Es gibt Geschichten, die so unglaublich sind, dass sie nur wahr sein können.
Nur so für alle Fälle
Ein Motorradfahrer, nennen wir ihn Klaus, nutzt die letzten sonnigen Herbsttage für eine Wochenendtour. Er fährt los, trifft auf eine Gruppe Gleichgesinnter: Sie fahren zusammen weiter. Irgendwo hinter Berlin werden sie in einen schweren Unfall verwickelt, bei dem Klaus schwerste Verletzungen erleidet. Die Polizei vor Ort nimmt an der Unfallstelle ein Protokoll auf. Der Rettungshubschrauber bringt Klaus planmäßig in die nächstgelegene Unfallklinik. Es ist Freitag. Ein Beamter vor Ort nimmt den Vorfall auf. Einer der Motorradfahrer hat während der Fahrt von Klaus die Telefonnummer seiner Lebensgefährtin bekommen. („Nur so für alle Fälle.“) Der Kumpel bietet dem Beamten an, Klaus Freundin zu benachrichtigen und erhält die Anschrift der Unfallklinik.
Währenddessen stellt das Team im Hubschrauber fest, dass Klaus schwerste Kopfverletzungen erlitten hat und in einer Berliner Spezialklinik besser aufgehoben ist. Der Hubschrauber dreht ab und fliegt nach Berlin. Für Klaus das Beste. Klaus’ Kumpel benachrichtigt noch in der Nacht die Freundin — erzählt von einem schweren Unfall und dass Klaus in eine nahe gelegene Unfallklinik eingeliefert worden ist. Adresse und Telefonnummer gibt er durch. Am frühen Samstagmorgen setzt sich Klaus’ Freundin mit der Klinik in Verbindung. Sie möchte wissen, wie es ihrem Lebensgefährten geht. Niemand kennt Klaus. Er ist nie in die Klinik eingeliefert worden. Die Freundin ist verzweifelt. Was allerdings noch schlimmer ist: In der Berliner Spezialklinik ist Klaus mittlerweile seinen schweren Verletzungen erlegen. Es ist Wochenende — die Informationen fließen langsam.
Fehlerfrei und trotzdem falsch
Johannes Meurs ist Opferschutzbeauftragter bei der Kreispolizeibehörde Kleve. Der Fall, der einen Außenstehenden beim bloßen Anhören wütend werden lässt, ist für ihn nicht außergewöhnlich. Würde man die Einzelhandlungen aller Beteiligten analysieren, käme dabei heraus, dass keiner einen Fehler gemacht hat. Alle haben — für sich genommen — das Richtige getan. Der Polizist an der Unfallstelle hat alle relevanten Daten erhoben und weitergeleitet. Die Besatzung des Rettungshubschraubers hat zum Wohle des Patienten eine andere Klinik angeflogen. Auch in der Klinik ist für Klaus alles Menschenmögliche getan worden.
Für die Hinterbliebenen ist eine solche Erkenntnis wenig hilfreich. Immerhin: Im Kreis Kleve wäre ein solcher Fall undenkbar, denn zu einem Unfall mit Schwerstverletzten oder gar Toten wird „routinemäßig“ der Opferschutz hinzugezogen. Während der eine Teil der Polizei mit aller notwendigen Sachlichkeit das tut, was auch im schlimmsten aller Fälle getan werden muss, kümmern sich die Kollegen vom Opferschutz um die Angehörigen — sammeln alle wichtigen Informationen, überbringen im Fall der Fälle die Todesnachricht und wissen alle Details: Wohin sind die Schwerstverletzten gebracht worden? Gibt es bereits Erkenntnisse über den Unfallhergang? Was ist zu tun? Die Polizei ist „Chef im Ring“ — hat alle relevanten Informationen, kann den Angehörigen Hilfestellungen geben, steht in direktem Kontakt zur Notfallseelsorge. „Als Polizei sind wir in einem solchen Fall die Hauptschaltstelle. Bei uns fließen alle Informationen zusammen. Daher sind wir häufig die, die zuerst gefragt werden. Und Bürger erwarten von uns Kompetenz“, erklärt Johannes Meurs.
Erfahrung im Umgang mit dem Tod
Wer mit seinen Kollegen spricht, merkt schnell, dass die Arbeit, die Meurs da macht, höchste Anerkennung genießt. Die Gewissheit, dass der Opferschutz sich intensiv um die Belange der Angehörigen kümmert, sorgt dafür, dass die Kollegen am Unfallort konzentriert und professionell ihre Arbeit tun können.
