Schreibkraft
Heiner Frost

50 Jahre nichts oder: Der Verlust des Schönen

Überwachungskamera 2011 Foto: Janusz Grünspek

„Vielleicht sollten einmal alle ein ganzes Jahr nichts abliefern. Vielleicht würden dann die Leute merken, wie es ist, wenn keine Kunst mehr da ist.“


Sagt: Janusz Grünspek. Grünspek ist ein kreativer Kopf. Unbequem ist er auch. Die Devise: Nichts tun, was nicht vertretbar ist. Das klingt so einfach, aber: Haltung muss man sich leisten können. Apropos leisten: „Ich könnte mir meine Arbeiten gar nicht leisten“, sagt Grüspek, aber davon später mehr. Zurück zur Haltung: „Letztlich es ist egal, ob ein Kind weiß, wann Picasso geboren wurde“, sagt Grünspek. „Was wir unseren Kindern beibringen müssen, ist Empathie. Darum geht es.“ Erweiterung: Ohne Empathie keine Kunst.
Grünspek-Sätze sind selten kantenlos. „Als Künstler machst du den Leuten Angebote.“ Janusz Grünspek: Künstler. Google-Treffer bei Eingabe seine Namens: 9.240. Apropos Angebote: Grünspek mangelt es nicht an Ideen. Er hat „Zeichnungen im Raum“ gemacht – man würde von plastischen Konstruktionen aus Schaschlickstäbchen sprechen und dabei irgendwie gleichzeitig das Thema verfehlen – jeder denkt zuerst ans Schaschlik und nicht an die Kunst.
Grünspek hat – auch einer dieser exponierten Aktionen – Supermarkt-Kunden Honig um den Mund geschmiert und er wäre nicht er, wenn das nicht wörtlich zu nehmen wäre. Eine Aktion, denkt man, medientauglich genug, um einen wie Grünspek weiter über den Rübenkrautäquator hinaus bekannt zu machen.
Grünspek hat Handlungsanweisungen für werdende Künstler geschrieben – ein geistreichzynischbitterer aber nicht verbitterter Ratgeber, der die Macken und Eigenarten des Kunstbetriebs aufs Korn nimmt. Grünspeks Arbeiten sind ausgeklügelt. Sie verengen den Denkraum durch Erweiterung. Sie spielen mit dem Paradoxen und fordern zur Stellungnahme auf. Wenn einer aus Schaschlikstäbchen eine Überwachungskamera baut, ist die Rezeption eines solchen Kunstwerks nicht meinungslos möglich. Grünspek beobachtet das vermeintlich Normale und stellt es in neue Zusammenhänge – Zusammenhänge, die ihrerseits normal erscheinen. Eben hier liegt die Herausforderung.

