Schreibkraft
Heiner Frost

Stoff für die Hauptstadt

Montag, 01.06.2015, 10:00 Uhr; 1. große Strafkammer; Landgericht Kleve, Saal A 105 mit Fortsetzungstermin am 10.06.2015, 10:00 Uhr (A 105). Strafverhandlung gegen einen 48-jährigen Niederländer aus Rees wegen Einfuhr und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 23 Fällen. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, in der Zeit vom 23.08.2013 bis zum 11.06.2014 in Rees unter anderem gemeinsam mit einer anderweitig verfolgten Person in grenzüberschreitende Drogengeschäfte verwickelt gewesen zu sein. Hierbei soll der Angeklagte für die Beschaffung der Drogen in den Niederlanden und die Abwicklung des Transportes – den er entweder selbst oder durch entsprechend angeworbene Kurierfahrer bis nach Berlin durchgeführt haben soll – verantwortlich gezeichnet haben. Tatgegenständlich sollen insgesamt über 315 kg Marihuana gewesen sein, die zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt gewesen sein sollen. Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zur Hauptverhandlung sind 3 Zeugen geladen.

Man muss schnell hören können. 23 Fälle stehen zu Buche. Die Staatsanwältin verliest Daten und Mengen, als wollte sie einen Schnelllesewettbewerb gewinnen. Die Silben verschlucken sich gegenseitig. So wird gelesen, wenn der Inhalt bekannt ist. Wer neu ist im Fall, hat schnell heiße Ohren. Es geht um Marihuana. Stoff für die Hauptstadt: The Berlin Connection. Der Angeklagte: Ein Niederländer, Jahrgang ‘67. Bevor er im Januar verhaftet wurde, wohnte er in Rees. Jetzt wohnt er in Kleve: Krohnestraße, Justizvollzugsanstalt.
Zwei Richter und zwei Schöffen werden am Ende ein Urteil zu fällen haben. Zwei Verhandlungstage sind angesetzt. Ein Angeklagter räumt seine Taten ein. Er wird aussagen, erklärt er dem Vorsitzenden Richter. Die Atmosphäre im Gerichtssaal: Aufgeräumt. Ruhig. Sachlich. Die Staatsanwältin hächelt durch 23 Fälle. Daten, Mengen, Übergabeorte, Geldbeträge. Aller Stoff geht nach Berlin. Die Kurierfahrten: Manchmal im Wochenrhythmus. Es kommt einiges zusammen. Wie viele Jahre wird es geben für mehr als 200 Kilo?
Der Angeklagte ist zum zweiten Mal verheiratet. Zwei Kinder aus erster Ehe – ein Sohn, eine Tochter – wohnen in Ostberlin. („Mittlerweile bin ich auch schon Opa.“) „Gibt es weitere Kinder?“, fragt der Richter. „Nicht, dass ich wüsste.“
Beruflich hat der Angeklagte einiges erlebt. Realschule, Lehre, Arbeit bei verschiedenen Speditionen, Arbeitslosigkeit, Bus- und LKW-Führerschein, unterwegs für eine Fettschmelze, Jobs in Deutschland und Polen. Der Angeklagte arbeitet für verschiedene Firmen. Irgendwann gründet er eine eigene Firma. Es geht um Baumaschinen. Er lernt den späteren Mittäter kennen. Die Taten räumt er ein. Nein, er selbst ist kein Drogenkonsument. „Alkohol?“, fragt der Richter. „Ganz normal. Ab und zu mal ein Bier.“ „Hatten Sie Schulden?“, will der Richter wissen. „Schulden hatte ich nicht.“ Trotzdem: Das Drogengeld kommt gelegen. Es läuft nicht gut mit der Firma. Löhne sind zu zahlen. „Sind Sie auch mal selbst als Kurier gefahren?“, fragt der Richter. „Nein, niemals.“ Die Anklage zeichnete ein anderes Bild.
Drei Männer organisieren Drogen, Bestellungen und Auslieferung. Nach seiner Funktion befragt, sagt der Angeklagte: „Ich war so eine Art Disponent.“ Einer der Mittäter: Auch in Haft. Er ist für den zweiten Verhandlungstag geladen und hat bereits über einen  Anwalt mitgeteilt, dass er keinerlei Angaben machen wird. Kommen muss er trotzdem. Ladung ist Ladung. „Können Sie uns etwas über diesen Hans sagen?“, fragt der Richter und meint den Dritten im Marihuana-Bund. Der Angeklagte kann nichts sagen. „Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?“ Schnell wird klar: Beim Schweigen geht es um die Sicherheit.
