Schreibkraft
Heiner Frost

Vom Werden des Schönen

Man denkt selten nach über das Alltägliche. Es verschwindet in der Brühe der Gewohnheiten. Das Aussehen der Dinge muss einen Ursprung haben. Ein Lichtschalter zum Beispiel, ein Tisch, ein Stuhl … Wer machte das Tetrapack zum Tetrapack? In den Alltäglichkeiten des Aussehens der Dinge ist die Frage nach dem Ursprung oft längst untergetaucht.

Problemlöser

Menschen, die den Dingen Form verleihen, nennt man Designer – allerdings ist der Begriff längst selber zum Teil der Täglichkeitssuppe geworden. Bram Soepenberg hat gerade Abitur gemacht. Berufswunsch: Designer. Demnächst wird er sein Studium in Delft beginnen. „Viele Leute, denen ich davon erzähle, sagen dann: ‚Du bist also Künstler.‘ Das sehe ich nicht so“, sagt Bram. „Design hat etwas mit dem Lösen von Problemen zu tun“, sagt er und ich sage: „Auch eine Kompositionen oder ein Bilder sind die Lösung eines Problems.“ „Stimm“, sagt Bram. Dabei geht es doch eigentlich um den Stuhl: Bram hat ihn sich ausgedacht.

Wenn die Idee näher kommt

„Anfangs dachte ich: Einen Stuhl zu entwerfen ist nicht so schwer.“ Aus der Entfernung vielleicht, aber wenn die Idee näher kommt, müssen Fragen beantwortet werden. Design ist die Vermählung von Aussehen und Funktion. Vielleicht sollte man die Reihenfolge umkehren. Was nützt ein schöner Stuhl, auf dem das Sitzen zur Qual wird. Und was nützt ein bequemer Stuhl, der hässlich ist? Nein – die letzte Frage streicht man besser. In zeitalter der Massenware ist manchen der Sinn für das Schöne abhanden gekommen.

Keine Schrauben, keine Nägel

Zurück zu Bram. Es begann mit einer Idee. Das Material: Eiche. Die Fertigung: Keine Schrauben, keine Nägel. Erste Formen entstanden – wurden gezeichnet, verändert, angepasst. Der Name für Brams Sitzmöbel: „Bent“. „Ich hätte nie gedacht, was es alles zu beachten gibt“, sagt Bram.

Jakob

Auftritt des Paten: Jakob Hage ist Tischler. Er stammt aus Rotterdam, hat sich auf Treppen spezialisiert und wohnt in Niel. Jakob hat die 70 überschritten, wirkt aber wie ein Anfangssechziger. Jakob, das ist geballte Erfahrung. Jakob ist einer von denen, die lieben, was sie tun. „Für mich stand schnell fest, dass ich Bram helfen würde“, erinnert sich Jakob. Bram – der junge Mann aus der Nachbarschaft. Bram, der Mann mit der Vorstellung – Jakob, der Mann mit der Erfahrung; mit dem Wissen, das nötig ist, um eine Vorstellung in die Wirklichkeit zu überführen.

Kleinigkeiten

Jetzt stehen die beiden in Jakobs Werkstatt in Niel und erzählen vom Werden eines Stuhls. Mehr als 100 Stunden Arbeit stecken in „Bent“. Warum so viel? Brams Entwurf: Fließendes Holz – eine Welle, auf der man sitzt. Sieht man den Stuhl zum ersten Mal, fallen all die Kleinigkeiten nicht auf, die ihn zu einem Meisterstück machen. Bram und Jakob erzählen davon, wie man Holz biegt; wie man den richtigen Winkel findet, in dem das Biegen möglich ist; wie man die Form baut, in der das Holz gebogen wird.

Feinmechanik in Eiche

Sie sprechen von Lamellen und zeigen dünne Holzstreifen. In fünf Schichten werden sie verleimt – jede Lamelle ist gerade einmal zwei Millimeter dick. „Das kann man nicht sägen“, erklärt Jakob, „das muss man schleifen“. Feinmechanik in Eiche. Endgewicht des Stuhls: Acht Kilogramm. Materialgewicht vor Arbeitsbeginn: Circa 50 Kilogramm. Wo ist das Holz geblieben? Jakob zeigt auf eine Absauganlage in der Werkstatt. An deren Ende: ein großer Sack. „Sägemehl“, sagt Jakob und es keimt einer erste Vorstellung von all der Mühe auf, die in einem einzelnen Stuhl stecken kann. Die Materialkosten? 200 Euro vielleicht. Das Ergebnis: Irgendwie unbezahlbar. Bram erklärt: „Das hier ist ein Muster. Das zeigt man dann den Leuten. Gesucht wird jemand, der so etwas am Ende in Serie bauen kann.“ Und will.

Das Großeganze

Längst hat Bram Kontakt zu Firmen aufgenommen und von manchen sogar Antwort bekommen. Wenn er davon erzählt, klingt Stolz in der Stimme mit. Natürlich – man könnte den Stuhl aus Kunststoff gießen – vielleicht sogar mit einem 3-D-Drucker herstellen, aber für Bram geht es nicht nur um die Form – es geht um das Material. Um das Großeganze. Um die Idee. „Bent“ – ein Gesamtkunstwerk. Je länger man hinschaut, um so mehr Details werden erkennbar. Jedes einzelne von ihnen: genauestens durchdacht.

16 Teile

Dass der Stuhl aus 16 Teilen besteht, mit einem schnellen Blick nicht zu sehen. Irgendwie sieht „Bent“ aus, als sei er so gewachsen wie er jetzt dasteht. Darin liegt die Stärke des Objekts. Aber auch die Tücke. „Ohne Jakob wäre all das nicht möglich gewesen“, sagt Bram und Jakob sagt: „Es ging auch darum, zu zeigen, was geht.“ Der Stuhl: kein Showdown, sondern die perfekte Verbindung von Form und Funktion. Bram zeigt, wie der Stuhl wurde, was er ist. Das Ergebnis am Ende eines Denkprozesses. Die Antwort am Ende einer Frage.

Setz dich.

Apropos: „Was nützt ein Stuhl, der toll aussieht, aber unbequem ist?“, sagt Bram und bittet: „Setz dich.“ Jetzt also: Platz nehmen. Das Gefühl: Es ist bequem. Brams Stuhl: Die Lösung eines Problems auf zwei Ebenen: Funktionlität und Schönheit sind eine Verbindung eingegangen. Natürlich ist Schönheit eines dieses Wörter, die – je nach Geschmack – anders „buchstabiert“ werden. Aber Brams Stuhl ist anzusehen, dass er nicht von einem Wolkenkuckucksheimer ausgedacht wurde. Und: Er wurde ganz bestimmt nicht von eine Wolkenkuckucksheimer gebaut. Jakob hat die Erfahrung, das Knowhow und: den Spaß an der Sache. Da also stehen die beiden in Jakobs Werkstatt – vor ihnen: der Stuhl. Man muss vom Fach sein, um die Vorarbeiten, die Gedankenspiele, die Praxis des Baus zu erklären. Besser, man versucht es gar nicht erst. Es gibt Dinge, die nicht im Alltag versickern. Brams Stuhl gehört dazu. Und die Begeisterung des Duos ebenso.