Von Alfred Hitchcock ist der Satz überliefert „Alles Schlechte hat auch sein Gutes”. In Zeiten von Corona und Lockdown ist die Frage berechtigt, was aus der Krise zu lernen und wie mit ihr umzugehen ist? Wo steht Wissenschaft? Wie wichtig ist ein vorsichtiger Umgang mit „Fakten”? Ein Gespräch mit dem Mediziner und Epidemiologen Dr. Norbert Frost …
Wie blickt ein Wissenschaftler auf die momentane Situation im Zusammenhang mit Corona?
Frost: Das ist natürlich eine ziemlich globale Frage. Vielleicht sollten wir das präzisieren.
Axiome
Also: Wie kann Wissenschaft Menschen helfen oder vielleicht auch verunsichern?
Frost: Es gibt statistische Annahmen – es geht um „Wenn-Dann-Beziehungen“. Nehmen wir folgendes Axiom: „Wenn jemand derzeit mit dem Flugzeug in Urlaub fliegt, dann kann er sich dabei infizieren.“
Das klingt erst einmal sehr allgemein und ich weiß nicht, ob mich das vom Fliegen abhalten würde. Wenn jemand sich ins Auto setzt und fährt, kann er verunglücken …
Frost: Genau. Wir haben es mit einer sehr vagen „Wenn-Dann-Beziehung“ zu tun. Wenn ich aber sage: „Beim Fliegen liegt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei 90 Prozent“, …
…dann würde ich mir den Ticket-Kauf garantiert mehr als gründlich überlegen.
Frost: Richtig. Die persönliche Risiko-Einschätzung verläuft dann ganz anders. Nehmen wir diese Aussage: „Wer momentan fliegt, infiziert sich aufgrund mangelnder Abstände bereits während des Fluges.“ Auch das deutet auf ein erhöhtes Infektionsrisiko …
… wirkt aber – verglichen mit der 90-Prozent-These weniger eindringlich.
Frost: Nehmen wir noch diese These: „Wer momentan fliegt, infiziert sich aufgrund mangelnder Abstände bereits während des Fluges mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent.“
Ich würde es dann garantiert lassen. Aber was sagt uns das?
Frost: Zunächst einmal stellen wir fest, dass diese vier Aussagen höchst unterschiedliche Reaktionen im Verhalten auslösen. In der gängigen Praxis werden nun solche Aussagen durch Studien gestützt oder widerlegt. Und jetzt kommen wir zum ersten Problem. Studien sind heutzutage in aller Regel von pekuniären, politischen, religiösen oder anderen Interessen geleitet.
Mit anderen Worten: Jeder bekommt die Studie, die ihm nützt?
Frost: Zunächst einmal folgt daraus: Man muss sich Studien sehr genau ansehen und herausfinden, wer und was dahinter steckt. Das Wissenschaftsethos des ausgehenden 19. beziehungsweise des beginnenden 20. Jahrhunderts ist aufgeweicht worden. 90 Prozent aller Pharmastudien haben den Anschein, dass sie auf objektivem Boden gewachsen wären, sind aber in der Regel komplett eigenfinanziert und berücksichtigen das vom Auftraggeber gewünschte Ergebnis. Es empfiehlt sich also, sehr genau hinzusehen, wer hinter einer solchen Studie steckt.
Verantwortung
Was ja für den „Endverbraucher“ nicht eben einfach oder sogar unmöglich ist. Setzt da die Verantwortung der Medien ein?
Frost: Auf jeden Fall. Aber auch da geht es um Interessen, oder? Auch da geht es um Ethos.
Also: Cui bono? Wem nützt es?
Frost: So ist es wohl.
Daraus folgt ja irgendwie, dass seriöse Wissenschaft und auch seriöse Berichterstattung schnell in Verruf geraten können.
Frost: Das ist zum Teil richtig. Bei wissenschaftlichen Publikationen ist es daher längst üblich, dass die Hauptautoren eidesstattliche Versicherungen dahingehend abgeben, dass es keine finanziellen Absprachen oder Zuwendungen im Zusammenhang mit einer Publikation gegeben hat.
Also sollte Wissenschaft im besten aller Fälle unabhängig sein?
Frost: Klar, das ist der Idealfall. Und für die Berichterstattung gilt natürlich nichts anderes.
Ist dann Wissenschaft nach dem Unabhängigkeitsprinzip heute überhaupt noch möglich?
