Schreibkraft
Heiner Frost

Ein Pflegedienst für die Republik

Vielleicht ist Verzweiflung das falsche Wort. Vielleicht war Verzweiflung der Auslöser. Im Zentrum: Erschöpfung, Ausgelaugtsein – und manchmal auch Zorn. Es ist ein irgendwie ohnmächtiger Zorn am Ende der Belastbarkeit. „Das Tragische ist doch, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist“, sagt Ulrike und meint die große Gruppe derer, die zu den „pflegenden Angehörigen“ gehören.

(Pflegebedürftig sind Personen, die gesundheitliche bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebdürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate und mindestens der in Paragraph 15  festgelegten Schwere bestehen.)

Die Schweigenden

Ulrike ist also Teil einer – wie soll man sagen? – zumeist schweigenden Gruppe. „Pflegende Angehörige sind der größte Pflegedienst der Republik, aber ohne Bezahlung“ – das habe ihr mal jemand gesagt, erzählt Ulrike.
Ihre Eltern: jenseits der 90. Der Vater dement. Die Mutter erblindet. „Die beiden gehören zu denen, die damals unser Land aufgebaut haben“, sagt Ulrike. „Mir und meiner Schwester haben die beiden beigebracht, immer ehrlich, immer aufrecht und gerade durchs Leben zu gehen.“ Auf Ulrikes Tisch im Wohnzimmer: ein klobiger Aktenordner und das Sozialgesetzbuch.

Man möchte etwas zurückgeben

„Wissen Sie, als feststand, dass meine Eltern es nicht mehr alleine schaffen, dass sie in eine Pflegeeinrichtung müssen, da war mir nicht klar, was da auf mich und meine Schwester zukommt.“ Und vorher? Vorher lebten die Eltern – bis Oktober 2020 – selbstbestimmt in ihrem eigenen Haus. Ulrike und ihre Schwester beschließen eine Art Arbeitsteilung. „Ich habe gesagt, dass ich mich um den theoretischen Teil kümmern werden. Meine Schwester hat sich um die Pflege gekümmert. Viele können sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Das eigene Leben tritt in den Hintergrund. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich möchte man den Eltern etwas zurückgeben.“ Häufig wird die Pflege den Frauen „auferlegt“. „Meistens bleibt das bei den Töchtern hängen. Meistens ist es dann so, dass, wenn die mal an sich selber denken, gleich schon ein schlechtes Gewissen auftaucht.“ Ein Druck entsteht – einer, der wenig Freiraum lässt.

Ein Anwalt als letzter Halt

Ulrike hat sich längst einen Anwalt genommen. Nicht aus Boshaftigkeit – es ist die Ohnmacht. „Versuchen Sie mal, all die Bescheide zu verstehen, die sie auszufüllen haben. Ich bin doch keine Fachfrau. Ich bin Rentnerin und wenn ich denke, ich hätte noch einen Beruf auszuüben und Kinder zu erziehen, dann frage ich mich: Wie soll das noch funktionieren? Ich war und bin guten Willens, aber irgendwann habe ich mich wirklich allein gelassen gefühlt. Dazu kam, dass im Jahr 2020, als meine Eltern in die Pflegeeinrichtung kamen, Corona war.“ Kommunikation mit den Behörden? Emails vielleicht oder mal ein Telefonat. „Natürlich kann ich mir vorstellen, dass auch bei denen Land unter war, aber für mich war und ist mein Anwalt die einzige Person, bei der ich mich noch traue, die Fragen zu stellen, die ich allein nicht beantworten kann.“ Ulrike ist taff – keine von denen, die dazu neigen, den Beschützerinstinkt bei anderen zu wecken. „Aber es ist doch so: Wenn ich Anträge ausfüllen und Auskünfte geben soll, muss ich doch wenigstens verstehen, was man von mir will.“

