Schreibkraft
Heiner Frost

Das Rad auf der Straße

Man hatte schon zusammengepackt. Kladde und Stifte waren verstaut. Fast stand man zum Gehen bereit, da wurde der Tag ein anderer …


Wer erleben will, was Taten aus Opfern machen, kann vor Gericht Material sammeln. Nicht selten finden sich Menschen ein, die nicht zurück gelangen in das Leben, das sie führten, bevor sie zum Opfer wurden. Zum Beispiel diese beiden. Sie sind ein Paar, beide Anfang 20.

Sie sind am 2. Januar mit dem Auto unterwegs. Am Steuer: die Frau. In Holland haben sie eingekauft und wollen zurück nach hause – nach Wesel. In Haldern sehen sie – es ist dunkel draußen und regnet in Strömen – ein Rad auf der Straße liegen. Die Frau legt eine Vollbremsung hin. Jemand ist gestürzt, denkt sie und liegt vielleicht noch auf der Straße. Als das Auto steht, passiert etwas, womit die beiden nicht gerechnet haben. An der Beifahrerseite tut es einen fürchterlichen Schlag. „Ich wusste erst einmal gar nicht, was los war. Der Schlag traf auf die B-Säule“, erinnert sich der junge Mann im Zeugenstand. Mit dem zweiten Schlag zerspringt das Fenster der Beifahrertür. „Das war ein Beil, mit dem da geschlagen wurde“, sagt der junge Mannund man wähnt sich in einem schlechten Film: Die Dunkelheit. Das Beil. Die Angst. Alles kommt irgendwie aus dem Nichts. Der dritte Schlag trifft den jungen Mann am Oberarm und hinterlässt, das zeigt sich später, eine Schnittwunde. „Ich konnte jetzt einen Mann rechts von mir sehen. Den habe ich angebrüllt. Der ist dann weggelaufen.“ Vorher allerdings hat auch der Angreifer gebrüllt. „Raus. Sofort.“ Irgendsowas muss es gewesen sein. Die junge Frau – sie war die Erste im Zeugenstand – schafft es nicht ohne Tränen durch ihre Erzählung. Ja, sie war in psychologischer Behandlung. Ja, ihr Leben ist jetzt anders als vorher. „Ich gehe abends nicht mehr allein raus.“ Sie fährt noch immer dasselbe Auto und das fühlt sich nicht immer gut an. Sie kämpft – auch Monate nach der Tat – um ihr Leben. Dinge sind zebrochen – irgendwo tief innen. Nein, da sitzt keine, die dick aufträgt. Sie erzählt sich tapfermutig durchs Geschehene. Nein, sie braucht keine Pause.
„Wir haben beide einen Augenblick gebraucht, bis wir verstanden haben, dass das ein Überfall ist“, sagt der junge Mann. Zuerst haben sie doch gedacht, da sei ein Unfall geschehen. Andererseits: „Das Fahrrad lag fast schon zu perfekt auf der Straße“, sagt die junge Frau an einer Stelle der Befragung und man denkt, dass sich die Erkenntnis aus dem, was passiert ist, mit dem vermischt, was sie im Moment der Vollbremsung gedacht oder einfach gehandelt haben mag. Wir brauchen Geschichten, um die Dinge mit Sinn aufzuladen.

Der Angreifer habe, sagt der junge Mann aus dem Auto, mit arabischem Akzent gebrüllt. „Als ich dann ausgestiegen bin, ist der abgehauen.“ Für die Verteidigung ist es wichtig nachzufragen. „Hat mein Mandant versucht, in das Auto zu gelangen?“ „Nein.“ „Hat er Sie, nachdem Sie ausgestiegen sind, angegriffen?“ „Nein.“ „Hat er – bitte verstehen Sie das nicht als Respektlosigkeit – nur die Beifahrerseite angegriffen?“ „Ja.“ Ihm seien, sagte der junge Mann, die Sicherungen durchgegangen. „Der lief schon weg, als ich ihn angeschrien habe.“
Die Staatsanwaltschaft sieht es so: „Strafverhandlung gegen einen 30-jährigen Marokkaner aus Rees wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung und wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft zwang der Angeklagte einen am Bahnhof in Rees-Haldern wartenden Mann unter Bedrohung mit einer Axt zur Herausgabe von Bargeld. Nur wenige Minuten später soll er in einem nahegelegenen Waldstück gezielt ein Fahrrad auf der unbeleuchteten Fahrbahn platziert haben. Ein herannahender Fahrzeugführer soll einen folgenschweren Verkehrsunfall nur durch ein sofort eingeleitetes Bremsmanöver verhindert haben können. Diese Situation soll der Angeklagte entsprechend eines zuvor gefassten Tatplans genutzt haben, um die beiden Fahrzeuginsassen anzugreifen. Hierzu soll er die Scheibe auf der Beifahrerseite mit einer Axt eingeschlagen und die beiden Insassen zum Verlassen des Fahrzeugs aufgefordert haben, um sich so in den Besitz des Fahrzeugs zu bringen. Erst nachdem die beiden Insassen das Fahrzeug verlassen und den Angeklagten angeschrien hatten, soll dieser fluchtartig mit der Axt den Tatort in unbekannte Richtung verlassen haben.“

