Bevor Herr O. „dann noch einen schönen Tag“ wünscht, hat er sich erst einmal erkundigt, wo es das Zeugengeld gibt. Danach erst tritt er ab. Er dürfte eigentlich bleiben, denn er ist Zeuge, Opfer und Adhäsionskläger: er möchte Schmerzensgeld.
Man muss die Adhäsion erklären: Im Adhäsionsverfahren (von lateinisch adhaesio das Anhaften) können im deutschen Prozessrecht zivilrechtliche Ansprüche, die aus einer Straftat erwachsen, statt in einem eigenen zivilgerichtlichen Verfahren unmittelbar im Strafprozess geltend gemacht werden, sofern der Streitgegenstand noch nicht anderweitig gerichtlich anhängig gemacht worden ist (Wikipedia).
Rippenpreise
„An wie viel hatten Sie denn gedacht?“, fragt die Vorsitzende. „Weiß nicht.“ „Das kann ich nicht aufschreiben“, sagt die Vorsitzende. „Was meinen Sie?“ „Ich darf hier keine Rechtsberatung erteilen“, sagt die Vorsitzende. „Na ja – eine gebrochene Rippe: vielleicht irgendwas zwischen Fünfhundert und Tausend.“ „Sie stellen das also ins Ermessen des Gerichts?“, fragt die Vorsitzende. „Ja.“
Es ist Zeit für die Rückblende. Wie gesagt: Herr O. ist in mehreren Rollen angetreten. Zunächst einmal ist er derjenige, der von den beiden Angeklagten Y. und Z. zusammengeschlagengetreten worden ist. Schläge ins Gesicht. Tritte, als er am Boden lag. Rippenfraktur. Herr O. klagt aber auch auf Schmerzensgeld. Da er Adhäsionskläger ist, könnte er von Anfang an dem Prozess beiwohnen. Das wäre nicht möglich, wenn O. nur als Zeuge in Erscheinung träte. Das erklärt ihm die Vorsitzende. O. sagt: „Ich gehe dann raus, bis ich dran bin.“
Die beiden Angeklagten erklären, dass sie sich zur Person, nicht aber zur Sache äußern möchten. Herr Y. ist mit 14 Vorstrafen „angereist“, Herr Z. mit sieben. Man wirft den beiden eine gemeinschaftlich begangene Körperverletzung vor. Nach anfänglich hochfrequenter Taktung der Urteile und Strafen sind die beiden Herren seit dem Jahr 2013 in ein ruhigeres Fahrwasser gewechselt. Vor Gericht hat man nichts mehr von ihnen gehört, bis 2019 die Sache mit Herrn O. passierte.
Herr O. sagt aus
Bis zu diesem Punkt konnte man folgen. Dann wird Herr O. aufgerufen.
Herr O. ist 49 und gibt als Beruf LKW-Fahrer an. Am Tattag, dem 21. September 2019, hat O. in einer Halle an seinem Auto geschraubt. Dann sind Y. und Z. aufgetaucht. „Die waren auf Krawall gebürstet.“ Y. schlägt O. ins Gesicht, O. schlägt zurück, Z. schlägt ebenfalls zu. O. und Z. gehen zu Boden. Y. tritt nach: die Rippenfraktur. Okay. So weit – so gut. Nun ist nicht davon auszugehen, dass zwei Männer grundlos einen dritten besuchen und eine Schlägerei anzetteln. Was steckt hinter der Sache? O. erklärt es so: Er kannte Z. und hat ihn angerufen: „Fahr mich von Rindern nach Uedem und hilf mir auf einer Baustelle. Kriegst 100 Euro.“ Gesagt, getan, gebaut: Kernbohrung. Was O. für den Auftrag bekommen hat, möchte er lieber nicht sagen. Er und Z. machen die Arbeit, räumen die Baustelle, fahren zurück nach Rindern. Das Geld wird Z. bekommen, sobald O. seines bekommen hat. „Ciao.“ Dann stellt O. fest: Eine Wasserwaage ist abhanden gekommen. „Das war eine richtig Teure. Die hat bestimmt 150 Euro gekostet.“ O. ist sauer. Er beschließt, dass Z. jetzt statt der vereinbarten 100 Euro nur 50 bekommen wird.