Frost: Gute Frage. Es gab Zeiten, da wurde Bildungspolitik von staatlicher Seite wesentlich höher bewertet und infolgedessen auch wesentlich besser finanziert. Heute sehen wir, dass an fast jeder Fakultät von Universitäten Drittmittel eingeworben werden. Die Nähe zu denen, die sich dann ein bestimmtes Ergebnis von Studien wünschen, wird dadurch extrem gefährlich.
Kommen wir zum Eigentlichen: Wenn Sie sich das Thema Corona in den Medien ansiehen – bekommen Sieeinen Koller?
Verschwörung
Frost: Nein. Ich muss aber natürlich versuchen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Es gibt viel Unsinn, der da verbreitet wird. Wir finden die verschiedensten Ansätze in verschwörungstheoretischer Hinsicht.
Bill Gates?
Frost: Zum Beispiel. Aber man muss natürlich auch da nach den Gründen suchen. Das hat meiner Ansicht nach viel mit einer wachsenden Geheimhaltungspolitik zu tun. Das gilt vor allem für die Bereiche Waffenexporte oder Geheimlaboratorien. Da geht es dann um biologische Kriegsführung und um Material, das in diesen Zusammenhängen entwickelt wird. Es gibt ja längst Dinge, die sich der parlamentarischen Kontrolle entziehen. Das kann natürlich schnell zum Nährboden für Verschwörungstheorien der unterschiedlichsten Art werden. Auch deutsche Geheimdienste haben sich ja inzwischen weitgehend der Kontrolle des Parlaments entzogen.
Haben Sie den Eindruck, dass das, was seitens der Politik verlautbart wird, offen und ehrlich ist?
Sowohl als auch
Frost: Da komme ich jetzt mit einer wahrscheinlich wenig befriedigenden Antwort: „sowohl als auch“. Es gibt Dinge, da wird möglichst offen kommuniziert, um die breite Bevölkerung hinter die Corona-Maßnahmen zu bringen …
…Sie meinen die Hygiene- und Coronaschutz-Maßnahmen?
Frost: Genau. Aber dann gibt es andere Dinge – ich denke da beispielsweise an die Verhandlungen zur Stützung der Lufthansa – da kann man eigentlich nur noch mutmaßen, dass da im Hintergrund sehr gezielte Lobby-Arbeit geleistet wird.
Fußball?
Frost: In Sachen Profifußball sehe ich das in jedem Fall so. Da bringt die Politik einerseits Besorgnis beim Thema Bevölkerungsschutz zum Ausdruck und auf der anderen Seite werden Dinge völlig durchweicht. Das ist schwer zu vermitteln.
Kommen die Lockerungen zu früh? Oder anders gefragt: Was antworten Sie jemandem, der sagt: Ist doch alles halb so wild. Let‘s get back to normal.
Wenn nicht jetzt …
Frost: Ich antworte: Auf gar keinen Fall. Es ist überhaupt nicht halb so wild. Wir sind weit weg von der Rückkehr zur Normalität. Es ist momentan meiner Ansicht nach unmöglich, zu einem ‚Business as usual‘ zurückzukehren. Ich denke beispielsweise, der komplette Flugverkehr müsste auch weiterhin so niedrig wie möglich gehalten werden. Da liegt eine Infektionsgefahr schlechthin. Dass die Klimaanlagen jegliches virale Material eliminieren, ist nicht mehr als eine Schutzbehauptung, die dazu dient, das Geschäft wieder zu beleben. Das ist eher eine Form der Selbsthypnose. Meiner Ansicht nach muss diesbezüglich komplett umgedacht werden. Wir haben gelernt, dass sich sehr viele Dinge im Kontext von Videokonferenzen – also ohne übermäßiges Fliegen – erledigen lassen. Ich frage mich: Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, gravierende Änderungen in unserem Mobilitätsdenken zu erreichen und umzusteuern. Diese gesamte Entwicklung kommt ja nicht losgelöst daher.
Das brauche ich genauer.
Frost: Fast alle Infektionskrankheiten können nicht losgelöst vom wirtschaftlichen und sozialen Gebaren der Menschen gesehen werden. Da gibt es sehr deutliche Zusammenhänge. In dem Ausmaß, in dem wir Menschen diese Welt besetzen, nehmen wir anderen Gattungen und Spezies die Lebensgrundlage. Das bedeutet, dass beispielsweise Tiere, die bisher angestammte Wirtstiere für Keime, Erreger und Viren waren, mit ihrem Verschwinden diese Erreger quasi dazu zwingen, sich nach anderen Wirtstieren umzusehen. Da kommt es dann zu sogenannten Zoonosen. Erreger werden dann von einer Art zu einer anderen übertragen.
