Schreibkraft
Heiner Frost

Le Sacre – kein Entkommen

Marcos Morau: Le Sacre du Printemps. Foto: Bettina Stöß

Zwei Stücke alt ist der Nachmittag, als das Fagott zum Opfergang ruft. Danach ist nichts mehr wie es war …

Erleben als Ahnung

Die Bühne: getaucht in ein Zwielicht, das alles Erleben zur Ahnung macht. Die mächtigsten Bilder werden von der eigenen Phantasie erschaffen, wenn sich nur ein Brandstifter findet. Marcos Morau so einer. Seine Choreographie legt Feuer an ein altersloses Stück: Das Frühlingsopfer wird ausgerollt: Die Dunkelheit bevölkert sich und man weiß nicht, ob man in einem Schützengraben ist oder in einem Arbeitslager. Alles ist niederpeitschend. Alles ist ein Gesamtes. Dieses ‚Sacre‘ kennt keine Individuen – nur manchmal blitzt eine Einzelbewegung auf, die augenblicklich in die Menge gesogen wird. Alles ertrinkt in einer kollektiven Anstrengung, die keine Hoffnung auf Rettung keimen lässt. Man wird Zeuge eines geschwärzten Frühlings.

Marcos Morau: Le Sacre du Printemps. Foto: Bettina Stöß

Bilder

Strawinskys Partitur liest sich jetzt wie eine Filmmusik und es tauchen Bilder vor dem inneren Auge auf. Man sieht Lumets ‚The Hill‘, fantasiert Kafkas ‚Verwandlung‘ als fiebertreibende Ensembleszene – das ‚Sacre‘ ruft die Bilder aus dem eigenen Leben ab, indem die Bühne zur Vermutung wird: ein sterbender Ort, ausgeleuchtet von einer Art Flutlichtmast. Vielleicht, denkt man, ist das hier der Bahnsteig von Treblinka – vielleicht experimentiert hier ein seelenloser Arzt mit dem Leben der ihm Ausgelieferten. Körper zucken im Rhythmus der Musik, quälen sich diesen Hang empor, rutschen zurück in die Dunkelheit: in die Bedeutungslosigkeit des Vergessenwerdens. Jetzt entsteht das Paradox: Was sich hier abspielt, ist unvergessbar. Es gräbt sich in die Seele. Wird zum Zustand.

Kein Entkommen

Niemand kann entkommen. Die Tänzer: in die Ewigkeit der Präsenz gezwungen, gegossen, gemauert. Kein Auf- oder Abgehen von der Bühne. Kein Ausweg. Jede Bewegung wird zu etwas Unausweichlichem. Aus allem atmet diese ungeheure Anstrengung der Unausweichlichkeit und Strawinsky liefert den Soundtrack zum Untergang: die Tänzer – eine Versammlung von Lemmingen, die sich glänzend auf den Abgrund zubewegt. Das Orchester als Rattenfänger. Alles hier ist zwingend. Nichts könntedürfte anders sein.

Irreversibel

Man fragt sich, ob dieser Abend reversibel wäre? Er wäre es nicht. Nach diesem Sacre ist nichts mehr möglich. Aber nicht nur das: Dieses ‚Sacre‘ streut Bedeutungslosigkeit über alles Gewesene. Es frisst gierig die Erinnerungen an das Vorherige – saugt den letzten Rest Leben aus allem, was vorher war. Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Alles ist abgetragen. Zermalmt.

Statisten

Dieses ‚Sacre‘ macht alle zu Statisten einer genialfinalen Masse, in der niemand mehr er selbst sein kann: Alles geht auf in diesem einen Gedanken an den kollektiven Untergang. Es gibt keine Solisten. Da ist nur dieser Hügel: ihn zu besteigen bringt den Tod. Ihn nicht zu bezwingen bringt den Untergang. Oben angekommen bleibt nur der Sprung in eine terra incognita.
Ein unglaubliches Tanz-Ensemble auf der Bühne – ein famoses Orchester im Graben. Am Ende klatscht man sich die Hände wund. Es ist vielleicht das Glück des Gedankens, dass man der einzige Entkommene ist, obwohl doch Rettung unmöglich war.

Choreographie: Marcos Morau; Bühne: Max Glaenzel; Kostüme: Silvia Delagneau; Dramaturgie: Roberto Fratini; musikalische Leitung: Vitali Alekseenok. Das Tanzensemble: Sara Giovanelli, Lotte James, Norma Magalhães, Neshama Nashman, Rose Nougué-Cazenave, Courtney Skalnik, Elisabeth Vincenti, Emilia Peredo Aguirre, Joaquin Angelucci, Evan L‘Hirondelle, Pedro Maricato, Miquel Martínez Pedro, Yoav Bosidan, Daniele Bonelli, Dukin Seo, Vinícius Vieira.
Es findet noch eine Aufführung statt: Sonntag, 28. Mai, 18.30 Uhr. Dauer des Ballettabends: circa 135 Minuten. Zwei Pausen.

Marcos Morau: Le Sacre du Printemps. Foto: Bettina Stöß

Weitere Stücke des Abends: ‚The Cage‘, Choreographie: Jerome Robbins; Musik: Igor Strawinsky – Concerto in D für Streichorchester. ‚The Thing with Feathers‘ – Choreographie: Demis Volpi; Musik: Richard Strauss – Metamorphosen für 23 Solostreicher.