Schreibkraft
Heiner Frost

Ein kleiner Fisch

Wär‘s eine Serie – man begänne die neue Folge mit „Was bisher geschah“ …

88 Kilo

Es geht, folgt man dem Staatsanwalt, um das ganz große Kino. 88 Kilogramm Heroin. Kleinigkeiten sehen anders aus. Die Drogen: scandicht in Blei gekleidet und versteckt im Kontergewicht einer Hebebühne. (Irgendwie passt das Wort Bühne zu diesem Fall, denkt man.) Ein LKW mit der wertvollen Fracht (Marktwert circa zwölf Millionen Euro und Gequetschtes) fährt Richtung Irland und wird schon in Belgien ein erstes Mal kontrolliert. Nichts fällt auf. (Die Verstecker haben, scheint‘s, gute Arbeit geleistet.) Aber dann: In Irland wird der Transport wieder untersucht. Jetzt ist es das ganz große Besteck und jetzt gilt: Viel hilft viel. Die Drogen werden gefunden. Ende einer Dienstfahrt …

Tata, Brüder und Cousin

All das: längst aktenkundig und ausgeurteilt. Im Hintergrund des Deals: ein Mann, den sie Tata nennen, ein deutsches Brüderpaar und dessen Cousin. Alle vier: verurteilt. Einer der beiden Brüder sagt umfangreich aus. Er ist der Kronzeuge und sie bewachen ihn wie die Kronjuwelen. Während der nichtkronzeugige Bruder zu acht Jahren und sechs Monaten verurteilt wird, Tata 15 Jahre ins Gefängnis muss und der Cousin zu 13 Jahren verurteilt wird, kommt der Geständige mit fünf Jahren davon. Wenn er – was im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Sache des öfteren passiert – vor Gericht aussagt, erlebt man die Kehrseite des Kronzeugendaseins: Unter strengster Bewachung wird der Mann zum Gericht gebracht. Auf den Gängen: auffällig unauffällige (meist jüngere) Männer mit Raumscanblick und Knopf im Ohr. Im Saal: Mindestens zwei weitere Bewacher, die irgendwie alles im Blick zu haben scheinen. Bei den ersten Auftritten des Kronzeugen tragen die Aufpasser Sturmhauben. Merke: Wenn es für die oberen Etagen im Drogenhandel um den Verlust von zweistelligen Millionensummen geht, wird mit harten Bandagen gekämpft. Wer als Kronzeuge aussagt – das ist mehr als ein Filmdrehbuch – schwebt in Gefahr.

Was hat er gewusst?

Nachdem also Tata, die Brüder und deren Cousin verurteilt sind, geht es jetzt um den Fahrer des LKW. Die Frage: Was hat er gewusst? Wie weit ist er in die Strukturen eingebunden? Als er – im Prozess gegen die Brüder und den Cousin – als Zeuge auftrat, gab der Fahrer, der jetzt auf der Anklagebank sitzt, vor, nichts über seine Fracht gewusst zu haben. Das könnte, denkt man, für die Drahtzieher ein guter Schachzug sein: Wenn einer nicht weiß, dass er eine Straftat begeht, wird er bei Zollkontrollen die Nerven nicht verlieren.

„Die überlassen nichts dem Zufall“

Man wird eines Besseren belehrt. Der Kronzeuge sagt es und der Staatsanwalt sagt es auch: „Die überlassen nichts dem Zufall.“ Die – das ist eine bandenmäßige Organisation, die keine Rechnung mit Unbekannten macht. Alle, die für die Organisation arbeiten: Handverlesen – Endprodukte einer sorgfältigen Auswahl. Auch X.. Er war der Fahrer. Er wusste, mittlerweile gibt er es zu, was er da transportiert. (Es ist das 32.000-fache der sogenannten nicht geringen Menge. So rechnet die Staatsanwaltschaft. Das Gericht führt eine andere Zahl ein und spricht vom 29.000-fachen.) Zurück zum Fahrer: Er wusste nicht unbedingt etwas über die Mengen, aber er wusste, dass da etwas läuft, dass illegal ist.
Seine Aussage kreist um einen dritten Mann. Der hat ihn angesprochen. Nein, X. wird den Namen nicht nennen. Man hat, daheim in Wales, X.s Frau bedroht. Sie solle ihren Mann wissen lassen, dass er sich in Acht nehmen solle. Ein Drohpotential. X. sieht sich veranlasst, ein (Teil)Geständnis abzulegen. Seine Anwältin erklärt ein auf den Außenstehenden widersprüchlich erscheinendes Verhalten ihres Mandanten so: „Er hat gedacht: ‚Wenn ich jetzt aussage, dann werden die Droher gefasst und können meiner Frau nichts mehr tun‘.“ Das sage etwas darüber aus, wie der Mandant ticke.