Also beispielsweise vom Hund zum Esel?
Frost: Das ist möglich. Aber viel gefährlicher sind am Ende Zooanthroponosen. Dabei wechseln die Erreger vom Tier zum Mensch.
Wäre Tollwut ein Beispiel?
Frost: Ja. Und dann wären da noch die Anthropozoonosen. Da lautet dann die Übertragungsrichtung: Mensch zu Tier. Derzeit sind übrigens etwa 200 Krankheiten bekannt, die sowohl bei Menschen und Tieren auftreten und in beide Richtungen übertragbar sind. Da handelt es sich um Viren, die sich im Zuge einer Mutation den Mensch als Wirt erobern. Corona – das wird ja vermutet – gehört in die Kategorie Zooanthroponose.
Eigenschutz und Solidarität
Das ist aber wissenschaftlich noch nicht abgesichert, oder?
Frost: Richtig, aber meine ganz persönliche Einschätzung geht dahin, dass es sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent um eine Übertragung von Tier zu Mensch handelt.
Wenn ich mich momentan an die Maßgaben halte, wenn ich also eine Maske trage, sobald ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin und auch alle anderen Vorkehrungen beachte – wie hoch ist das Risiko, dass ich erkranke?
Frost: Natürlich vermindert ein angepasstes Verhalten das Risiko, aber es ist auch ein bisschen wie im Straßenverkehr: Dass einer sich an alle Regeln hält, kann ja nicht garantieren, dass er in keinen Unfall verwickelt wird. Da gibt es ja auch noch die anderen. Man muss das ganz klar sagen: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Niemand von uns hat es allein in der Hand, aber wir sollten im Interesse der Eigensicherung und auch als Akt der Solidarität mit den anderen, so vor- und umsichtig wie nur irgend möglich handeln. Natürlich ist auch noch wichtig, wo man sich bewegt. Jemand, der – wie seinerzeit in Heinsberg – in einem Hotspot unterwegs ist, setzt sich einem weitaus höheren Risiko aus.
Momentan wird hier am Niederrhein viel über die Lebensumstände von Leiharbeitern in der fleischverarbeitenden Industrie diskutiert.
Frost: Ein gutes Beispiel. Wer in solchen Unterkünften unter solchen Umständen, wie sie beschrieben wurden, lebt, ist eigentlich in Bezug auf das Virus ohne jede Chance. Wir können in diesen Fällen sehr genau beobachten, was passiert, wenn alle Schutzmaßnahmen wegfallen. Dann haben wir in einer Belegschaft quasi von jetzt auf gleich 50 Prozent und mehr Infizierte. Das bedeutet also, um es noch mal zu sagen: ‚Es‘ ist nicht vorbei. Es gibt keinen Grund, sich in Sicherheit zu fühlen.
Vorsicht
Es reicht nicht, nur auf sich zu achten. Da gibt es immer noch die anderen. Je mehr Menschen so denken, um so besser ist es, oder?
Frost: Natürlich – auch das haben wir gelernt – spielt die persönliche gesundheitliche Konstitution auch eine Rolle. Eine gute Immunlage trägt natürlich zu Sicherung bei, weil dann das eigene Immunsystem im Fall eines Falles besser in der Lage ist, auf eine Infektion zu antworten. Wer mit Krankheiten vorgeschädigt ist – insbesondere bei Erkrankungen der Atemwege und des Kreislaufs –, sollte in jedem Fall noch vorsichtiger sein – oder anders gesagt: sollte noch besser geschützt werden.
Wir haben aber auch von Fällen gehört, wo es jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen getroffen hat.
Frost: Das ist richtig und einmal mehr ein Indiz dafür, dass wir alle aufpassen sollten.
Kann man andere Menschen anstecken, ohne selber erkrankt zu sein?
Frost: Klares „Nein“. Man kann natürlich andere Menschen anstecken, weil man nicht weiß, dass man selbst infiziert ist. Aber um andere zu infizieren, muss man selbst infiziert sein. Stellen Sie sich einen Tennisball vor, den Sie weitergeben möchten: Um das zu können, müssen Sie ihn erst einmal haben. Anders ist Weitergabe nicht möglich.