Der Richter interessiert sich für Abläufe und Codierung des SMS-, Telefon- und Emailverkehr. „Es scheint ja so zu sein, dass beim Telefonieren das Wort Marihuana vermieden worden ist.“ „Das würde doch niemand machen. Niemand würde offen über Marihuana sprechen.“ Richter: „Doch. Ich.“ Zehn Kilo Marihuana laufen im Chiffrierverkehr als „Palette“. Palettenpreis: Zwischen 3.600 und 3.900 Euro. Die Beteiligten tragen Decknamen: Kutte, Hose, Cheffe. Cheffe – das ist der Angeklagte. Dass er unter dem Decknamen „Cheffe“ geführt wird, hat, sagt er, nichts damit zu tun, dass er der Boss eines Drogenkartells ist. Woher das Marihuana gekommen sei? „Das kam aus Deutschland“, sagt der Angeklagte. In Berlin sei es aber als „Holland-Gras“ gehandelt worden. „Die dachten vielleicht, dann verkauft es sich besser.“
Der Richter hat gerechnet: „Es scheint eine Art Untergrenze gegeben zu haben. Bei jeder Fahrt – ich habe das mal durchgerechnet – durchschnittlich 13 Kilo transportiert.“ Es muss sich schließlich lohnen. Auch im Internet war der Richter unterwegs. Er hat sich die Firmen des Angeklagten angesehen. „Zuletzt waren es ja drei.“ Jetzt stehen drei Insolvenzen ins Haus. Noch ist nicht sicher, ob die Menge für ein Verfahren reicht. Wie ist es zu den Insolvenzen gekommen? „Ich hatte einen falschen Geschäftsführer. Der hat sich die Taschen voll gemacht.“
Der Richter verliest Teile eines Gerichtsurteils aus Frankfurt/Oder. K. war dort angeklagt. Der Richter vergleicht Daten und Mengen. Später: Ein Gutachten über den Wirkstofffgehalt des Marihuanas. „Hat die Staatsanwaltschaft noch Fragen?“ Die Staatsanwältin möchte wissen, ob der Angeklagte einmal ernsthaft erkrankt war. Nein, war er nicht. Hat der Angeklagte seinen Führerschein irgendwann abgeben müssen? Nein, musste er nicht. Der Richter fragt nach Vorstrafen. Keine. Der Richter hantiert mit Zetteln. Irgendwo hat es auf niederländischer Seite einmal Bußgelder gegeben.
Die Staatsanwältin möchte wissen, ob der Angeklagte einmal ernsthaft krank gewesen ist. „Nein.“ Ob er seinen Führerschein einmal abgeben musste? „Nein.“ Warum die Frage nach der ernsten Krankheit? Vielleicht gibt es ernsthafte Trauer. Es ist kaum ein paar Wochen her, dass der Vater des Angeklagten gestorben ist. Die Nachricht vom Tod des Vaters traf erst mit zweitägiger Verspätung beim Angeklagten ein. Der Vater: An einem Wochenende verstorben. Die Frau des Angeklagten hat vergebens versucht, die Anstalt zu erreichen. Nein – zur Beerdigung wird der Angeklagte nicht gehen können. Den Vater hat er nicht mehr gesehen. Manchmal beginnt Strafe lange vor dem Urteil.

Zweiter Verhandlungstag
Zwei Zeugen sind vorgesehen. Einer erscheint. Ein Richter. Er hat sich bereits mit der Sache befasst. Vor den Plädoyers erläutert die Kammer, dass nunmehr auch eine Verurteilung gemäß Paragraf 30 a (Strafgesetzbuch) in Betracht kommt. „Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer Betäubungsmittel in nicht geringer Menge unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie ein- oder ausführt (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) und dabei als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Ebenso wird bestraft, wer [Absatz 2] mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel treibt oder sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt oder sich verschafft und dabei eine Schußwaffe oder sonstige Gegenstände mit sich führt, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind.“
Was hier zählt, ist der Begriff „Bande“. Ein Wort ändert viel. Das zeigt ein Blick auf Paragraf 29 a des Strafgesetzbuches. „Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer …“ Es geht um den Strafrahmen. Einmal beginnt er bei fünf Jahren (Paragraf 30a), einmal bei einem Jahr (Paragraf 29a).