„Was geht denn ab bei euch?“

Während der Corona-Zeit war es Ulrike und ihrem Mann nicht möglich, die Eltern zu besuchen. „Wir reden jetzt von der Zeit von jenem 13. März 2020 bis zu dem Zeitpunkt, als meine Eltern in die Pflegeeinrichtung kamen. Da hat sich meine Schwester, die quasi nebenan von meinen Eltern wohnt, um die komplette Pflege gekümmert. Dafür habe ich versucht, den behördlichen Teil zu schultern. Wissen Sie, mein Mann ist Niederländer und wenn der sieht, was hier abgeht, schüttelt der nur den Kopf. Warum ist denn das alles so unglaublich kompliziert?“ Rhethorische Frage, denke ich. Je komplizierter es ist, desto eher passiert es doch, dass Menschen im Angesicht einer bürokratischen Übermacht kapitulieren. „Wissen Sie“, sagt Ulrike, „ich will hier nicht irgendjemandem einen schwarzen Peter zuschieben, aber …“ Sendepause. Es ist eine Pause, in der ich merke, dass die Zeit der Goldwaage angebrochen ist. Was erzählt man? Was lässt man weg? Das gilt für Ulrike. Sie erzählt, dass irgendwann „Außenstände“ in Bezug auf die Pflegeeinrichtung auftraten. „Das endete damit, dass meine Eltern das Heim verlassen müssen. Das haben sie aber nicht von uns erfahren, sondern von der Heimleitung. Meine Mutter hat sich in Grund und Boden geschämt. Papa und Mama haben nie Schulden gehabt.“ Derzeit warten Ulrike und ihre Schwester auf einen Termin beim Sozialgericht.

Sozialleistungserschleicherin

Irgendwann hat Ulrike eine 50-Euro-Quittung falsch abgeheftet. „Die war mir in den falschen Stapel gerutscht. Ich bekam dann einen Anruf und man warf mir vor, ich wolle Sozialleistungen erschleichen. Da fühlst du dich nur noch klein und elend. Da bist du dann am Ende.“ In ihrer Ohnmacht hat Ulrike an den damaligen Minister Jans Spahn geschrieben. „Ich dachte, ich melde mich jetzt einfach mal zu Wort“, sagt sie und es flackert in ihren Augen. Der letzte Satz des Briefes: „Sehr geehrter Herr Bundesminister. Sie haben die Möglichkeit, etwas zu verändern. Sie bewegen auch Dinge im Kleinen, die eine Auswirkung haben. Von daher hege ich die Hoffnung, dass mein Brief nicht umsonst war.“ Ulrike hat sich also zu Wort gemeldet. „Das ist ja das nächste Problem: Viele pflegende Angehörige bleiben stumm. Das hat etwas mit der Angst zu tun, einfach entweder als Idiot dazustehen, der die Sprache der Bürokratie nicht lesen kann, oder – wie in meinem Fall – auch noch als Leistungserschleicher gebrandmarkt zu werden. Das tut weh, denn eigentlich versuchen Angehörige doch nur, das Beste zu geben.“

Kafkaesk

Ulrike mag den Träger der Pflegeeinrichtung nicht nennen. Man spürt eine diffuse Angst und – wieder – diese unglaubliche Ohnmächtigkeit. All das hat etwas Kafkaeskes. All das ist irgendwie eine Art der besonderen Tragödie, in der jeder Weg, den man einschlägt, irgendwie ins Verderben führt. Der Blick wird eng – der Überblick geht verloren … „Warum muss denn alles so kompliziert sein?“, fragt Ulrike. Wenn ein Staat Gesetze macht, sollten wir Bürger die verstehen können. Und wenn es um Anträge geht, sollte das auch gelten.“ Ulrike hat – denkt sie – lange genug geschwiegen. „Schreiben Sie etwas über uns pflegende Angehörige. Das macht vielleicht den anderen Mut.“ Wer Auto fährt, hat eine Lobby, denke ich. Und wer Angehörige pflegt? Mittlerweile haben Ulrike und ihre Schwester eine neue Pflegeeinrichtung gefunden – das Verfahren vor dem Sozialgericht steht noch aus …
Am Schluss sagt Ulrike: „Ich will mich nicht mehr dem Gedanken ergeben, dass man ohnehin nichts ändern kann. Das kann es doch nicht sein.“