Schreibkraft
Heiner Frost

Young Moves: Vier Variationen über das Beschreiben der Welt

Foto: Gert Weigelt

Kunst ist der Versuch, das zu erfassen, was wir Welt nennen. Kunst ist meist dann am besten, wenn es nicht ums Erklären geht sondern um Beschreibung. Die Kunst der Jungen ist Beschreibung auf dem Weg zur eigenen Handschrift. So ist es auch, wenn bei „Young Moves“ neue Choreographen ihre Arbeit vorstellen.

Vielleicht sollte es nicht „Young Moves“ heißen sondern „Fresh Moves“, was sich an der Deutschen Oper am Rhein längst zur spannendsehenswerten Nachwuchsparade in Sachen Choreographie entwickelt hat.
Vier Uraufführungen – vier Versuche, die Welt zu buchstabieren, die Vokabeln des Tanzens neu zu kombinieren. Vier Versuche, Musik, Tanz, Bühne und Licht zu jener im wahrsten Sinne wunderbaren Einheit zu verweben, die Herz und Verstand neu an- und ausleuchtet.
Der Abend beginnt mit „Temet Nosce“ von Feline van Dijken (Choreographie, Bühne, Kostüme), die für ihr Stück den Tanz in Streichorchesterfahnen wickelt (Teile aus „Meditations on Ecclesiastes“ für Streichorchester von Norman Dello Joio). „Temet Nosce“, erfährt man im Programmheft, eine Erstchoreographie – fast unglaublich und dann doch erahnbar, denn die halbe Stunde, die das Werk in Anspruch nimmt, ist nicht gleichmäßig wunderbar gefüllt – nicht immer gehen Tanz und Musik eine unauflösbare Einheit ein. Der Anfang: Ein grandioses Bühnenbild. Man taucht in den Tanz – atmet tief ein. Alles passt. Aber zwischendrin kleine Ohnmachten. Die Musik mag sich nicht immer entscheiden, was sie sein will, was sie auslotet. „Temet Nosce“ ist eine Studie über das Suchen und Gefundenwerden.
Sonia Dvoraks (Choreographie und Bühne) „Our Discontent“ beschreibt eine andere Welt. Tom Waits hat den Klang spendiert. Tom Waits – der mit der Reibeisenstimme? Genau der. Zehn Sekunden justiert man das Gehör – zehn Sekunden dauert der Einstieg in einen Minimalismus der Extraklasse. Alles stimmt. Alles passt. Alles wirkt. Die Bühne: Ein genial gefülltes Nichts (nur ein segelartiges Etwas, das wie Stahl aussieht, schwebt halbhoch von der Decke). Die Musik – so direkt, dass Entkommen nicht möglich ist. Dazu ein famoser Wechsel aus Soli und Tutti der neun Tänzer – eine Demonstration dessen, was Licht (Volker Weinhart) schaffen kann, ohne sich aufzuspielen: Our Discontent ist eine der Choreographien, die sich in den Schädel bohren und einnisten, die man mitnimmt, weil sie unauslöschliche Bilder hinterlassen. So „brutal“ der musikalische Einstieg – so beeindruckend das Verschwinden des Stückes im Nichts: Alles Bewegen strebt zum Stillstand, alles Licht ins Dunkel, alle Töne in die Stille.
Die beiden anderen Werke des Abends berichten von maximal unterschiedlichen Möglichkeiten, den Tanz zu grundieren und zu definieren. Ein cinemascopehafter Soundtrack dort, eine elektronische Reizfläche hier. Fantastisch anmutendes Handlungsballett dort, tänzerische Grenzerfahrungen hier. Der ganz große Bogen dort, die Arbeit am Rand des Tanzkraters hier. Das Dort am Ende des Abends: „Rhapsody on a theme“ (Choreographie und Bühne: Eric White; Musik: An American Abroad von Michael Torke). Das Hier – nach der Pause: „Posidonia“ (Choreographie und Kostüme: Virginia Segarra Vidal; Musik und Bühne: Stefan und Christian Odzuck). Was das Hier an Kratern aufsprengt, heilt das Dort mit einer großflächig aufgetragenen Wundsalbe aus Bewegung und Erzählstrang sowie einem orchestralem Pflaster vom Zuschnitt eines Rimsky-Korsakov oder Rachmaninov: Großes Kino für die Ohren, dem der Tanz wie ein Film gegenübertritt. Große Gesten in Klang und Bewegung. Und zuvor: Beschreibung durch Auflösung. Klangflecken – flächig zuerst und wie eine Säge ins Hirn schneidend, dann bombastisch punktuell. Eine Choreographie wie ein Echolot – Tiefen und Untiefen aushorchend.
Am Ende des Abends bleibt die Gewissheit, dass sich niemand sorgen muss – da gibt es Menschen, die Weltenbeschreibung auf die Bühne bringen, Richtungen abklopfen und Wege finden. Es gibt Wege, die weiter beschritten werden sollten. Und es gibt ein famos arbeitendes Ensemble. „Natürlich habe ich eine Vorstellung davon, wie mein Stück auszusehen hat, aber das Wichtigste ist, diese Vorstellung auch den Tänzern beizubringen. Man muss lernen, sie zu begleiten und ihnen zu derjenigen Energie zu verhelfen, die man sich ausgedacht hat.“ (Feline van Dijken)

Natürlich denkt man bei alledem immer auch an Martin Schläpfer und den Geist, den er in Düsseldorf implantiert hat. „Young Moves“ ist also auch die Beschreibung eines Unsichtbaren. Aller Anfang beginnt im Vorbild – im Sich-Anlehnen oder Sich-Auflehnen. Kunst – und somit auch Tanz – ist ein fortgesetztes Entwickeln. Eben deshalb öffnen Fenster wie „Youg Moves“ die Sichtachsen und sind also unverzichtbar.

Foto: Gert Weigelt

Zwei Gelegenheiten gibt es, sich „Young Moves“ anzuschauen: Donnerstag, 5. Juli und Samstag, 7. Juli, jeweils um 19.30 Uhr im Theater Duisburg.