Der Richter fragt den Verteidiger: „Brauchen Sie eine Pause, um sich darauf einzustellen?“ „Nein. Wir hatten doch gerade erst eine Pause.“
Die Staatsanwältin bittet allerdings um 15 Minuten, um „neu zu sortieren.“ Zwanzig Minuten später beginnt das Finale. Wieder die Litanei des Anfangs – diesmal in einem Tempo, dem man folgen kann. Jede Tat (es waren 23) wird noch einmal aufgeführt, versehen mit einer Menge und einer zweiten Zahl. Es ist der Faktor, um den sich die transportierte Menge von einer gesetzlich festgelegten „geringen Menge“ unterscheidet. Bei der 6. Fahrt wurden 20 Kilogramm Marihuana transportiert. Das ist das 186,7-fache einer geringen Menge. Im Achtsekundentakt schlagen Kilomengen ein. Am Ende sind es 302 Kilo. Das Trio, bestehend aus dem Angeklagten, Hans und K. wird als Bande gesehen. Was spricht für den Angeklagten: Das Geständnis. Er ist vorher nie in Erscheinung getreten. Er hatte finanzielle Probleme mit der Firma. Gegen ihn spricht die hohe Menge. Der Antrag: Die Fahrten mit Transportmengen von zehn Kilo: fünf Jahre, sechs Monate. Die Fahrten mit zehn bis zwanzig Kilo: sechs Jahre. Die Fahrten mit mehr als 20 Kilo: sieben Jahre. Gesamtstrafe: Neun Jahre. Es wird geschätzt, dass der Angeklagte für jede Fahrt 1.000 Euro Provision bekommen hat. Es waren zwar 23 Fahrt, aber die letzte Fahrt wird herausgenommen, weil sie praktisch „unter Aufsicht“ stattfand. Rest 22, mal 1.000. Der Angeklagte wird 22.000 Euro zu zahlen haben.
Die Verteidigung sieht keine Bande. Zu einer Bande gehören laut juristischer Definition drei. Alles darunter kann nicht Bande sein. Ob Hans ein Phantom ist, muss dahingestellt sein. Ist er eines, kann die Bandentheorie nicht zum Tragen kommen. Gibt es ihn wirklich, sieht der Verteidiger trotzdem keine Bande. Die Strafe: Höchstens fünf Jahre. Aufhebung des Haftbefehls. Es gibt keine Fluchtgefahr. Der Angeklagte bereut sein Tun. Sein Leben hat er zerstört und während er in Untersuchungshaft saß, hat er seinen Vater verloren, von dem er nicht Abschied nehmen konnte. Erst Tage später hat er vom Tod des Vaters erfahren. „Sie werden mich gleich bestrafen“, wendet er sich an die Kammer, „aber meine Familie ist durch die Berichterstattung schon in der letzten Woche bestraft worden.“ Jedem in seiner Stadt sei nach einem Artikel in der Lokalzeitung klar gewesen, dass es sich „um mich gehandelt hat“. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.
In der Kantine ist Spargeltag. Draußen scheint die Sonne. Ein schöner Tag. Während der Angeklagte in der Justizwachtmeisterei im Keller der Burg 90 Minuten Zeit hat, zwischen „Nachhausegehen“ und neun Jahren emotional einzupendeln, wird in der Kantine gegessen, im Hof geraucht. Das Leben geht ja weiter. Verteidiger und Staatsanwältin sitzen auf einer Bank, der Richter gleich daneben. Die Stimmung: Gelöst. Einer der Schöffen telefoniert. Ob es nun fünf, sieben oder neun Jahre werden, macht für einen der Beobachter keinen Unterschied. Was denn für den Angeklagten der Unterschied bedeutet, will einer wissen. Was soll er mit zwei Jahren mehr Strafe lernen? Es gehe nicht ums Lernen. Es gehe um die Strafe. Sagt ein anderer. Die Kammer verkündet ihr Urteil. Sieben Jahre. Paragraf 30a. Es war eine Bande. 22.000 Euro sind zu zahlen. Der Haftbefehl bleibt in Vollzug. Bevor die Kammer den Saal verlässt, wendet sich der Richter an den Angeklagten und wünscht – ohne zynisch zu sein – alles Gute.