Arbeit an der Grenze des Möglichen
Johannes Meurs und seine Kollegen haben längst ihre ganz eigenen Erfahrungen im Umgang mit dem Thema Tod. Trotzdem: Das Überbringen der schlimmsten aller Nachrichten ist jedes Mal eine Arbeit an der Grenze des Möglichen. Und wo der Trost kaum möglich ist, spielt oft die Zeit eine wichtige Rolle. Zeit, um bei den Angehörigen zu bleiben — sich um alles zu kümmern. Eine Erkenntnis, die so simpel ist, dass offensichtlich nicht jeder sofort daran denkt. Für die Polizei im Kreis Kleve ist ein solches Vorgehen längst Selbstverständlichkeit geworden. Das „Klever Modell“ etabliert sich außerhalb der Kreisgrenzen — nur ein Aspekt des Themas Opferschutz. Sei es bei Unfällen, sei es bei Raub- und Gewaltdelikten oder Sexualstraftaten — immer ist die Polizei Chef im Ring — leistet professionelle Arbeit am Tat- oder Unfallort. Aber zu jeder Tat, zu jedem Unfall gehören Opfer und ihre Angehörigen. Längst hat man erkannt, dass es nicht immer nur um Versorgung und Therapie für die Täter gehen kann. Jemand muss den Opfern und ihren Angehörigen zur Seite stehen. Dieser Jemand aber sollte Zugang zu allen wichtigen Informationen haben, um dementsprechend umsichtig reagieren können. Die simple Erkenntnis, dass ein verstorbener Mensch etwas anderes ist als ein geklautes Fahrrad, muss umgesetzt werden in ein qualifiziertes Umgehen mit den Betroffenen. Die Reihenfolge: Mensch vor Aktenzeichen.
Erschütternde Sachlichkeit
Eine andere Geschichte: Ein Kind bringt sich um. Aus Sicht der „Firma Polizei“ eine zunächst ungeklärte Todesursache, die genau definierte Maßnahmen nach sich zieht. Zeugen müssen vernommen und ihre Identitäten festgestellt werden. Was auf der sachlichen Ebene logisch klingt, kann in der Wirklichkeit so aussehen, dass die Eltern des verstorbenen Kindes nach ihren Personalien befragt und für den nächsten Tag zum Verhör einbestellt werden. Wechselt man die Perspektive und versetzt sich in die Lage der Eltern, entsteht ein Szenario, dessen Sachlichkeit erschüttert. Würde zu einem solchen Einsatz der Opferschutz hinzugezogen, könnte auf der einen Seite das erforderliche Prozedere abgewickelt werden, während auf der anderen Seite die notwendigen Erklärungen gegeben würden. Eine Vermittlung zwischen Mensch und Verfahren wäre hergestellt. Für Jonas Meurs ist klar, dass die Polzei weder an die Stelle eines Seelsorgers oder Therapeuten einerseits noch an die Stelle eines Arztes andererseits treten kann oder soll. Einer wie er sieht den Opferschutz als Vermittlung. Opferschützer müssen im richtigen Augenblick die richtigen Ansprechpartner kennen und den Kontakt herstellen.
Nahtstelle zwischen Behörde und Bedürfnis
Sie sind das unersetzliche Bindeglied an der Nahtstelle zwischen Behörde und Bedürfnis. Was auf amtlicher Seite das Streben nach optimaler Abwicklung eines Verfahrens ist, bedeutet auf der Seite von Opfern und Angehörigen den Wunsch nach Nähe und Erklärung. Häufig ist für Verbrechensopfer der Weg zum Opferschutz weniger natürlich als man annehmen sollte. Häufig fehlt es am Wissen um die richtigen Stellen, Adressen und Telefonnummern — Nummern, die mit Menschen und nicht mit Anrufbeantwortern verbinden. Opferschützer müssen erreichbar sein. Unmittelbar. Wer erst zweimal durchgereicht wird, bevor er an den Richtigen gerät, für den ist der Anruf meist schon beendet, bevor er überhaupt begonnen hat. Eines ist für Johannes Meurs klar: Qualität ist kein Zufall. Er und seine Kollegen arbeiten daran.