Der Angeklagte hat über seine Verteidigerin verlauten lassen, dass er sich zunächst weder zur Person noch zur Sache äußern will. Es ist 12 Uhr, als der letzte Zeuge des Tages, ein Polizist, ausgesagt hat. Eigentlich ist das das Ende. Eigentlich soll am 25. Juli weiter verhandelt werden. Eigentlich macht man sich Gedanken übers Mittagessen, als die Verteidigerin sagt, ihr Mandant werde nun zur Person aussagen. Was soll schon kommen, denkt man und kramt Stift und Kladde hervor.
Vier Minuten später schluchzt der Angeklagte, als er von den Trümmern seines Lebens berichtet. Zwölf Jahre Schule. Abitur. Sechs Semester Studium. Dann reicht das Geld nicht mehr. Er schlägt sich als Taxifahrer durch. Er lebt auf der Straße. Er ist Angehöriger einer Minderheit. „Ich bin Berber.“ Er nimmt in Marokko an Demonstrationen teil. Er demonstriert für die Gleichberechtigung einer Minderheit. Sie verhaften ihn. Er wolle die Monarchie stürzen – so lautet der Vorwurf. Drei Tage wird er verhört und gequält. Sie drücken Zigaretten auf seinem Körper auf.

„Waren das Polizisten?“, fragte der Vorsitzende. „Das sind keine Polizisten, das ist wie die Mafia“, sagt der Angeklagte. Er will weg. Stellt einen Visumsantrag für Spanien. Er hat – fünf Jahre ist das her – Mutter und Vater im Abstand von sechs Monaten an den Krebs verloren. „Wissen Sie, wie das ist, wenn sie einfach ohnmächtig zusehen müssen?“, fragt er den Richter. Er ist zwei Wochen in Spanien. Danach in Holland. Dann in Deutschland. „Ich wollte gar nicht hier hin“, sagt er und meint diese Republik. „Ich wollte nach Dänemark.“ Vorher noch einen Bekannten in Deutschland besuchen. „Da wollte ich dann weg, weil die was mit Drogen gemacht haben.“ Man stiehlt seine Papiere. Wieder einmal landet er – in Gladbeck ist das – auf einem Polizeirevier. Man schlägt ihn zusammen. Er muss ins Krankenhaus. [Fragt jetzt bitte mal jemand nach?! Niemand fragt. Man wundert sich. Wenn, was der Angeklagte sagt, stimmt, dann geht es doch um Körperverletzung. Das muss doch jemanden interessieren!]

Längst ist man sprachlos und hat die dunkle Seite des Mondes betreten. Längst denkt man aber auch: Gerade einer wie dieser Täter muss doch wissen, wie sich Gewalt anfühlt, Willkür, Ausgeliefertsein. In Deutschland hat er eine Frau kennengelernt. Er hat einen Sohn. Elf ist der. „Wie können Sie der Vater sein?“, fragt der Vorsitzende. „Der Junge ist für mich wie ein Sohn“, sagt der Marokkaner. „Ich liebe ihn.“ Natürlich entschuldigt nichts das, was der Angeklagte seinen Opfern angetan hat. Man sucht trotzdem nach Erklärungen. Nichts passt mehr zusammen. Man möchte wissen, was da passiert ist. Warum handelt einer so? Wollte er das Auto? Wie war der Plan?

Am 25. Juli um 10 Uhr wird weiter verhandelt. Es wird ein weiterer Zeuge gehört. Es wird ein psychiatrisches Gutachten geben. „Hallo, Herr Dr. Kreutz“, sagt der Angeklagte, als der Gutachter sich zum Verlassen des Saals anschickt.