Keine Impfpflicht
Gibt es eine Einschätzung in Bezug auf einen Impfstoff?
Frost: Ich rechne mit einem Impfstoff frühestens Anfang bis Mitte nächsten Jahres. Da wird es dann besonders darauf ankommen, diesen Impfstoff beziehungsweise seine Chargen-Kennzeichnung absolut fälschungssicher zu machen.
Klingt irgendwie fast wie bei Bargeld.
Frost: Das kann man so sehen, denn ein Impfstoff ist für den, der ihn herstellt, natürlich wie bares Geld. Nur ist Falschgeld nicht in der Lage, gesundheitliche Schäden anzurichten. Ein gefälschter Impfstoff kann das sehr wohl.
Impfpflicht oder nicht?
Frost: Klares Nein. Man muss den Menschen eine Impfung freistellen. Ich vermute, dass momentan international nicht nur saubere Forschung geleistet wird. Es ist damit zu rechnen, dass Firmen mit angeblichen Impfstoffen an den Markt kommen, die dann alles andere als heilbringend sind. Das ist dasselbe Problem wie mit Schwarzhandel im Internet. Der Kunde sieht nicht sofort, ob eine Bestellung auf sicherem Boden steht. Er merkt das erst, wenn er gelinkt worden ist. Das gab es ja jetzt auch im Zusammenhang mit der Maskenbeschaffung. Da sind auch Regierungen Betrügern ins Netz gegangen. Das Schlimme ist, dass es immer Betrüger geben wird, denen völlig egal ist, was sie mit ihrem Handeln anrichten.
Umdenken
Das klingt alles erst einmal nicht wirklich euphorisch. Gibt es etwas, was wir aus der Krise mitnehmen – was wir lernen können?
Frost: Natürlich gibt es das. Wir müssen umsteuern. Die Zeichen der Zeit erscheinen mir eher so, als würden sich alle bemühen, in einen Vor-Corona-Status zurückzukommen. Das „business as usual“ halte ich für einen großen Fehler. Alles, was wir momentan erleben, sollten wir vor allem auch in einen Zusammenhang mit unserem Umgang mit der Welt, in der wir leben stellen. Wenn nicht nach dieser Erfahrung, wann sonst sollten wir lernen, dass wir in unserem ganzen Gebaren umdenken müssen? Es gibt Dinge, die wir uns nicht leisten können. Stichwort: Subventionierung von Autokäufen. Das ist ein völlig falsches Signal, denn was wir erreichen müssen, ist, dass es weniger Autos gibt. Wir müssen uns fragen, ob wir zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen sollen. Das sind Dinge, die auf der individuellen Ebene überlegt und entschieden werden können. Jeder von uns – jeder für sich – muss sich Gedanken machen: Was kann mein Beitrag zu einem umweltfreundlicheren Verhalten sein? Die Belastung der Natur durch den Menschen muss abnehmen. Längst gibt es beeindruckende Studien darüber, wie sehr sich in der vergleichsweise kurzen Zeit des Stillstands beispielsweise die Luftqualität in China verbessert hat. In Amerika sind an der Golden Gate Bridge Tiere aufgetaucht, die sonst nur noch in der Versenkung zu sehen waren.
Da werden einige dann den sprichwörtlichen Sack Reis ins Spiel bringen.
Frost: Das mag ja sein, aber in einer mehr und mehr globalisierten Welt müssen wir uns von solchen Gedanken verabschieden.
Zur Person: Dr. Norbert Frost hat in Siena und Bielefeld Medizin und Gesundheitswissenschaft studiert. Seine Spezialgebiete sind Epidemiologie und Suchtmedizin. Von 1999 bis 2012 arbeitete Frost für die Europäische Drogenbeobachtungsstelle (Lissabon) im Fachbereich Epidemiologie. Seit 2014 ist er im Ruhestand und lebt seitdem in Großefehn in Niedersachsen. Frost beschäftigt sich auch durchaus augenzwinkernd mit der Medizin. Vor drei Jahren erschien beim Klever Verlag edition anderswo unter dem Titel „Übel & Täter” Frosts „Lyrische Pathologie”. Bestellung unter: . Die Zeichnungen des Buches stammen vom Kranenburger Künstler Dirk Willemsen.