Vertrag erfüllt
Als Z. den O. später besucht – Z. hat einen Freund dabei und es gibt ein Gerangel – beschließt O. , dass er Z. doch 100 Euro auszahlt. „Dann wollte ich mit dem nichts mehr zu tun haben.“ Später wird O. vor einem Supermarkt von Z. angepöbelt. Spätestens jetzt fragt man sich, warum der Z. den O. anmacht, wenn der doch den „Vertrag“ erfüllt und die vereinbarten 100 Euro gezahlt hat.
Die Vorsitzende hat zuvor einige Mühe aufgewendet, die Ereignisse in eine nachvollziehbare Reihenfolge zu fragen. Zuerst hat O. alles erklärt, als habe es sich an einem Tag abgespielt. Am Schluss liegen zwischen Baustelle und Rippenfraktur „bestimmt ein Dreivierteljahr“. Die Verteidiger stimmen ebenfalls in den Fragenkanon mit ein. Man hat den Eindruck, dass O.s Puls stetig ansteigt. Er ist doch das Opfer. Und die fragen ihn, als würden sie ihm nicht wirklich alles glauben. Wenn es mal hakt, sagt O., dass er sich halt nicht so gewählt ausdrücken könne. Als die Verteidigung ihn weiter aufs Nagelbrett schickt, ist er fast schon beleidigt.
Asynchronitäten
Es stellen sich Asynchronitäten zwischen dem Polizeiprotokoll und O.s jetziger Aussage ein. Das ist ja nicht seine Schuld, wenn die das nicht richtig aufgeschrieben haben. Man möchte jetzt nicht mit geschlossenen Augen durch den Raum laufen: überall Fallstricke. Natürlich: O. hat etwas abbekommen. Ob es denn nur um die Sache mit dem Wasserwaagengeld gehe, möchte Z.s Verteidigung wissen. O. möchte dazu lieber nichts sagen. Aha. Niemand muss sich selbst belasten. Dass O. vorher gesagt hat, es sei nur um diese 100 Euro gegangen ist – Klammer auf: die er doch komplett gezahlt hat, Klammer zu – widerlegt O. damit irgendwie. Dass er Y. schon lange kennt – „wir haben vor Jahren mal zusammen gearbeitet“ –, ist insofern nicht wirklich richtig, als der, mit dem O. arbeitete, Y.s Bruder gewesen zu sein scheint.
Y. und Z. sind es gewesen
Fest steht aber: Der Y. und der Z. sind es gewesen. Die haben ihn verprügelt. Schraffuren im Gesicht, eine Rippe fraktioniert – O. hat ein Attest dabei. Sechs Wochen hat er nicht arbeiten können. „Haben Sie eigentlich schon mal etwas mit dem Gesetz zu tun gehabt?“, fragt die Verteidigung. Es hat da mal was gegeben. Betrug, Körperverletzung. Irgendwann vorher hat O. bei der Beschreibung des Tattages gesagt: „Hätte ich was in der Hand gehabt, wäre die Sache anders ausgegangen.“ „Was meinen Sie damit?“, hakt die Verteidigung nach. O. möchte dazu nichts weiter sagen.
Spekulationen
Längst hat man den Faden verloren. Fest zu stehen scheint: Um die Unstimmigkeiten zu klären, wird es einen weiteren Termin geben müssen. Man wird die Beamten hören müssen, die damals mit dem Vorfall zu tun hatten. Wer hatte die Polizei alarmiert? Das scheint im Protokoll nicht vermerkt. Die Verteidigung spekuliert: „Das Ganze ist fast zwei Jahre her. Wer erinnert sich da noch? Was werden die Beamten aussagen? Die werden doch das Protokoll lesen und dann zitieren, was da steht. Und Sie werden sagen: ‚Wenn das so niedergelegt ist, dann hat der O. es auch so gesagt.‘ Aber: Wir werden die beiden hören müssen.“ Einstellung des Verfahrens? Der „Jungstaatsanwalt“ müsste da mal ein Telefonat führen. Er kommt zurück: Einstellung? Auf gar keinen Fall. (Das ist heute bereits der dritte Fall, bei dem sie ihn telefonieren geschickt haben.)
Bis nächste Woche
Das Ende vom Lied: Ein weiterer Termin muss her. Es bleiben drei Wochen Zeit. „Wie wär‘s mit nächsten Donnerstag, 8 Uhr?“, fragt die Vorsitzende. Passt. Dann bis nächste Woche. Wird man eigentlich Herrn O. wieder treffen?