderung genug. Natürlich kann man Brot und Spiele bieten. Aber das wäre nicht Haldern Pop. Man wirft nicht mit der Wurst nach der Speckseite. Nichts ist einfacher als den Leuten zu geben, was sie möchten. Aber vielleicht ist auch nichts langweiliger als das.

Abseits der Maschinen

Haldern Pop ist ein Universum abseits der Festivalmaschinerien. Irgendwie klingt das alles wie aus dem Prospekt. Haldern Pop – ist das der 40-Jährige auf der Flucht ins Altersheim? Es geht ja nicht nur um Musik. Es geht – irgendwie – um alles. Und manchmal auch um das Nichts. Auch das Nichts muss man sich leisten können –
das wäre dann mal ein Motto.

Zeitgeister

Die großen Festivals sind Geschmacksbestätiger: „Geh hin und sei ein Teil vom Zeitgeist“, raunen sie. Und wer geht nach Haldern? Ewiggestrige? Bestimmt nicht. Es bringt ohnehin nichts, die einen gegen die anderen auszuspielen. Jeder hört, was ihn glücklich macht. Wenn an drei Tagen an die 80 verschiedene Acts auftreten, kann nicht alles für jeden sein. Produktflimmern: Wohin geht man? Wohin hört man? Es geht am Ende um die Mischung. Festivals sind – machen wir uns nichts vor – Markenartikel und Identitätsstifter.

Mühsamkeit

Haldern kann davor nicht weglaufen. Trotzdem hat man das Gefühl: Haldern ist Handarbeit. Haldern ist auch Mühsamkeit. Sie erfinden Vokabeln. Kühe machen Muh, Musik macht Mühe. Schöne Mühe. Es geht um Strahlkräfte: nach innen und nach außen. Es geht – natürlich auch – um Gewährleistungen. Man wünscht, dass das Haldern Pop sich im Wandel treu bleibt – dass es nicht ein Last-Generation-Festival ist. Dann müsste man sich auf der Bühne festkleben, bevor die Demontage beginnt.