Nur eine Fahrt?

X. habe nur eine Fahrt machen wollen, habe sich schon vor dieser Fahrt wieder bei seinem vormaligen Arbeitgeber beworben. Hier liegt im Verlauf des Prozesses der springende Punkt. Die Kammer sieht es anders. Die Bande hätte sich, so der Vorsitzende, nie und nimmer auf eine solche Konstruktion eingelassen. Man habe genügend Fahrer in der Hinterhand gehabt, die dann den Manlifter hätten transportieren können. Beweisanträge werden gestellt und abgeschmettert. Dass X. sich wieder bei seinem Vorarbeitgeber beworben habe, noch bevor die in Rede stehende Tat ausgeführt wurde, spreche ja nicht dagegen, dass X. Teil der Bandenstruktur gewesen sei. Einigkeit herrscht an allen Fronten über die Tatsache, „dass wir es hier mit einem kleinen Licht zu tun haben“. Der Verteidiger formuliert es so: „Der ist eine austauschbare Schraube im Getriebe.“

Eine seltene Konstruktion

Man habe es mit einer seltenen Konstruktion zu tun, erklärt der Vorsitzende zwischendurch. Normalerweise gehe es ja um strafbare Einfuhr von Drogen. „In diesem Fall geht es um eine strafbare täterschaftliche Ausfuhr.“ Immer wieder wird von einem in Bezug auf die Menge einmaligen Fall gesprochen. Am Ende geht es um die täterschaftliche Ausfuhr in Verbindung mit der Beihilfe zum Handeltreiben. Man gehe, so der Vorsitzende, davon aus, das X. sich dauerhaft in die Organisation eingliedern wollte. „Die Gesamtumstände sprechen dafür, dass die Bande eine Einzelfahrt nicht zugelassen hätte.“ Weitere Adjektive kommen zur Anwendung: unwahrscheinlich, schwerlich (vorstellbar) und lebensfremd sei die Annahme, man hätte einen Fahrer für eine einmalige Fahrt in relevante Strukturen eingeweiht.

Kleiner Fisch

Am Ende fordert die Staatsanwaltschaft elf Jahre Haft und spricht in Bezug auf X.s Einlassung von einem Teilgeständnis. Strafmildernd: X. ist vorher nie in Erscheinung getreten. Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Er hat einen untergeordneten Tatbeitrag geleistet, aber: Da ist die unglaubliche Menge einer äußerst gefährlichen Droge – es handele sich um das 32.000-fache der nicht geringen Menge. X. habe erhebliche kriminelle Energie an den Tag gelegt. Elf Jahre. Ein Pflock ist eingerammt. Der Verteidiger wird von einem minder schweren Fall sprechen und für eine Strafe unterhalb von fünf Jahren plädieren.
X. wird zu neun Jahren verurteilt. Die Kammer spricht nicht von einem Teilgeständnis. „Wir haben uns umfassend Gedanken gemacht“, sagt der Vorsitzende. Es sei um die Frage gegangen, ob X. dauerhaft für die Bande habe arbeiten wollen oder ob eine einmalige Fahrt denkbar sei. Diese Annahme sei lebensfremd. Man habe dem Geständnis des X. großes Gewicht beigemessen und in die strafmildernden Aspekte auch die Tatsache einbezogen, dass „wenn die Behörden bereits in Goch eingegriffen hätten, Sie ja nicht straffällig geworden wären“. Ein interessanter Aspekt. Der Druck auf X. sei groß gewesen und habe ein Ablehnen schwer gemacht. Wieder taucht der Begriff „kleiner Fisch“ auf. X. habe mit seiner Tat das Handeltreiben unterstützt. Gottseidank seien die Drogen nicht in den Verkehr gelangt. X. wird sein Heimatdorf in Wales wohl lange nicht wiedersehen …