Schreibkraft
Heiner Frost

Kilometerstand: 1,6 Millionen

Ich bin ein Zigeuner

Es gibt Berufsbezeichnungen, die einfach zu wenig sagen. Lothar Hermans, Busfahrer. Wie uncool. Wie unvollständig. Seit über 30 Jahren ist Hermans dabei, und sein Tätigkeitsfeld reicht vom Führen einer Großmaschine über Reiseleiter und Conferencier bis hin zum Psychologen und Seelentröster. Wer Menschen befördert, hat es mit Schicksalen zu tun, Geschichten und Befindlichkeiten. Hermans fährt seit 1968 für die Firma Willi Look und ist mittlerweile im Rentenalter, aber was soll’s. Als sie gefragt haben, ob er die Sache mit dem Schulbus macht, hat er „Ja“ gesagt. Sechs Wochen Rentnerdasein — das war eine schöne Zeit, aber wer einen beruflichen Tachostand von 1,5 Millionen Kilometer im Blut hat, setzt sich nicht auf Dauer einfach in den Schaukelstuhl.

„Ich bin ein Zigeuner“, sagt Lothar von sich, und das steckt irgendwie auch in den Genen, denn schon der Vater war unterwegs: als LKW-Fahrer. Wir fassen zusammen: Reiseleiter, Psychologe, Busfahrer, Zigeuner und: Papierholländer. Lothar ist in Braunschweig geboren, sein Vater in Kleve, aber der Großvater war Holländer, und so hat Lothar einen niederländischen Pass. Apropos Großvater: Gewissermaßen ist Lothar ja Großchauffeur, denn die Eltern von denen, die jetzt allmorgendlich in seinen Bus klettern, hat er auch schon gefahren.

Niemand sagt Herr Hermans

Und so sagt auch niemand „Herr Hermans“ — alle sagen sie Lothar. „Guten Morgen, Lothar! Tschüss, Lothar! Wie geht’s Lothar“ Anders kennt er es gar nicht. Wenn jemand „Guten Tag, Herr Hermans“ sagen würde — Lothar wäre wahrscheinlich irritiert. Schließlich ist der Busfahrer für die Kinder fast so eine Art entfernter Verwandter. Er nimmt an ihrem Glück Teil, aber auch an den kleinen und großen Tragödien. Zu vielen, die da an den Haltestellen stehen, weiß er eine Geschichte. Die Geschichten allerdings behält er für sich: Busfahrerbeichtgeheimnis gewissermaßen. Und wenn morgens jemand traurig in den Bus steigt, wird auch schon mal nachgefragt. Busfahren ist nichts für Sprachlahme. Und Humor sollte man auch mitbringen. Lothar ist einer, der so ziemlich nichts „ungewechselt“ lässt. Einen Spruch hat er immer. „Guck mal, Lothar, da sind Schafe“, sagt einer. „Das sind doch keine Schafe — das sind Pulloverschweine“, antwortet Lothar. Ein Punkt für den Busfahrer. Vor der Schulbuszeit war Lothar auch „Reisefahrer“. Er ist so gut wie überall gewesen. Ob links fahren in London, Nervenkrieg in Paris, ob Skandinavien, Italien — nix, wo er noch nicht gewesen ist. Zu jedem Land: Geschichten. „In Italien kann es passieren, dass sie dir, wenn du an der falschen Stelle parkst, das Auto zerlegen und dir danach die Einzelteile verkaufen.“ Busfahrerlatein? Von wegen. In der ex DDR haben sie ihn mal verhört und zur Befragung einen Dolmetscher geschickt: Niederländisch. Jetzt aber ist — zumindest auf dem Fahrersitz — Schluss mit den Reisen. Jetzt kümmert sich Lothar um „seine Schüler“, und die sind gar nicht so übel. Und trotz der locker-flockigen Art wissen alle, dass es Grenzen gibt in Lothars Bus.

Antilopencocktail

Und wer sich partout nicht benehmen will, der kriegt den Antilopencocktail. Eine Runde Laufen. Im letzten Jahr hat ihn ein Junge derb beleidigt — mehrmals. Da war dann Schluss mit lustig. Aber wie gesagt: In der Regel klappt’s und das liegt eben daran, dass Lothar kein Beförderungsroboter ist, sondern einer, der das Herz am rechten Fleck hat. Das sieht auch sein Chef so. Für Willi Look ist Lothar Hermans ein Stück Firmeninventar — einer von der altenn Schule, einer, auf den Verlass ist. Und wie lange wird Lothar noch fahren? Kann sein, dass Ende 2005 Schluss ist. Dann nämlich ist die Verlängerung des (Bus)Führerscheins fällig, und bei Fahrern über 50 heißt es dann: „Idiotentest“. „Ich weiß nicht, ob ich mir das noch mal antun werde“, sinniert der 65-jährige. Busfahrer müssen alle fünf Jahre ihren Schein erneuern lassen, aber wie gesagt: Für die Üfuffs (die über Fuffziger) kommt ein Test dazu. Alles im Interesse der Sicherheit, und die ist nun mal das oberste Gebot. So sieht es auch Lothar. Sicherheit steht immer an allererster Stelle. Das ist am Ende auch wichtiger als die Pünktlichkeit. An der ersten Haltestelle ist Lothar allerdings auch im Winter immer pünktlich. Was danach kommt, hängt halt von den Umständen ab. Für Lothar sind die, die er da fährt „seine Kinder“. Und zu Weihachten bringen die ihm dann auch schon mal die eine oder andere Praline mit. Dafür gibt’s, wenn Lothar Geburtstag hat, auch schon mal „Schnupp für alle“. Und wenn es denn wirklich mal heißen wird „Schluss mit Bus“, dann bleibt ja immer noch der Kleinwagen. Den allerdings mag Lothar gar nicht so und gibt auch zu: „Als Autofahrer bin ich lange nicht so gut.“ Aber das ist dann wieder eine ganz andere Geschichte.