Schreibkraft
Heiner Frost

cum tempore

Herr B. ist nicht erschienen. Niemand weiß, wo er steckt. Jetzt räumt man ihm einen Überziehungskredit ein: 15 Minuten – cum tempore also.

Keine wirklich gute Idee

„Herr B. ist nicht erschienen und anscheinend weiß auch niemand, wo er sich derzeit aufhält“, sagt die Vorsitzende. Man ahnt schon: B.s Fernbleiben ist vielleicht keine wirklich gute Idee. B.s Betreuer, Herr F., sowie B.s Anwalt sind erschienen. Ein Gutachter ist anwesend, dazu die Staatsanwältin – und natürlich die Kammer: drei Richter, zwei Schöffen. Jemand sagt, dass B., selbst wenn er hätte erscheinen wollen, den Weg womöglich nicht gefunden hätte. Wäre B. erschienen, würde es hier und jetzt um eine gefährliche Körperverletzung gehen. Immerhin: Vor Gericht ist aufgeschoben nicht aufgehoben. Wenn einer sich die Augen zuhält, sieht das Gesetz ihn trotzdem …

Kein Pappenstiel

Laut Staatsanwaltschaft soll B. vor etwas mehr als zwei Jahren „in einer in Kevelaer gelegenen Unterkunft im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung einen anderen Mann auf den Boden gedrückt und ihn durch ein an den Hals gehaltenes Messer und mehrfach durchgeführte Sägebewegungen verletzt haben“. Jetzt droht eine unbefristete geschlossene Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Eines steht fest: Das ist kein Pappenstiel.

Immer weiter abgebaut

Die Vorsitzende Richterin wendet sich an B.s Betreuer. Vielleicht kann er B.s Zustand beschreiben. Der Kontakt zu B.: schwierig. „Ich sehe den eigentlich nie“, sagt der Betreuer. Der Kontakt finde telefonisch statt. Es gehe dann meist um B.s Taschengeld.
Seit 2012 wird B. von Herrn F. betreut. „Seitdem hat er immer weiter abgebaut.“ B. – ein durch Drogen zugrunde Gerichteter., dem das Leben mehr und mehr außer Kontrolle gerät. So zumindest fühlt es sich für einen Außenstehenden an. „Für B. wäre es gut, in einem geschützten Bereich zu leben, wo er nicht tun und lassen kann, was er will“, sagt der Betreuer. B. bekomme sein Leben nicht in den Griff.
Noch vor zwei Tagen hat der Betreuer eine Mail von B.s Schwester bekommen. Die hat Strafanzeige gegen ihren Bruder erstellt. Er ist mehrmals vor ihrer Haustür aufgetaucht, hat laut gebrüllt und auch Todesdrohungen geäußert. Schon Anfang Mai hatet die Schwester Anzeige wegen Sachbeschädigung erstellt. Ihr Bruder hat die Haustüre demoliert. Gegen B. wurde zudem ein Annäherungsverbot in Bezug auf seine Mutter erwirkt. B. hatte sie angegriffen und von einem Fahrrad zu zerren versucht.

Nach Aktenlage

Die Vorsitzende wendet sich an den Gutachter. Der hat sich ‚nach Aktenlage‘ ein Bild von B. gemacht. Irgendwie schaudert man – auch nach Jahren noch – bei dieser Vorstellung. Ein Mensch urteilt über einen anderen, ohne ihn jemals getroffen zu haben … Zumindest möchte man selbst nicht in eine solche Situation geraten. Natürlich: Am Ende wird nicht der Gutachter das Urteil sprechen. Und trotzdem: Ein Gutachten ist ein Wegweiser …

vorläufig

Am Ende beschließt die Kammer für B. eine ‚einstweilige Unterbringung‘. Sobald man seiner habhaft geworden ist, wird es einen neuen Verhandlungstermin geben. Dann wird B. nicht die Wahl haben: Man wird ihn vorführen. Man wird ihm die Anklage verlesen, Zeugen hören und den Gutachter, und am Ende wird die Kammer entscheiden, was mit B. geschehen wird.