Beichtstuhl, 1997
Foto: Janusz Grünspek

Grünspek ist in Polen geboren und aufgewachsen. Er hat in Polen untertage als Elektriker gearbeitet. Dass er 18 Jahre in Polen gelebt hat – dass Polnisch also seine Muttersprache ist –, hört man nicht. Sein Deutsch: Absolut akzentfreiperfekt. Kunst studiert hat Grünspek in Holland. Und als was fühlt er sich? „Ich bin Europäer.“ Heimat allerdings hat – auch für Grünspek – viel mit Kommunikation zu tun, also auch mit Sprache. „Ich lebe in Deutschland, und so gesehen ist das meine Heimat.“ Aber Heimat ist für einen wie ihn auch das Menschliche – die soziale Interaktion. „Und da komme ich dann zum europäischen Gedanken. Ich würde nicht sagen, dass ich Weltbürger bin – dafür kenne ich zu wenige Länder.“
Wer sich auf den Weg zum virtuellen Grünspek macht, findet auf seiner Seite die „Urban Pictures“ von 2018 – Fotos, an denen sich das Auge festsaugt. Architektonisches ist zu sehen. Fast geleckt sieht es aus und man braucht einen Augenblick, bis klar ist: Es geht um eine Realität in Ausschnitten. Man blinzelt. Oder vielleicht doch nicht? Verbaute Wirklichkeit oder Computergeburten? Vielleicht eine rasante Mischung. Die Bilder bleiben stumm und werden doch zum Imperativ: „Denk nach“, sagen sie. Virtuelles und Reales treten gegeneinander an. Das Architektonische als Skelett. Kein Wunder bei einem, dessen Vater Architekt war.
Als Künstler machst du Angebote. Meine Arbeiten könnte ich mir nicht leisten. Die Sätze fressen sich ins Hirn und legen eine Spur – es ist die Spur in ein Künstlerleben. Grünspeks Angebote sind zahlreich oder anders gesagt: Der Mann hat eine Menge Kunst produziert, die er sich nicht leisten kann. Dann mach‘s doch billiger, denkt man. Andererseits: Besser an einem zu teuren Werk verhungern als an einem zu preiswerten. Grünspek allerdings nagt nicht am Hungertuch. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen seine Angebote annehmen.
Denjenigen, die meinen, Kunst könne doch auch verschenkt werden, sagt Grünspek auch schon mal: „Weißt du was – ich schenk‘ dir die Arbeit. Klär‘ du das bitte mit meinem Bäcker, dem Typ an der Tankstelle und dem Schuster, die Geld von mir möchten, wenn ich bei ihnen einkaufe.“
Die Gesellschaft hält sich Künstler. Die Gesellschaft interessiert sich nicht für das profane Künstlerleben. Künstler sind eine Art Schmuck – wie ein Schlange im Wohnzimmerterrarium. Kunst selbst ist für viele längst zum Spekulationsobjekt degeneriert. Das Leben an sich: Uninteressant. Dass die Mehrzahl der Künstler kein Auskommen mit dem Einkommen hat … Bevor ans Verkaufen gedacht werden kann, ist Bezahlen angesagt. Kunstmessen zum Beispiel: „Auch hier in der Gegend nimmt das ja zu“, sagt Grünspek. „Natürlich bekomme ich auch Einladungen, bei so was mitzumachen. Ich mach‘s aber nicht.“ Denn: Zuerst entstehen mal Kosten und niemand weiß doch, ob sich das wieder einspielen lässt. „Da kann ich doch besser eine Kiste Bier ins Atelier stellen und die Leute einladen, sich meine Arbeiten anzusehen.“ Wenn das eine nicht funktioniert, geht auch das andere nicht. Grünspek ist im Internet unterwegs. „Wenn mich jemand fragt, was ich in letzter Zeit mache, dann sage ich schon mal: Frag doch Herrn Google. Der weiß Bescheid.“
Das Künstlerleben ist eine Wippe. Da sind die Tage, an denen der Frust regiert und die, wo es klappt mit einem Projekt. Tage aus Blech – Tage aus Gold. Grünspek ist auch einer von denen, für die es nicht egal ist, „ob jemand nur Seife im Kopf hat“. Der gebürtige Pole hat mit seinem Land gebrochen. „Was da momentan an Politik gemacht wird, finde ich einfach nur ungeheuerlich. Für mich steht fest: Da kann ich nicht mehr hinfahren.“
Kunst – das bedeutet im Idealfall: Ins Geschäft zu kommen. „Galeristen möchten natürlich am liebsten junge Künstler, die noch am Anfang stehen, formbar sind, aber 20 Jahre Erfahrung und dazu natürlich eine eigene Handschrift haben.“
So also buchstabiert man die Kunstwollmilchsau. Naürlich braucht auch die eine Art Gehege. Nennen wir es Atelier. „Heutzutage wird es immer schwieriger, an bezahlbaren Atelierraum zu kommen. Das ist nicht nur in den Großstädten so. Das ist in Kleve zum Teil nicht anders.“ Da ist es wieder: Bevor also ans Verkaufen gedacht werden kann, ist Bezahlen angesagt. „Aber das sind natürlich Dinge, über die nur wenige nachdenken, was daran liegt, dass es sie nicht betrifft.“
Dann der Satz: „Vielleicht sollten alle Künstler sich zusammentun und ein Jahr lang nichts produzieren. Vielleicht würden die Leute dann merken, dass was fehlt.“ Und was, wenn kein Vermissen stattfindet? Was, wenn die Künstler selber nichts vermissen? „Das kann natürlich passieren“, sagt Grünspek, aber man glaubt zu ahnen, dass er sich das nicht wünscht. Niemand kann sich das wünschen.
„Einer der am meisten falsch verstandenen Sätze des vergangenen Jahrhunderts ist vielleicht der von Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler ist“, sagt Grünspek. Natürlich hat auch er angesichts moderner Kunst schon Sätze gehört wie „Das kann mein Enkel doch genau so gut“. Der Abstand zwischen Kunst und Publikum ist groß wie nie, denkt Grünspek. Andererseits: Unverständnis gegenüber der Kunst hat es immer schon gegeben.
Zurück zum Gedankenexperiment Schaffenspause. „Vielleicht würde ein Jahr gar nicht ausreichen. Vielleicht müssten es 20, 30 oder 40 Jahre sein. Irgendwann würden die Leute doch merken, dass die Dinge an Schönheit verlieren.“
Der Gedanke taucht auf, dass Grünspek den Kunstraum sehr weit fasst. „Designer zum Beispiel lassen sich ja auch von den Ideen der Künstler inspirieren. Kunst ist da ja viel freier als Design, aber das eine geht ja nicht ohne das andere.“
Ist Grünspek ein Verbissener? Aber gar nicht. Der Mann hat Humor. Aber: Er hat auch eine Haltung. Haltung gibt Grenzen vor. Wenn einer sich auf bestimmte Dinge nicht einlässt, gilt er schnell als Sonderling. Einer wie Grünspek kann damit leben.

Die Honig Tournee 2017, Foto: privat