Urteile sind Behälter: Schachtel, Schublade, Sarkophag. Urteile sind Gebäude: Hütte, Kapelle, Kathedrale. Urteile sind das Ende einer Geschichte und der Beginn einer anderen. Lebenslänglich.
Man fährt nach Hause. Der Prozess: beendet. Draußen: Ein schöner Tag. Ein bisschen zu warm vielleicht. Im Radio: Max Bruchs Konzert für Klarinette, Bratsche und Orchester, langsamer Satz – Musik, die nichts vom Bösen weiß. Aber es ist ja da – es wohnt im Hirn. In einem Prozess werden Geschichten wieder und wieder erzählt:
Der junge Mann, der Geld braucht, sich ein Opfer sucht, mit einem Elektroschocker im Gepäck anreist. Sein Opfer glaubt an einen (homo)sexuellen Kontakt und wird nicht an den Tod gedacht haben, bis der Täter erstmals jene Gewalt einsetzt, die so unglaublich wirkt. Ein Opfer, das sich zunächst wehren kann, sogar die Flucht aus dem Haus schafft, zurückgeschleift und getreten wird, von einem Täter, der es, als er sein Opfer für tot hält, eine Kellertreppe hinunter wirft und dann merkt, wie zäh ein Leben ist. Auch Messer können es nicht beenden. Klingen brechen. Schließlich wird ein Feuerlöscher zur finalen Waffe – zertrümmert den Schädel des Opfers und was vom Leben noch übrig war. Ein Täter, der – er hat es dem psychiatrischen Gutachter gesagt – wissen wollte, wie es ist, wenn man jemanden tötet. [„Ich war derbe interessiert zu wissen, wie es ist, einen umzubringen.“]
Ein Täter, der, nachdem man ihn dingfest gemacht hat, gesteht und bei einer auf Video festgehaltenen Rekonstruktion der Tat mitwirkt. Ein Täter, der dem Adoptivsohn seines Opfers einen Brief schreibt. Ein Täter, der weiß, dass es Verzeihen nicht geben kann und wird … [„Ich werde Sie keinesfalls um Vergebung oder Verständnis bitten, weil ich das nicht verdient habe.“]
Ein Täter wartet auf sein Urteil: 90 Minuten wird es dauern vom Ende der Plädoyers bis zu jener spruchgewordenen Endgültigkeit. Ein Staatsanwalt, Marco Held, der umsichtig plädiert und zeigt, das Justiz kein Apparat sein muss, sondern ein in alle Richtung blickendes Wesen. Zwei Mordmerkmale sieht Held: Habgier und Mordlust. Er hat einen Angeklagten gesehen, der umfangreich und frühzeitig gestanden hat, der Reue gezeigt hat und ein Mensch ist, der schon ab dem 13. Lebensjahr „durchgereicht“ wurde. Held sieht einen Angeklagten, dem nicht zugute gehalten werden kann, die Tat im Zustand der Steuerungsunfähigkeit oder -minderung begangen zu haben. Die rechtlichen Folgen aus dieser Tat sind also nicht verhandelbar: Es muss um lebenslänglich gehen. Held beantwortet die Frage, ob auch die Schwere der Schuld festgestellt werden kann, mit einem Nein.
Lebenslänglich bedeutet, dass frühestens nach Ablauf von 15 Jahren Haft eine Entlassung auf Bewährung geprüft werden kann. Bei der besonderen Schwere der Schuld kann das erst nach frühestens 20 Jahren passieren. Strafgesetzbuch, Paragraph 57a: Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe. „Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind, 2. nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet.
Ein Plädoyer wie das von Held lässt keinen Spielraum für umfangreiche Widerrede der Verteidigung. Zustimmung ist das Mittel der Stunde. Zustimmung zu allem, was da gesagt wurde, denn es wirkt stimmig. Wenn sich zwei Mordmerkmale einfinden, kann es nicht um weniger als Lebenslänglich gehen – die geistige Gesundheit des Täter vorausgesetzt. Auch eines der Merkmale würde ausreichen.
90 Minuten nach den Plädoyers folgt die Antwort des Volkes durch die Kammer: Lebenslänglich. Was zu erwarten war. Die Kammer allerdings – nicht weniger umsichtig als vorher der Staatsanwalt – kommt zu dem Ergebnis: Es liegt nur ein Mordmerkmal vor: Habgier. Das einer Interesse hat, jemanden zu töten, macht noch keine Mordlust – schon gar nicht dann, wenn auch Habgier im Spiel ist und – so sieht es die Kammer – die Motivlage dominiert. „Mordlust liegt dann vor, wenn das Töten der einzige Zweck der Tat ist“, sagt der Vorsitzende Jürgen Ruby. Töten um des Tötens willen – das war hier nicht der Fall.
[Die Mordlust ist eines der Tatbestandsmerkmale des Mordes. Sie ist gegeben, wenn jemand aus Freude am Töten beziehungsweise an der Vernichtung eines Menschenlebens einen Mord begeht.]
„Geplant war sicherlich ein Heimtückemord“, so Ruby. Aber das Opfer war zunächst in der Lage sich zu wehren – konnte sogar fliehen, war aber letztlich körperlich unterlegen. Eine besondere Schwere der Schuld kann nicht festgestellt werden. Natürlich – die Kammer betont das immer wieder – war all das schrecklich und grausam. „Es ist ganz Schreckliches geschehen, aber der Angeklagte hat aus seiner Sicht ‚nur‘ das getan, was für eine Tötung aus seiner Sicht erforderlich war. Er hat nichts getan, um das Opfer besonders zu quälen.“
Im Radio singt die Klarinette ihr Lied. Man fährt wie betäubt. Alles wurde geklärt und doch ist irgendwie nichts klar. Klärung und Erklärung: gegenüber – verbindungslos. Die Frage nach dem, was man Böse nennt, nistet sich ein. Vielleicht doch nicht vom Bösen sprechen. Vielleicht, wie es der Vorsitzende gesagt hat, vom Schrecklichen. Man sucht nach einem Ort, einer Adresse. Der Gutachter hat sie nicht gefunden. Zu wenig Informationen. Sprachlosigkeit beginnt beim Nichtnachvollziehenkönnen des Schrecklichen. So bleibt man zurück nach diesem Prozess. Irgendwie verloren. Irgendwie ohne Halt. Irgendwie ohne Antwort. Ein Urteil ist keine Antwort – es ist eine Reaktion.
Der Abend? Grillen vielleicht. Den Tag genießen. Der Täter ist letzt zurück in seiner Zelle. Das Volks hat gesprochen. Es hat zu einer Strafe gefunden: Lebenslänglich.
Natürlich steht im Gesetz etwas von der Möglichkeit, nach 15 Jahren zu prüfen, ob der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Niemand weiß, was dann sein wird. Das Urteil: keine Hütte – eine Kathedrale. Keine Schublade – ein Sarkophag. Die Beruhigung entspringt aus dem Gefühl, dass da ein Gericht bestmöglich gearbeitet hat. Das rettet den Tag.