Schreibkraft
Heiner Frost

Das Ende einer Schulzeit

Jens (Name geändert) ist 17 Jahre alt und ein netter Kerl. Manchmal laufen die Dinge aus dem Ruder. Jens ist Autist und hat eine mittelgradige geistige Behinderung. In Jens‘ Leben kommt es auf gleichbleibende Abläufe an. Sie sind das Gerüst, das ihm Halt gibt.


„Wenn die Abläufe sich ändern, ist der Tag im Eimer“, erklärt Jens‘ Vater. Und wenn der Tag im Eimer ist, können Dinge passieren, mit denen umzugehen man gelernt haben sollte.
Jens geht seit elf Jahren in dieselbe Förderschule. Eigentlich wäre er im nächsten Jahr fertig gewesen, aber es hat sich anders ergeben: „Jens wird ab Herbst in einer Werkstatt bei Haus Freudenberg arbeiten“, erklärt seine Mutter. Die Schule ist also ein Jahr vorher passé. Überhaupt – die Schule. Zuletzt wollte Jens nicht mehr hin. Er war in eine andere Klasse gekommen. „So etwas ist für einen Autisten nicht einfach“, sagt die Mutter. Es ist, als würden sie dich von jetzt auf gleich auf einen anderen Planeten beamen. Es gab Stress.
Neulich wurde Jens medikamentös neu eingestellt. Das hat nicht auf Anhieb funktioniert. Irgendwas hat bei der Dosierung nicht gepasst. „Ich habe dann in der Klinik angerufen und das mitgeteilt“, erzählt die Mutter. Jens bekam einen Termin. Aus der Klinik ist er dann abgehauen und … zur Schule gegangen. „Da gibt es einen, von dem Jens dachte, er sei mit Schuld daran, dass er in eine andere Klasse musste.“ Dem wollte er ‚ ‚auf die Fresse‘ hauen. Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Jens also ging zur Schule und saß auf dem Schulhof. Da sollte er weg. Man würde die Polizei holen, wenn er nicht ginge. Jens hat dann mit einem Schuh nach einem Lehrer geworfen. Eine Mutter am Rand der Beherrschung. Da wird das eigene Kind von der Polizei abgeholt. Jens‘ Vater sieht es anders: „Vielleicht war das einfach notwendig.“
Das Ergebnis des Vorfalls: „Die Schule hat uns dann mitgeteilt, dass Jens nicht an der Entlassungsfeier teilnehmen darf. Das ist für ihn natürlich schlimm. Wir hätten uns mit ihm auch in die letzte Reihe gesetzt und hätten ein paar Menschen mitgebracht, unter deren Kontrolle es garantiert keine Probleme gegeben hätte“, sagt die Mutter. Die Schule bot stattdessen an, Jens – quasi in einer Soloveranstaltung – sein Zeugnis zu übergeben. Vielleicht gut gemeint, aber nicht wirklich hilfreich nennen Jens‘ Eltern diesen Versuch: „Jens hat natürlich davon geträumt, mit den anderen Schülern zusammen sein Zeugnis zu bekommen. Er hat davon geträumt, anschließend mit allen anderen zusammen auf dem Abschlussfoto zu sein – fein herausgeputzt und im Anzug.“ Das mussten sie sich abschminken.
„Es hieß auch, dass andere Eltern sich beschwert hätten“, erzählt Jens` Mutter. Zusammen mit ihrem Mann hat sie einen Leserbrief geschrieben.
„Inklusion geht anders! Jeder Mensch hat das Recht darauf, dabei zu sein. In der UNO-Behindertenrechtskonvention ist das Recht auf Inklusion festgeschrieben! Leider scheint dies auf der Förderschule noch nicht angekommen zu sein. Man verwehrt einem Schüler, der seit elf Jahren zu dieser Schule geht, seine Abschlussveranstaltung. Wir geben gerne zu, dass der Umgang mit unserem Sohn sicherlich nicht einfach ist und es viele Situationen gab, die nicht gut waren. Trotzdem sollte es einer Förderschule gelingen, die Rahmenbedingungen der Abschlussveranstaltung so zu gestalten, dass eine Teilnahme möglich wäre. Ein Angebot der Hilfestellung seitens der Eltern, Betreuer und anderer Seiten war ausreichend gegeben. Das Angebot einer separaten Zeugnisübergabe ist ja vielleicht nett gemeint aber für uns nicht dasselbe! Für unseren Sohn, der Autist ist, ist es sehr wichtig, einen klaren Abschluss zu haben wie andere Schüler auch. Diese Entscheidung sorgt nicht nur bei uns Eltern für völliges Unverständnis! Das ist Ausgrenzung und hat mit Inklusion oder Integration nichts zu tun. Wenn dies nicht an einer Förderschule gelingt, wo dann?“
Für eine Lösung ist es ohnehin längst zu spät (die Abschlussfeier ist gelaufen), „aber vielleicht lässt sich ja für die Zukunft etwas bewegen“, sagt Jens‘ Vater. Sie haben Jens erzählt, die Abschlussfeier habe stattgefunden, während er noch in der Klinik war. Sie werden irgendwann mit Jens „lecker essen gehen“. Er wird sich herausputzen, den Anzug tragen und sein Zeugnis in der Hand halten. Heiner Frost