Schreibkraft
Heiner Frost

Zwischen Behörde und Bedürfnis

Seit 20 Jahren gibt es den Opferschutz bei der Kreispolizeibehörde Kleve. Einer, der von Anfang an mit dabei war, ist Johannes Meurs. Ende Januar 2021 wird der Opferschutzbeauftragte in den Ruhestand gehen. Wer mit Johannes Meurs ein Gespräch über das Thema Opferschutz führen möchte, sollte vor allen Dingen eines mitbringen: Zeit.

Sehr komplex

Der Grund: Die Materie ist komplex. Sehr komplex. Meurs und die derzeit 46 Mitarbeitenden im Team Opferschutz sind für Vieles zuständig.
Opfer ist ein irgendwie vieldimensionaler Begriff: Jemand kann Opfer eines Verbrechens werden, Opfer einer Verkehrsunfalls, einer Misshandlung, eines Betruges, einer Beleidigung, einer Mobbing-Aktion. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen Verwandte, Freunde – auch sie sind Opfer: Opfer über Bande. Wenn jemand sich das Leben nimmt, bleiben Menschen zurück, die Hilfe brauchen. Es gibt nicht zwei Fälle, die einander gleichen. Es gibt keine Schablone – aber es gibt Erfahrungen.

Aus den Fugen

Schnittmenge für alle Opfer ist die Tatsache, dass ein Leben – ihr Leben – von einer Sekunde auf die andere aus den Fugen gerät, ins Trudeln kommt, abstürzt, wegbricht, explodiert oder implodiert. Opfer sind immer – Geschädigte und oft auch Beschädigte.
Im System der Rechtsprechung sind Opfer gleichzeitig ein „Instrument“. Wer Opfer eines Verbrechens wird, ist Zeuge und Geschädigter. „Da geht es um völlig unterschiedliche Dinge“, erklärt Meurs. Da ist der Staat, der ein Verbrechen klären will und das Opfer zum Instrument der Wahrheitsfindung macht – und da ist der Mensch mit seinen Ängsten, Unsicherheiten. „Opfer sind vor dem Gesetz ein Beweismittel“, sagt Meurs. Nicht selten werden Opfer vor Gericht zum zweiten Mal zum Opfer. Meurs: „Gottseidank hat sich in den letzten Jahren einiges stark verbessert, was nicht zuletzt auch mit der Zeugenbetreuung vor Gericht zu tun hat.“ Es geht um die möglichst verlustfreie Synchronisation unterschiedlicher Bedürfnisse: Da ist der Staat und da sind die Betroffenen.

Schlimmstenfalls …

Ein anderer Aspekt: „Stellen Sie sich vor, Sie sind bei der Arbeit und hören plötzlich im Radio, dass es bei Ihnen in der Straße eine Explosion gegeben hat. Sie wissen, Frau und Kinder sind zuhause. Was passiert? Schlimmstenfalls setzen Sie sich ins Auto, fahren los und verunglücken auf dem Weg.“ Man mag sich das nicht vorstellen, aber es ist unabdingbarer Bestandteil eines möglichen Katastrophenszenarios. „Polizeiarbeit ist immer auch Gefahrenabwehr“, sagt Meurs. „Wenn wir von einem schweren Unfall erfahren oder von einem Todesfall, macht sich ein Team auf den Weg zu den Angehörigen – betreut sie, kümmert sich.“

Nicht selbstverständlich

Was im Kreis Kleve längst „Norm“ ist, gehört anderswo längst nicht ins Spektrum des Selbstverständlichen. Meurs und die Leute vom Opferschutz wissen, worauf zu achten ist, worum sie sich zu kümmern haben. „Wenn von jetzt auf gleich dein Leben aus der Bahn gerät, gibt es Dinge, an die du nicht denkst. In einem solchen Augenblick wird aus Denken Handeln. Du folgst – was ja normal ist – deinem Gefühl, dem Instinkt. Du machst dich auf den Weg. Da liegt die Gefahr.“
Meurs und das Team haben Erfahrungen. Sie sind in der Lage, Fragen zu beantworten, die noch gar nicht gestellt wurden. Trotzdem ist eines immer wichtig: Kein Fall ist wie der andere. Routine ist der falsche Ansatz. „Wenn irgendwo ein schwerer Unfall passiert, ist die Polizei vor Ort und sammelt Wissen und Erkenntnisse. Das ist die eine Seite. Die Kollegen vor Ort können sich aber nicht um die Benachrichtigung von Angehörigen kümmern. Da greifen wir dann ein. Und da alle Informationen bei der Polizei zusammenlaufen, sind wir am Ende diejenigen, die alle Fragen klären können.“

Etablieren

Was so selbstverständlich klingt, war ein schwieriger Weg. Meurs: „Der Opferschutz musste sich an zwei Positionen etablieren: Die eine Position war praktisch die ‚firmeninterne‘ – die andere war die Etablierung nach außen hin.“
Längst führt Meurs mehr als 700 Beratungsgespräche pro Jahr. Wenn es irgendwo in Deutschland eine „Großlage“ gibt (Breitscheidplatz Berlin, German Wings – man hat die Nachrichten und Bilder im Kopf), ist es ziemlich wahrscheinlich, dass Meurs‘ Telefon klingelt. Apropos Telefon: der Opferschutz ist 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche zu erreichen. (02821 5041999.)

Opferschutz ist Qualitätsarbeit

Natürlich sind Großereignisse spektakulär, aber für Meurs geht es um die vermeintlichen Kleinigkeiten. Es geht darum, „dass wir als Polizei für die Menschen da sind. Es ist nicht umgekehrt“. Opferschutz ist Qualitätsarbeit.
Wenn Meurs von Einsätzen erzählt, fragt man sich spontan: Wie ist so etwas auszuhalten? Meurs‘ Antwort ist verblüffend einfach: „Wenn du deine Arbeit gut machst, steht am Ende immer ein Dankeschön. Das ist die Motivation. Und wenn, so tragisch viele Dinge sind, am Ende bei einer Traueranzeige auch namentlich unseren Leuten gedankt wird, dann musst du niemanden motivieren.“

Nahtstelle

Der Opferschutz ist eine Nahtstelle zwischen Behörde und Bedürfnis. Was sich auf amtlicher Seite als Streben nach optimaler Abwicklung eines Verfahrens darstellt, ist auf der Seite der Opfer und Angehörigen der Wunsch nach Nähe und Erklärung. Häufig ist für Verbrechensopfer der Weg zum Opferschutz weniger natürlich als man annehmen sollte. Häufig fehlt es am Wissen um die richtigen Stellen, Adressen und Telefonnummern. Es geht um eine Nummer, die mit Menschen und nicht mit Anrufbeantwortern verbindet. Opferschützer müssen erreichbar sein. Unmittelbar. Wer zweimal durchgereicht wird, bevor er an den Richtigen gerät, für den ist der Anruf meist schon beendet, bevor er überhaupt begonnen hat. Eines ist für Johannes Meurs klar: Qualität ist kein Zufall. Er und seine Kollegen arbeiten daran.

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